Ein jeder hinkt für sich allein“

Tod und Trauma prägen Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“

SeethalerDer Tod ge­hört zum Le­ben wie der Schim­mel zum Brot“, die­ser Satz fällt im neu­en Ro­man von Ro­bert See­tha­ler, der laut Ti­tel „Ein gan­zes Le­ben“ schil­dern will. Ist dies über­haupt mög­lich auf 154 Sei­ten? Zu­mal die Er­eig­nis­se der von See­tha­ler ge­wähl­ten Hand­lungs­zeit selbst das ab­ge­le­ge­ne Hoch­ge­birgs­tal erreichen.

Dort ver­bringt An­dre­as Eg­ger fast sein gan­zes Le­ben. 1902 kam der Vier­jäh­ri­ge nach dem Tod sei­ner Mut­ter, der Va­ter war längst ab­han­den ge­kom­men, aus der Stadt in die Ob­hut sei­nes On­kels. Der wohl­ha­ben­de Berg­bau­er nahm ihn als her­an­wach­sen­de bil­li­ge Ar­beits­kraft auf, ver­sorg­te ihn mehr schlecht als recht und ließ an dem Kind sei­ne sa­dis­ti­schen Nei­gun­gen aus. Die Miss­hand­lun­gen, an die ihn sein hin­ken­des Bein im­mer er­in­nern wird, er­trägt Eg­ger so lan­ge bis er stark ge­nug ist sich zur Wehr zu setz­ten. Er ver­lässt den Hof, ge­ra­de 16 Jah­re alt, bleibt aber im Dorf und ver­dingt sich als Hilfs­knecht. Spä­ter fin­det er sein Aus­kom­men beim Berg­bahn­bau. Als Orts­kun­di­ger er­schließt er den un­zu­gäng­li­chen Fels. Mit 29 Jah­ren kann er sich ein klei­nes Grund­stück am obe­ren Orts­rand leis­ten, wo er ei­ne Hüt­te baut.

Es wun­dert, daß Eg­ger in die­sem Dorf bleibt, das ihn we­der will­kom­men heißt noch auf­nimmt. Sein kar­ges Da­sein hellt sich auf als er die Hilfs­kell­ne­rin Ma­rie hei­ra­tet. Doch ei­ne La­wi­ne nimmt Ein je­der hinkt für sich al­lein““ weiterlesen

Suche nach Frieden

Bernhard Schlinks Roman Die Frau auf der Treppe über Dinge, die nicht zu Ende gebracht wurden

Ich nei­de der Ju­gend nicht, dass sie das Le­ben noch vor sich hat; ich will es nicht noch mal vor mir ha­ben. Aber ich nei­de ihr, dass die Ver­gan­gen­heit, die hin­ter ihr liegt, kurz ist. Wenn wir jung sind, kön­nen wir un­se­re Ver­gan­gen­heit über­schau­en. Wir kön­nen ihr ei­nen Sinn ge­ben, auch wenn es im­mer wie­der ein an­de­rer ist. Wenn ich jetzt auf die Ver­gan­gen­heit zu­rück­schaue, weiß ich nicht, was Last ist und was Ge­schenk war, ob der Er­folg den Preis wert war und was sich in mei­nen Be­geg­nun­gen mit Frau­en er­füllt und was sich mir ver­sagt hat.“

Der Mo­tor die­ser Ge­schich­te ist ein Ge­mäl­de, der Akt ei­ner Frau, die „nackt, blass, blond vor grau­grü­nem Hin­ter­grund“ ei­ne Trep­pe her­ab schrei­tet. Ein mo­der­nes, En­de der Sech­zi­ger Jah­re ge­schaf­fe­nes Werk will ein Ge­gen­ent­wurf zu Mar­cel Duch­amps abs­trak­tem „Akt, ei­ne Trep­pe hin­ab­stei­gend“ sein. Ein Be­leg, daß auch in der mo­der­nen Kunst Ge­gen­ständ­lich­keit dar­stell­bar ist. Das Mo­tiv und „Su­che nach Frie­den“ weiterlesen

Glücks-Reigen

In „Glücklich die Glücklichen“ schreibt Yasmina Reza von der Veranlagung zum Glück

Reza_24482_MR.inddGlück­lich die Ge­lieb­ten und die Lie­ben­den und die auf die Lie­be ver­zich­ten kön­nen. Glück­lich die Glück­li­chen.“ (Jor­ge Lu­is Borges)

Was ist Glück? Was macht ei­nen glück­li­chen Men­schen aus? Was un­ter­schei­det ihn von anderen?

Ant­wor­ten gibt die be­kann­te Dra­ma­ti­ke­rin, Yas­mi­na Re­za, die mit ih­rem Thea­ter­stück „KUNST“ und dem von Pol­an­ski ver­film­ten „Der Gott des Ge­met­zels“ auch ei­nem brei­ten Pu­bli­kum be­kannt wur­de, in ih­rem kürz­lich er­schie­ne­nen Ro­man „Glück­lich die Glück­li­chen“. Ihm stellt sie ei­nen Satz von Bor­ges vor­an, der die Viel­ge­stal­tig­keit des Phä­no­mens Glück andeutet.

Mit Witz und mit viel Me­lan­cho­lie prä­sen­tiert sie in star­ken Dia­lo­gen ihr Per­so­nal und des­sen Hang zur Es­ka­la­ti­on. Be­zie­hun­gen ste­hen im Vor­der­grund, die zwi­schen Paa­ren, zwi­schen El­tern und Kin­dern, Freun­den oder Be­kann­ten. Doch ein Ro­man ist die­se „Glücks-Rei­gen“ weiterlesen

Sushi Murakami – Der Teufelspakt

Das 5. Kapitel

Hai­da er­zählt ei­ne Gru­sel­ge­schich­te sei­nes Va­ters Hai­da. Die­ser reis­te oft wäh­rend sei­ner Stu­den­ten­zeit und fi­nan­zier­te sich dies durch di­ver­se Jobs. Ei­ner führ­te ihn für ei­ni­ge Zeit in ei­nen Berg­gast­hof. Der Hof lag der­art fern von al­lem, daß sich fra­gen lässt, wie­so ei­ne sol­che Hüt­te über­haupt ei­ne Aus­hil­fe be­nö­tigt. Wie dem auch sei, ei­nes Ta­ges tauch­te tat­säch­lich ein Gast auf. Er las und tat sonst nicht viel, äu­ßer­te aber bald den Wunsch Kla­vier zu spie­len. Da traf es sich gut, daß auf der an­de­ren Sei­te des „Su­shi Mu­ra­ka­mi – Der Teu­fels­pakt“ weiterlesen

Kafkas letzte Liebe

Liebe und Leid in Michael Kumpfmüllers Kafka-Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“

19360_Kumpfmueller_Herrlichkeit.inddSie sit­zen am Strand und er­zäh­len sich Ge­schich­ten vom War­ten. Auch der Dok­tor hat sein hal­bes Le­ben ge­war­tet, zu­min­dest ist das im Nach­hin­ein sein Ge­fühl, man war­tet und glaubt nicht dar­an, dass noch je­mand kommt, und auf ein­mal ist ge­nau das geschehen.“

Ei­nes vor­weg, man muss kein Kaf­ka-Ken­ner sein um die­sen Ro­man zu le­sen, auch wenn Mi­cha­el Kumpf­mül­ler die­sen Dich­ter zur Haupt­fi­gur macht. Der Na­me Kaf­ka taucht in die­sem Buch gar nicht erst auf, es ist im­mer der Dok­tor oder Franz. Des­sen letz­tes Le­bens­jahr schil­dert Kumpf­mül­ler mit al­lem durch die Tu­ber­ku­lo­se ver­ur­sach­tem Leid, aber auch mit al­lem Glück, das die Lie­be schenkt.

Kom­men, Blei­ben, Ge­hen, die drei mit an­nä­hernd 80 Sei­ten gleich gro­ßen Tei­le des Ro­mans er­zäh­len mit sug­ges­ti­ver Kraft die Ge­schich­te ei­ner gro­ßen Lie­be, der zwi­schen Franz Kaf­ka und Do­ra Diamant.

Sie be­geg­nen sich 1923 im Ost­see­bad Mü­ritz, wo Franz sei­ne Schwes­ter El­li und „Kaf­kas letz­te Lie­be“ weiterlesen

Proust – Tod der Großmutter

Über Ärzte, Aberglauben und Abschied (Bd. 3, 417–484)

GuermantesIm Zu­stand der Krank­heit mer­ken wir, daß wir nicht al­lein exis­tie­ren, son­dern an ein We­sen aus ei­nem ganz an­de­ren Reich ge­bun­den sind, von dem uns Ab­grün­de tren­nen, das uns nicht kennt und dem wir uns un­mög­lich ver­ständ­lich ma­chen kön­nen: un­se­ren Körper.“

Als der Er­zäh­ler von der Ma­ti­née zu­rück­kehrt hat sich der Ge­sund­heits­zu­stand sei­ner Groß­mutter ver­schlech­tert. Die Kon­sul­ta­tio­nen der Ärz­te und ih­re me­di­zi­ni­schen Maß­nah­men kom­men­tiert er sar­kas­tisch als „ein Kom­pen­di­um auf­ein­an­der­fol­gen­der und ein­an­der wi­der­spre­chen­der Irr­tü­mer“, an die zu glau­ben „der größ­te Wahn­witz“ sei.

Trotz­dem fin­det sich in die­sem Ab­schnitt die poe­tischs­te Fas­sung ei­ner der pro­fans­ten Tä­tig­kei­ten am Kran­ken­la­ger, der Temperaturmessung.

Fast in gan­zer Hö­he war die Röh­re frei von Queck­sil­ber. Mit Mü­he nur „Proust – Tod der Groß­mutter“ weiterlesen

Besessene Sinnsuche

Thomas Glavinic schildert in Das grössere Wunder innere und äussere Extremwelten

DBLWas für ein Ge­fühl, dach­te Jo­nas wäh­rend des Falls. Was für ein Rau­schen, was für ein Ge­ruch, was für ein Leuch­ten, was für ei­ne Kraft, welch Wild­heit, was für ei­ne Prä­zi­si­on, was für ei­ne Er­schüt­te­rung, was für ein Pri­ckeln, was für ei­ne Über­ra­schung, was für ei­ne Mu­sik, was für ein Wind, welch Stolz, wie schön, was für ei­ne Leich­tig­keit, was für ein Wahn­sinn, was für ein Him­mel, was für ei­ne Zeit, was für ei­ne Er­fah­rung, was für ein Le­ben. Und er fiel und fiel und fiel. Und er fiel noch im­mer. Und fiel.“ S. 203

Stel­len Sie sich letz­te Fra­gen und in­ter­es­sie­ren Sie sich für Ex­trem­si­tua­tio­nen, dann le­sen Sie Das grö­ße­re Wun­der, den neu­en Ro­man von Tho­mas Gla­vi­nic. Wie be­reits in Die Ar­beit der Nacht und Das Le­ben der Wün­sche trägt die Haut­pfi­gur den Na­men Jo­nas und denkt über den Sinn sei­ner Exis­tenz nach. Dies­mal be­fin­det er sich auf ei­ner Ex­pe­di­ti­on zum Mount Everest.

Glavinic_24332_MR1.inddWer, wie ich, bei ei­ner Acht­tau­sen­der­be­zwin­gung an Rein­hold Mess­ner oder gar an die gams­bär­ti­ge Berg­stei­ger­ro­man­tik ei­nes Lou­is Tren­ker denkt, sieht der Aus­sicht ei­ne sol­che Un­ter­neh­mung gut 500 Sei­ten lang zu be­glei­ten eher skep­tisch ent­ge­gen. Doch er wird po­si­tiv über­rascht wer­den, denn ihn er­war­tet ei­ne span­nen­de Mix­tur aus Gip­fel­stür­me­rei und Ma­fia­ge­ba­ren, Co­ming-of-Age-Sto­ry und Phi­lo­so­phie. Die­se ver­ab­reicht Gla­vi­nic sei­nem Le­ser in zwei von Ka­pi­tel zu Ka­pi­tel wech­seln­den Er­zähl­strän­gen, Jo­nas’ Be­stei­gung des Ever­est-Gip­fels und sein bis­he­ri­ges Le­ben, das sei­ne zu­nächst schlim­me Kind­heit, sei­nen Ein­zug ins Schla­raf­fen­land und sein Er­wach­sen­wer­den umfasst.

Bei­de Er­zäh­lun­gen sind von zahl­rei­chen glück­li­chen Zu­fäl­len, man mag sie auch Wun­der nen­nen, ge­prägt. Hoff­nungs­los er­scheint das Le­ben der ver­nach­läs­sig­ten Zwil­lings­brü­der Jo­nas und Mi­ke bei ih­rer al­ko­hol­kran­ken Mut­ter und de­ren ge­walt­tä­ti­gen Män­nern, als ei­ne gu­te Fee sie aus die­ser Si­tua­ti­on ret­tet. Pic­co ist der Groß­va­ter von Jo­nas” bes­tem Freund Wer­ner, eher ei­nem Ma­fia­pa­ten „Be­ses­se­ne Sinn­su­che“ weiterlesen

Old and Dreamy

Judith Kuckart schreibt über die Wunschbedrängnis in der Lebensmitte

Wer sich der Le­bens­mit­te nä­hert, dem rü­cken Wün­sche und Sehn­süch­te auf die Pel­le. Sie ent­ste­hen in der Ju­gend, wenn man sich fort fan­ta­siert aus dem El­tern­haus, aus dem Städt­chen, aus der gan­zen mie­fi­gen pie­fi­gen Pro­vinz. Doch dann mo­dern die Träu­me un­ter dem Laub, das Jahr um Jahr grö­ße­re Hü­gel bil­det, bis die Er­kennt­nis der End­lich­keit sie ausgräbt.

Auch die Fi­gu­ren in Ju­dith Kuckarts neu­em Ro­man „Wün­sche“ be­sit­zen sol­che Sehn­suchts­zie­le, de­nen sie sich auf ver­schie­de­ne Wei­sen nä­hern. Ih­re Stim­men po­si­tio­niert die Au­torin im Mit­tel­teil ih­rer drei­tei­li­gen Kon­struk­ti­on, die vom ers­ten und letz­ten Tag der neun­mo­na­ti­gen Hand­lung um­fasst wird.

Es ist Sil­ves­ter in ei­ner Stadt im Ber­gi­schen, als Ve­ra Con­rad die Ge­le­gen­heit „Old and Dre­a­my“ weiterlesen

Surreale Odyssee

Jean Cayrol „Im Bereich einer Nacht“ — Die Wiederentdeckung eines großen französischen Romans


„Und was ha­be ich in die­sem Win­kel hier wie­der­ge­fun­den? Ei­ne ver­fal­le­ne Kind­heit, ei­ne nie­der­ge­haue­ne Land­schaft und über all dem ei­ne wü­ten­de, ra­sen­de Nacht.“

An­läss­lich des hun­derts­ten Ge­burts­tags von Jean Ca­yrol (1911–2005) hat der Schöff­ling-Ver­lag des­sen Ro­man „Im Be­reich ei­ner Nacht“ neu auf­ge­legt, in der be­ein­dru­cken­den Über­set­zung durch Paul Celan.

Der drei­ßig­jäh­ri­ge Fran­çois ist aus Pa­ris auf­ge­bro­chen um sei­nen Va­ter zu be­su­chen. Die­ser wohnt in Sain­te-Vey­res, nach dem Krieg in Chau­vi­gny um­be­nannt. Man ahnt gleich zu Be­ginn, daß sich nicht ein freu­di­ges Wie­der­se­hen mit dem Ort und den Per­so­nen der Kind­heit an­bahnt. Fran­çois ver­lässt den Zug ei­ne Sta­ti­on vor dem Ziel, um nicht von sei­nen Va­ter von Bahn­hof ab­ge­holt zu wer­den und so ei­ne öf­fent­li­che Um­ar­mung  zu ver­mei­den. Doch die­sen Ent­schluss be­reut er bald. So sehr ihm vor der Be­geg­nung mit dem Va­ter graut, ängs­tigt ihn der Fuß­weg durch die graue, dun­keln­de Herbst­land­schaft. Er ver­lässt die Stra­ße wis­send sich in die­sem „Schier­lings- und Brom­beer­reich“ heil­los zu verlaufen.

Die Be­geg­nung mit ein paar Jungs, die nach ei­nen Schatz gra­ben, lö­sen Er­in­ne­run­gen an sei­ne ei­ge­ne, vom Glück weit ent­fern­te Kind­heit aus.

Ich sah ein, daß es un­mög­lich war, aus ei­ge­nen Kräf­ten glück­lich zu wer­den: das war der kunst­reich er­run­ge­ne Sieg mei­nes Va­ters, die har­te Lek­ti­on ei­ner knir­schen­den Mainacht.“

Wei­ter auf der Su­che nach dem rech­ten Weg durch ein vom Krieg zer­stör­tes Dorf und sei­nen Wald, ver­folgt von ei­nem her­ren­lo­sen Hund, er­in­nert er sich an sei­nen letz­ten Be­such beim Va­ter, dem „Über­wit­wer“, der sei­nen bei­den Kin­dern die Trau­er um ih­re Mut­ter ver­bo­ten hatte.

Ar­me Mut­ter, nie ha­be ich sie an­ders ge­kannt als an­ge­schmie­det an ih­ren Tod. Va­ter hat­te sie ein­ge­ker­kert, ein­ge­sargt in ei­nem un­zu­gäng­li­chen Kum­mer. Nie­mand durf­te ih­rer ge­den­ken. Nur auf sei­nen Wink hin durf­ten die Trä­nen flie­ßen und die Seuf­zer laut wer­den. Er ge­hör­te ihm und nur ihm al­lein, die­ser Tod.“

Als ein­zi­ger Licht­blick in die­ser Herbst­däm­me­rung voll schwar­zer Me­lan­cho­lie er­scheint Fran­çois sein Glück mit Ju­li­et­te. Er denkt an ih­re ers­te Be­geg­nung, an ih­re be­schei­de­ne Woh­nung in Pa­ris, in der sie glück­lich sein wol­len, vor al­lem, weil sie nicht „den an­de­ren mit ir­gend­wel­chen al­ten Bin­dun­gen be­hel­li­gen“. Die Ver­gan­gen­heit muss ver­drängt wer­den, um glück­lich le­ben zu kön­nen. „Darf man den an­de­ren Din­ge auf­bür­den, die man selbst nicht mehr er­trägt?“ Fran­çois trägt nicht als Ein­zi­ger ei­ne sol­che Last mit sich, auch Ju­li­et­te hat ei­ne Er­in­ne­rung zu ver­schwei­gen. De­ren Zeu­gen, die Brie­fe Fer­nands, könn­te sie je­doch mit Leich­tig­keit ver­bren­nen. Fran­çois hin­ge­gen ho­len sei­ne Alb­träu­me an je­dem Weg­wei­ser ein. Sei­ne eins­ti­gen Selbst­mord­ge­dan­ken, die auch den an­de­ren Mit­glie­dern die­ser un­glück­li­chen Fa­mi­lie nicht fern la­gen, und die to­des­na­he At­mo­sphä­re, de­ren vor­herr­schen­des Ele­ment die Angst war.

Als Kind war ihm kaum et­was an­de­res bei­gebracht wor­den als Angst; ei­ne Angst, der man mit kei­ner­lei Ar­gu­men­ten, mit kei­ner­lei Mut bei­kam.“ Früch­te ei­ner streng re­li­giö­sen Er­zie­hung. „Die­ses Fri­ka­ssee von Teu­fe­lei­en, das man uns täg­lich auftischte.“

Schließ­lich wird der mitt­ler­wei­le von Käl­te, Hun­ger und Er­in­ne­run­gen zer­mürb­te Fran­çois von ei­ner Au­to­fah­re­rin auf­ge­le­sen. In de­ren Haus er­hält er zwar ein we­nig Wär­me und ei­nen Co­gnac, ge­rät aber zu­gleich in ei­nen Streit zwi­schen Va­ter und Toch­ter, der ihn schnell sei­nen Weg fort­set­zen lässt. Doch welchen?

Es gibt im­mer zwei We­ge ne­ben­ein­an­der, ei­nen fal­schen und ei­nen rich­ti­gen. Und Sie – Sie schla­gen im­mer nur die We­ge ein, von de­nen kein Mensch et­was wis­sen will. Der rich­ti­ge Weg läuft an den Glei­sen ent­lang. Sie ren­nen da auf We­gen her­um, als ob Sie auf Am­seln aus wä­ren, wie die Kinder.“

Fran­çois’ Weg zu­rück führt wei­ter durch sei­ne Kind­heit, die er ge­mein­sam mit sei­ner Schwes­ter hin­ter ver­schlos­se­nen Tü­ren ver­brin­gen muss­te, nur ein­mal durf­ten sie ei­nen un­be­schwer­ten Tag in Frei­heit er­le­ben. Da zeigt sich dem er­wach­se­nen Fran­çois plötz­lich ein Licht in der Dun­kel­heit, er wähnt sich in Si­cher­heit, ima­gi­niert ei­ne „an­hei­meln­de, re­ge, hei­te­re Wohn­stät­te“, for­mu­liert schon den Be­richt sei­ner nächt­li­chen, un­heim­li­che Irr­fahrt an Ju­li­et­te, als er beim Be­tre­ten des Hau­ses ge­fragt wird, ob er we­gen des To­ten kom­me. Vol­ler Schreck, von aber­ma­li­gen Er­in­ne­run­gen über­wäl­tig, ver­liert er das Be­wusst­sein. Die Be­woh­ner bet­ten ihn auf ein So­fa und bie­ten ihm an über Nacht zu blei­ben. Vom Ne­ben­raum aus lauscht er den Ge­sprä­chen der Frau­en, er­fährt von ih­rem Un­glück und, daß der To­te nur zu Be­such war. Sein Un­wohl­sein lässt ihn in Fie­ber­phan­ta­sien fal­len, die sei­ne Kind­heit her­auf­be­schwö­ren und ihn fra­gen las­sen, ob der Tod sei­nes Va­ters ihn end­gül­tig  be­frei­en wür­de, ob er dann mit Ju­li­et­te ein neu­es Le­ben an­fan­gen kön­ne oder ob er durch die Be­frei­ung vom Ver­ur­sa­cher sei­nes Kind­heits­un­glücks gleich­zei­tig auch sei­ne Kind­heit selbst ver­lie­ren würde.

Wie­der er­wacht hört er die Schnei­de­rin Ray­mon­de und ih­re Toch­ter Clai­re, spä­ter trifft Si­mon ein, und bringt Un­frie­den in sei­ne Fa­mi­lie. Ei­ne Fa­mi­lie, die wie sich zei­gen wird, schon längst zer­stört ist. Auf dem Hö­he­punkt des Strei­tes mit ih­rem Va­ter Si­mon, flieht Clai­re aus dem Haus. Fran­çois wird auf­ge­for­dert bei der Su­che zu hel­fen. Die­se gilt al­ler­dings mehr dem teu­ren Hoch­zeits­kleid, daß Clai­re zur Pro­be über­ge­wor­fen hat­te, als dem jun­gen Mäd­chen selbst. Fran­çois irrt wie­der durch die Nacht und fin­det Clai­re schließ­lich in dem Haus, wel­ches ihm als Kna­ben Zu­flucht ge­bo­ten hat. Das Haus des al­ten, lie­ben Leh­rers Jean.

Die Lö­sung sei­ner Fra­gen und da­mit das En­de die­ser Nacht er­schließt sich ihm und da­mit auch dem Le­ser auf der vor­letz­ten Sei­te des Romans.

Jean Ca­yrol be­schreibt in sei­nem Werk die nächt­li­che Odys­see sei­nes Prot­ago­nis­ten Fran­çois zu ei­nem Ziel, wel­ches er ei­gent­lich gar nicht er­rei­chen will. Im­mer wie­der un­ter­bre­chen Er­in­ne­run­gen an die Schre­cken sei­ner Kind­heit die Su­che. Fet­zen, die sich nach und nach zu­sam­men fü­gen. Da­ne­ben gibt es Ge­dan­ken an sein jet­zi­ges Le­ben, sei­ne Lie­be zu Ju­li­et­te. Von ih­rer Si­tua­ti­on be­rich­tet der Au­tor in zwei kur­zen Ka­pi­teln. Sie zei­gen, wie auch sie von ei­ner Er­in­ne­rung be­las­tet wird.

Jean Ca­yrol schil­dert die Su­che nach dem rech­ten Weg, der sich in ei­ner vom Krieg trau­ma­ti­sier­ten Ge­sell­schaft nur schwer­lich fin­den lässt. Er führt durch zer­stör­te Or­te und ver­wil­der­te Na­tur, vor­bei an ver­fal­le­nen Häu­sern und ob­sku­ren Be­geg­nun­gen. Trotz sei­nes be­drü­cken­den In­halts, fes­selt der Ro­man, leicht und flie­ßend for­mu­liert. Meh­re­re Be­wusst­seins­strö­me kom­bi­nie­rend ent­wi­ckelt Ca­yrol ein in­ten­si­ves Psy­cho­gramm des Prot­ago­nis­ten. Er­fah­rung und Phan­ta­sie, Fie­ber und Traum bil­den die Wirk­lich­keit die­ser dunk­len Nacht der Er­in­ne­rung. So er­zeugt die­ser Ro­man, dem ich noch vie­le wei­te­re Le­ser wün­sche, ei­nen un­ge­heu­ren Lesesog.

Im Nach­wort wür­digt die Ro­ma­nis­tin Ur­su­la Hen­nig­feld den Dich­ter und Ver­le­ger Jean Ca­yrol. Ca­yrol wur­de als Mit­glied der Ré­sis­tance 1943 im La­ger Maut­hau­sen in­ter­niert, wo er den Mit­in­haf­tier­ten Ge­dich­te von Ra­ci­ne und Rim­baud, so­wie ei­ge­ne Wer­ke vor­trug. Die­se er­schie­nen 1997 un­ter dem Ti­tel „Schat­ten­alarm“. Seit 1949 war Ca­yrol ver­le­ge­risch tä­tig. 1973 wur­de er Mit­glied der Aca­dé­mie Goncourt.

In ih­rer Ana­ly­se des Ro­mans be­tont Hen­nig­feld des­sen sur­rea­lis­ti­sche Struk­tur, so­wie die sub­tex­tua­len An­spie­lun­gen auf die Er­in­ne­rungs­po­li­tik des fran­zö­si­schen Staa­tes. Ca­yrol hat in al­len sei­nen Wer­ken sei­ne Er­fah­run­gen mit Krieg und Sho­ah ver­ar­bei­tet, die­se aber im­mer im Li­te­ra­ri­schen belassen.

Die Freund­schaft zwi­schen Jean Ca­yrol und Paul Ce­lan, ge­prägt durch die ge­mein­sa­me Ar­beit ge­gen das Ver­ges­sen, führ­te da­zu, daß Ca­yrol Ce­lan um die Über­set­zung sei­nes Bu­ches bat. Wel­che dich­te­ri­sche Frei­heit er ihm hier­bei ließ, er­läu­tert die Autorin.

Abschied von Onkel Paul

Küchengespräche unter Schwestern in Gila Lustigers neuem Roman „Woran denkst du jetzt


„Sie hat­te ein Ge­schick da­für ent­wi­ckelt, sich von dem Sinn nicht be­hel­li­gen zu las­sen, und dass sie nach ei­ner gu­ten hal­ben Stun­de im­mer noch nicht her­aus­ge­fun­den hat­te, wor­um es ei­gent­lich ging, be­rei­te­te ihr Vergnügen.“

Der Le­ser ver­bringt wo­mög­lich mehr Zeit mit we­ni­ger Ver­gnü­gen, denn er läuft lang­sam an die­ser Ro­man, der in ei­ner Nacht spielt, in der Nacht nach dem Tod von On­kel Paul. Sei­ne bei­den Nich­ten sind für die­se Nacht in das El­tern­haus zu­rück­ge­kehrt. Die­ses Haus hat­te Paul vor Jah­ren sei­ner Schwes­ter über­las­sen, als ihr Mann sie ver­ließ und sie mit ih­ren bei­den Töch­tern ei­ne Blei­be such­te. On­kel Paul war seit­dem im­mer für sie da, in den letz­ten Mo­na­ten sei­nes Krebs­lei­dens hin­ge­gen küm­mer­ten sie sich um ihn. Er woll­te sei­ne letz­te Zeit mit ih­nen ver­brin­gen, nicht mit sei­ner Frau, mit der er jahr­zehn­te­lang ver­hei­ra­tet war. Doch warum?

Dies ist ei­ne der Fra­gen, die sich Li­sa und ih­rer Schwes­ter Tan­ja in die­sen Stun­den stel­len, den Stun­den der To­ten­wa­che, die sie in der Kü­che des Hau­ses ver­brin­gen. Sie re­den und strei­ten und stür­zen sich mit dem ewi­gen „Wor­an denkst Du jetzt?“ in ih­ren ei­ge­nen Ver­gan­gen­heits­film. Durch die­ses al­ter­nie­ren­de Prin­zip führt Gi­la Lus­ti­ger die je­wei­li­gen Er­in­ne­run­gen der un­ter­schied­li­chen Schwes­tern ein. So er­lebt der Le­ser das Fa­mi­li­en­ge­sche­hen ein­mal in der Ana­ly­se der Psy­cho­dra­ma­the­ra­peu­tin Li­sa, dann aus der Sicht der prag­ma­ti­schen Bank­ma­na­ge­rin Tan­ja. Li­sa, das Em­pa­thie­ge­nie, und Tan­ja, das Or­ga­ni­sa­ti­ons­ta­lent. Tan­ja, die sich ih­re Pro­ble­me selbst macht und die­se auch selbst lö­sen will. Li­sa, die die Pro­ble­me an­de­rer lö­sen möch­te. Bei­de sind „wah­re Meis­te­rin­nen im Dar­über­hin­weg­kom­men“ da­mals wie heute.

Nach­dem Tan­jas Zeit im Aus­land sie auch in­ner­lich von­ein­an­der ent­fernt hat­te, schei­nen die Schwes­tern sich in die­sen Stun­den wie­der an­zu­nä­hern. Doch sie re­den nicht mit­ein­an­der, sie sin­nie­ren ne­ben­ein­an­der über ihr Le­ben. Vor al­lem dar­über, wel­che Rol­le On­kel Paul dar­in spiel­te. Die­ser er­scheint als dan­dy­haf­ter Zam­pa­no, der im­mer ge­nau wuss­te, was gut und rich­tig war, und sie mit opu­len­ten Ge­schen­ken und Le­bens­weis­hei­ten über­häuf­te. Die Er­in­ne­run­gen ent­lar­ven ihn schließ­lich als Manipulator.

In die­ser psy­cho­lo­gisch nicht un­in­ter­es­sant kon­stru­ier­ten Fa­mi­li­en­ge­schich­te ver­misst der Le­ser je­doch lan­ge das Mo­tiv. So folgt man über die Hälf­te des Ro­mans ge­dul­dig den Er­in­ne­run­gen und, da im­mer noch kein Ge­heim­nis in Sicht, be­ginnt man bald sich selbst ei­nes her­bei zu spin­nen. Schließ­lich zeigt sich we­der Miss­brauch, noch In­zest son­dern ein ba­na­ler Ehe­bruch als cau­sa scri­ben­di. Die­ser be­stimmt fol­gen­reich das Be­zie­hungs­ge­flecht der Per­so­nen bis zum To­de von On­kel Paul, den man viel­leicht in zwei­fa­cher Hin­sicht als Haupt­schul­di­gen be­zeich­nen könn­te. Er hat­te einst den künf­ti­gen Ehe­mann sei­ner Schwes­ter als Freund ins Haus ge­bracht und vie­le Jah­re spä­ter die Ehe durch sei­ne In­dis­kre­ti­on zer­stört. Wei­te­re Ge­ständ­nis­se fol­gen und er­lau­ben den Schwes­tern zu ver­zei­hen, sich selbst und ein­an­der, und schließ­lich auch den Tod ih­res On­kels zu betrauern.

Lei­der ver­folgt die­ser Ro­man die Fra­ge nach Schuld und Ver­ant­wor­tung nicht in­ten­si­ver und en­det hoff­nungs­voll mil­de. Da­bei er­zählt Gi­la Lus­ti­ger ih­re Ge­schich­te ei­nes Ver­rats in ei­nem durch­aus an­spruchs­vol­len Kon­strukt aus Ge­füh­len und Er­in­ne­run­gen, was den gro­ßen psy­cho­lo­gi­schen Reiz ausmacht.

Man­ches trüb­te je­doch mein Le­se­ver­gnü­gen. Der Au­torin ge­lingt es nicht im­mer die bei­den cha­rak­ter­lich doch so ver­schie­den an­ge­leg­ten Schwes­tern deut­lich von­ein­an­der ab­zu­gren­zen. Be­son­ders in der wört­li­chen Re­de ist oft nicht ein­deu­tig aus­zu­ma­chen, wel­che Per­son spricht. Noch stö­ren­der emp­fin­de ich die sehr um­gangs­sprach­li­che For­mu­lie­rung ei­ni­ger Sät­ze, die da­durch oft un­klar und miss­ver­ständ­lich sind. Wenn man je­doch dar­über hin­weg zu le­sen ver­mag, öff­nen sich für den an fa­mi­liä­ren Kon­stel­la­tio­nen In­ter­es­sier­ten in­ten­si­ve Ein­bli­cke in ei­ne nicht im­mer ein­fa­che Schwesternbeziehung.

Zum Schluss noch ei­ne Be­mer­kung zur Ge­stal­tung. Es ist in­kon­se­quent, daß im ers­ten Ka­pi­tel die er­in­ner­ten Ge­dan­ken kur­siv er­schei­nen, dies je­doch im Fol­ge­text nicht wei­ter­ge­führt wird. Da­für gibt es als hüb­schen und zu­gleich nütz­li­chen Aus­gleich ein bor­deaux­ro­tes Lesebändchen.