Judith Kuckart schreibt über die Wunschbedrängnis in der Lebensmitte
Wer sich der Lebensmitte nähert, dem rücken Wünsche und Sehnsüchte auf die Pelle. Sie entstehen in der Jugend, wenn man sich fort fantasiert aus dem Elternhaus, aus dem Städtchen, aus der ganzen miefigen piefigen Provinz. Doch dann modern die Träume unter dem Laub, das Jahr um Jahr größere Hügel bildet, bis die Erkenntnis der Endlichkeit sie ausgräbt.
Auch die Figuren in Judith Kuckarts neuem Roman „Wünsche“ besitzen solche Sehnsuchtsziele, denen sie sich auf verschiedene Weisen nähern. Ihre Stimmen positioniert die Autorin im Mittelteil ihrer dreiteiligen Konstruktion, die vom ersten und letzten Tag der neunmonatigen Handlung umfasst wird.
Es ist Silvester in einer Stadt im Bergischen, als Vera Conrad die Gelegenheit ergreift und unerwartet wie unerkannt flieht, „das Leben hier hat sie solange ausgehalten, weil sie sich ein anderes vorgestellt hat“. Dieses andere liegt in London, wo sie als Fünfzehnjährige gemeinsam mit Meret schöne Tage verbrachte. Meret, die nach vielen Lebensturbulenzen ausgerechnet an diesem Tag wieder in die Provinzheimat zurückkehrt. Als Erbin könnte sie die verhasste Kaufhausbesitzerexistenz ihrer Eltern weiterführen, die ihr Bruder Friedrich Wünsche als Herausforderung annimmt. Warenhaus Wünsche soll als nostalgischer Konsumtempel mit Drehtür und Internetservice seine Kaufhausvision erfüllen.
Vera erreicht mit anderer Identität die Weltstadt, dort „werden keine alten Filme mehr angeschaut, sondern ein neuer wird gedreht“. Ein alter Film lief auf der immer gleichen Silvesterparty, die sie und Karatsch mit Freunden feierten. Darin sahen sich Vera und Friedrich als Zwölfjährige tief in die Augen. Beide werden keine Schauspieler, aber der Wunsch ein anderer zu werden und zu verschwinden, verbindet sie weiterhin. Friedrich floh vor dem Tod seiner Mutter das Provinzstadtleben. Vera hingegen hatte Karatsch geheiratet, ihren Pflegevater, nach dem Tod seiner Frau. Einige Jahre zuvor hatte das Ehepaar sie aufgenommen. Nun ist Vera selbst Mutter und Jo 20 Jahre alt. Er bricht bald zu einem eigenen Leben auf und ist über das Verschwinden seiner Mutter aus dem alten nicht allzu besorgt. Während Karatsch kaum Worte für Veras Flucht findet, aber schnellen Trost. Die Beziehung zwischen beiden scheint unklar und wird durch Unausgesprochenes belastet. Ein Missbrauch wird angedeutet, bei dem vielleicht auch Meret eine Rolle spielte. Meret, das Enfant terrible der Familie Wünsche, hat es „nicht geschafft, dem Leben ein Schnittmuster vorzulegen“. Der Weg zur Femme Fatale scheint nicht geglückt. Sie kehrt als Mode-Designerin zurück, um das Kaufhaus mit eigener Kollektion auszustatten. Vielleicht erfüllt es ihr mit seinen sieben Schaufenstern ebenso viele Wünsche? Wie ein Vorbote kommt ihr durch die neue altmodische Drehtür Hannes entgegen, der schicksalhaft mit Vera und Karatsch verbunden ist.
Vera lebt unterdessen in London „das Gefühl des Augenblicks“, dessen Bedeutung ihr die Arbeit im Pflegeheim offenbart. Der Tod, der in jungen Jahren, noch weit entfernt erscheint, kommt näher, und bevor sich alle Wünsche erfüllen, ist es vorbei. Vera, die immer jemanden brauchte, hinter dem sie herlaufen konnte, fühlt in London den Frühling. „Springtime! Jetzt fehlt nur noch ein Mann, der die Hand mit dem Druck der Liebe auf ihren Kopf legte und das Herz höher schlagen ließ“. Vielleicht findet sie ihn in Sean, der ihr während seines Einsatzes in Afghanistan die Wohnung überlässt. Wenn er zurückkehrt, wird er beim britischen Geheimdienst anheuern. Kein Wunder bei dem Namen! „Ich heiße Kennedy, sagte der Mann jetzt, Sean Kennedy“. Vera hingegen ist überrascht, daß er mit diesem Namen noch nicht erschossen wurde.
Doch es kommt alles ganz anders oder auch wie vermutet. Sie kehrt zurück und das ohne Nachhilfe von Karatsch & Co, die als sie zufällig die Londoner Adresse erfahren, dorthin aufbrechen. Zurückgekehrt ins Bergische, wo die Handlung unverkennbar spielt, „wird sie wieder hier und einfach weiterleben als sei nichts geschehen. Was soll’s. Täglich kann man dabei erwischt werden, dass man nichts Besonderes tut.“ Verändert hat sich allerdings einiges.
Den möglichen Fortgang ihrer Geschichte zu ersinnen, überlässt Kuckart der Fantasie ihrer Leser, was mir ausgesprochen gut gefällt. Ebenso wie ihr Witz und die bildhaften Sprachideen. Es gibt vieles zu entdecken in diesem kunstvoll konstruierten Roman, der unbedingt auf die Liste des Deutschen Buchpreises gehört.
Eine Leseprobe findet sich auf der Seite des DuMont-Verlags.
Judith Kuckart, Wünsche, DuMont Buchverlag, 2. Aufl. 2013
Ich habe deine „Wünsche”-Besprechung erst heute entdeckt. Der Roman liegt bei mir auch schon ganz weit oben auf dem Sofa-Stapel. Mich hat das Wünsche-Thema neugierig gemacht. Außerdem kannte ich mich schon beim Lesen der ersten Seite so gut aus: die Brauerei und das Waldschwimmbad kenne ich ja auch, denn Schwelm, die Heimatstadt Judith Kuckarts, grenzt direkt östlich an Wuppertal. Nachdem Mara den Roman etwas kritischer besprochen hat, freue ich mich nach deiner Rezension schon auf die Lektüre und bin ganz gespannt, ob mich die Geschichte und die Figuren auch überzeugen können.
Viele Grüße, Claudia
Hallo Claudia, die Geschichte öffnet vielleicht noch einmal eine zusätzliche Perspektive, wenn man die Schauplätze kennt. Für mich hat sie auch so funktioniert, Provinz und Lebenslügen gibt es wohl nicht nur in Schwelm.