Peter Stamm erzählt in „Agnes“ über die Schwierigkeit von Nähe
Das Manuskript dieses Romans reichte Peter Stamm bei mehreren Verlagen vergeblich ein, bevor es im Züricher Arche Verlag zum erfolgreichen Debüt wurde. Vielleicht war es so lange verkannt, weil Stamm auf den ersten Blick eine altbekannte Geschichte erzählt, die einer Beziehung, auf die ein gleich und gleich ebenso zutrifft wie die sich anziehenden Gegensätze.
Stamm siedelt sein Paar in Chicago an, wo es im Lesesaal der Public Library einander begegnet. Ungleich im Alter sind die beiden, sie 25, er, der fast ihr Vater sein könnte, um die 40, auch in ihren Interessen verschieden. Agnes promoviert in Physik, der Schweizer Sachbuchautor schreibt über Luxuswagons von Pullmann. Beide agieren scheu in ihren Annäherungen, doch einige Zigaretten und Kaffees später werden sie ein Paar. Das Schüchterne und die Schwierigkeit über Gefühle zu sprechen bleiben.
Ein unspektakuläres Sujet, das allerdings durch das Spiel mit der Metaebene dem Roman und damit der Geschichte selbst eine aufregende Dimension verleiht. Schuld daran hat Agnes, die den Ich-Erzähler des Romans veranlasst, eine Geschichte über sie zu schreiben. Er lehnt zunächst ab. Er, der sich selbst nicht als Schriftsteller sieht, weiß ganz genau, wie schnell eine Figur sich verselbständigen kann. Doch Agnes hält an ihrer Idee fest trotz aller Warnungen. Dass diese nicht zu Unrecht geäußert werden, zeigen schon die ersten Sätze, „Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet“.
Bevor Agnes dieses Porträt einfordert, „damit ich weiß, was Du von mir hältst“, hat sie ihrem Geliebten einen Text vorgelegt. Zeilen, in denen sie beschreibt, was sein in Gesten und Worten scheues Verhalten in ihr bewirkt. Aber er erkennt nicht den an ihn gerichteten Apell, genau so wenig wie Agnes seine Liebeserklärung durch ein Shakespeare Sonett. So will sie mit der „Liebesgeschichte von Dir und mir“ ihr Ziel erreichen. Ein gefährliches Unterfangen, denn die als Liebeserklärung gedachte Fiktion entwickelt ein Drehbuch, dem es sich zu unterwerfen gilt, ebenso wie ungeahnte Alternativen. Obwohl nur eine Fantasie, verwischen bald die Grenzen zur Realität. Agnes droht zum Geschöpf des Stückes zu werden, dessen Dramaturgie sie allzu bereitwillig folgt.
Labil und in Zwängen gefangen kann sie kaum etwas dagegen setzen. Sie überlässt sich der Fremdbestimmung und wirkt, wenn sie doch einmal die Initiative ergreift, extrem hilflos.
Der Ich-Erzähler, der Schriftsteller, der von sich behauptet kein Schriftsteller zu sein, liebt Agnes, ist aber kein Liebender.
Wer von den beiden Protagonisten an welchem Wahn leidet, sei dahin gestellt. Gemeinsam ist ihnen das psychische Pathos, was sich auch hinter den zitierten Kunstwerken verbirgt. Neben den indifferenten Personen auf George Seurats „Dimanche d’été“, die Stamm in seinem Roman beschreibt, finden sich weitere Verweise. In Agnes Wohnung hängt die Reproduktion eines Landschaftsgemäldes von Ernst Ludwig Kirchner, entstanden in Davos, wo der Maler einige Jahre mit Erna Schilling lebte und sehr unter den schweren Depressionen seiner Lebensgefährtin litt. Der Künstler, selbst ein schwieriger und misstrauischer Mensch, nahm sich nach der Brandmarkung seiner Werke als „Entartete Kunst“ 1938 das Leben. Ebenfalls in Agnes’ Apartment entdeckt der Erzähler ein Plakat von Oskar Kokoschka zu dessen Theaterstück „Mörder, Hoffnung der Frauen“, das bei der Uraufführung 1909 große Empörung auslöste. Es thematisiert den Kampf der Geschlechter, der mit dem Sieg des Mannes und dem Tod der Frau endet. Zwei Jahre später lernte Kokoschka seine große Liebe Alma Mahler kennen, die ihn wegen der Abtreibung eines gemeinsamen Kindes und anschließender Trennung in große Verzweiflung stürzte. Ob Peter Stamm mit der Erwähnung der beiden Kunstwerke auf genau diese Details deuten will, bleibt natürlich Spekulation. Zu solchen gibt der Roman viel Gelegenheit und eignet sich somit hervorragend zum Nachdenken über die Literatur und das Leben.
„Wir denken, wir leben in einer einzigen Welt. Dabei bewegt sich jeder in seinem eigenen Stollensystem, sieht nicht rechts und links und baut nur sein Leben ab und versperrt sich mit dem Schutt nur den Rückweg.“
Auf seiner Seite äußert sich Peter Stamm zu Lust und Last der Schullektüre und der Freiheit von Interpretation. Nicht nur Autor und Verlag, und hoffentlich auch einige Schüler und Lehrer, freuen sich über diese Wahl, sondern auch die Theater in Baden-Württemberg. Agnes läuft u.a. am Nationaltheater Mannheim, der Freien Bühne Stuttgart und am Badischen Staatstheater Karlsruhe.
Peter Stamm, Agnes, btb Taschenbuchverlag, 1. Aufl. 2000
Hallo Atalante,
eine schöne Vorstellung von „Agnes” hast du da veröffentlicht. Gefällt mir sehr gut. Ich habe mit „Agnes” eine besondere Erfahrung gemacht. Ich habe nämlich 2012 bei der Aktione Lesefreude schenken der Stiftung Lesen teilgenommen und 20 Sonderdrucke von „Agnes” erhalten, die ich an Familie, Freunde, Bekannt, Arbeitskollegen usw. verteilt habe. Ich selbst habe „Agnes” dann auch gelesen und fand es, obwohl es etwas düster und schwermütig war, sehr gut, gerade weil es eine eher nachdenkliche Lektüre war. Doch die Rückmeldung derjenigen, die das Buch von mir bekommen haben, war eher negativ. Viele konnten mit der Geschichte nicht viel anfangen. Das fand ich ein bisschen schade. Ich finde, dass diese Buch wirklich lesenswert ist. Vielleicht sollte man es sogar zwei mal lesen, um alles nochmal durchdenken zu können.
Liebe Grüße
Madeleine
Danke für Deinen Kommentar, Madeleine. Wir haben neulich den Roman in unserem Literaturkreis diskutiert. Dort empfanden einige das Verhalten des Protagonisten kalt und unverständlich und erhielten keinen Zugang zu der Geschichte. Die andere Gruppe war geradezu begeistert, wie es Stamm in diesem Roman gelingt, ohne viele Worte die Psychologie der Personen anzudeuten, und den Leser an dem Spiel mit mehreren Ebenen teilhaben zu lassen. Wir haben noch lange darüber diskutiert.