Über Ärzte, Aberglauben und Abschied (Bd. 3, 417–484)
„Im Zustand der Krankheit merken wir, daß wir nicht allein existieren, sondern an ein Wesen aus einem ganz anderen Reich gebunden sind, von dem uns Abgründe trennen, das uns nicht kennt und dem wir uns unmöglich verständlich machen können: unseren Körper.“
Als der Erzähler von der Matinée zurückkehrt hat sich der Gesundheitszustand seiner Großmutter verschlechtert. Die Konsultationen der Ärzte und ihre medizinischen Maßnahmen kommentiert er sarkastisch als „ein Kompendium aufeinanderfolgender und einander widersprechender Irrtümer“, an die zu glauben „der größte Wahnwitz“ sei.
Trotzdem findet sich in diesem Abschnitt die poetischste Fassung einer der profansten Tätigkeiten am Krankenlager, der Temperaturmessung.
„Fast in ganzer Höhe war die Röhre frei von Quecksilber. Mit Mühe nur erkannte man den silbernen Salamander, geduckt auf dem Grund seines Wännleins. Er schien vollkommen tot. Das Glasrohr wurde meiner Großmutter in den Mund geschoben. Wir brauchten es nicht lange dort zu belassen; das kleine Hexenwesen benötigte nicht viel Zeit für sein Horoskop.“
Als die Ärzte zu einem Spaziergang raten, begleitet sie Marcel in die Champs-Élysées. Ihr Ziel ist das von den Eskapaden mit Gilberte wohlbekannte Lorbeerboskett. Vielleicht vermag dieser apollinische Strauch etwas von der Heilkraft seines Gottes zu übertragen. Doch als sie den Park erreichen treffen sie nicht auf Apoll sondern auf die Dame des Toilettenhäuschens, die wie eine Marquise über den Zutritt zu ihrem Salon wacht. Marcels Großmutter wird die Zuflucht zum Pavillon gewährt während unwürdige Bedürftige ein anderes Örtchen suchen müssen.
Weder frische Luft noch die heilenden Pflanzen des Parks verbessern den Zustand der Großmutter. Im Gegenteil, Marcel erkennt die akute Situation, er vermutet einen Schlaganfall, und macht sich auf die Suche nach einer Kutsche. Dabei begegnet er Professor E. und bittet ihn um medizinische Hilfe. Nur widerwillig erklärt dieser sich zur Untersuchung bereit. Der Arzt stellt eine Urämie, ein Nierenversagen, fest und prophezeit den bald eintretenden Tod. Wieder zu Hause verdrängt ihre Tochter den Zustand der Mutter, Françoise hingegen erkennt sofort die Lage der Dinge.
Wir lesen vom Leid der Kranken und von der Sorge der Angehörigen. Medizin wird verabreicht, darunter auch Morphium, und in jedem Ratschlag wird neue Hoffnung gelegt. Den Auftritt eines sogenannten Spezialisten verwandelt Proust in eine ätzende Satire über gierige Ärzte und hörige Patienten. Dieses Exemplar zeichnet sich durch sein Untersuchungsbesteck aus, „in dem die Erkältungen seiner sämtlichen Patienten ruhten wie die Winde im Schlauch des Äolus“. Zu ihrem Glück verweigert die Großmutter die Untersuchung, Marcel und seine Mutter werden sie bereuen.
Genesungswünsche und Besuche treffen ein, darunter auch der Bergottes. Der einst von Marcel so verehrte Dichter ist ebenfalls erkrankt, worunter seine Fähigkeiten leiden. „Der größte Teil seines Denkens war schon aus seinem Hirn in seine Bücher übergegangen.“
Das Nierenversagen raubt der Kranken zunehmend ihre Fähigkeiten, sie ist orientierungslos, weiß nicht, was sie tut. Eines Tages versucht sie zu fliehen, sich aus dem Fenster zu stürzen. Wenige Tage später setzt ihr Todeskampf ein. Der herzogliche Nachbar erscheint um zu kondolieren, dabei liegt noch keine Leiche auf dem Sterbebett. Um dieses sitzen jetzt die Angehörigen. Zunächst erfüllt sie Aufopferung, die langsam in Gefühle der Gleichgültigkeit und Langeweile übergehen, das „ließ sie Gespräche führen, wie sie auch etwa von langen Eisenbahnfahrten nicht fortzudenken sind“.
Kurz vor ihrem Tod erscheint ein weiterer Spezialist, der Pathologe Dieulafoy. Diesen Mediziner, der auch auf dem Gebiet der Hyperästhesie forschte, lässt Proust mit seinem Klarnamen in der Szene auftreten. Oder vielleicht auch wegen seines Namens, der dem Erzähler wie von Molière ersonnen scheint, und auf die Gottähnlichkeit der Ärzte und den (Aber)Glauben an die Medizin verweist. Die Großmutter stirbt schließlich nach einem letzten Kuss ihres Enkels, der ihre Gestalt durch den Tod gewandelt sieht.
„Das entschwundene Leben hatte die Enttäuschungen des Lebens mit sich fort getragen. Ein Lächeln schien auf den Lippen meiner Großmutter zu liegen. Wie der Bildhauer des Mittelalters hatte der Tod sie auf dieses letzte Lager in der Gestalt eines jungen Mädchens gebettet.“
Da ich noch nie gebloggt habe, mich aber insbesondere das Thema — die Bücher — Proust interessieren, frage ich, kann hier ein Gedankenaustausch über Ihren Blog stattfinden, an dem ein jeder — z.B. meine Person — teilnehmen kann?
Selbstverständlich und zwar sehr gerne. Grundsätzlich ist jeder Kommentar willkommen und ich freue mich über eine Diskussion.