Matinée bei Madame de Villeparisis (Bd. 3, 254–438)
„Der Salon der Marquise mochte sich zwar von einem wirklich eleganten Salon unterscheiden, in dem viele von den bürgerlichen Damen gefehlt hätten, die sie bei sich empfing, und andererseits viele von den glanzvollen Erscheinungen der großen Welt anwesend gewesen wären, die Madame Leroi schließlich in ihr Haus zu ziehen vermocht hatte.“ (Bd. 3, 269)
Marcel Proust war ein Kenner der Pariser Salons. Bevor er sich in seine schalldichte Kammer zurückzog, beobachtete er als Akteur das Treiben bei Madame Lemaire oder der Comtesse de Greffuhle. Sie boten in ihren Salons die Gelegenheit zum gesellschaftlichen Umkreisen. Was darunter zu verstehen ist, beschreibt Proust auf rund 200 Seiten im dritten Teil der Recherche. Sein junger Marcel besucht zum ersten Mal eine Matinee bei Madame de Villeparisis. Begegnet war er ihr vor einiger Zeit in Balbec, wo er mit seiner Großmutter den Sommer verbrachte. Madame de Villeparisis war es, die ihn mit ihrem Großneffen Robert de Saint-Loup zusammen brachte. Dieser ist seitdem sein Freund und als solcher weiß er von Marcels geheimen Sehnsüchten. Auf seine Bitten hin hat er die Einladung bei der Tante arrangiert, sie soll ihm Gelegenheit geben, endlich der Herzogin von Guermantes vorgestellt zu werden.
Dieses vielleicht etwas verworren anmutende Geflecht von Beziehungen und Begehrlichkeiten kann allgemein als Triebfeder der Salonkultur bezeichnet werden. Das Sehen und Gesehenwerden um Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen wird heutzutage als Kultur des Netzwerkens gepriesen. Damals wie heute wird Smalltalk dem Gehaltvollen vorgezogen. Im Focus dieser Plaudereien standen nicht selten die Salons der anderen. Es herrschte Konkurrenz um die Besucher, die den Status der Gastgeber definierten.
Der Salon der Madame de Villeparisis galt als deklassiert. Gesellschaftsfähigen Glanz brachten nur die Guermantes, die Nichten und Neffen aus dem Hochadel. Die übrigen adligen Besucher, allesamt auf dem absteigenden Ast, mischten sich unter die bürgerlichen Politiker, Wissenschaftler und Künstler. Man schaute vorbei, würzte die Gespräche mit Klatsch und Sottissen, um alsbald zur nächsten Matinee abzuziehen. Der Tag hat nur wenige Stunden.
„…bei einem jener Tees, die für die Frauen nur eine kurze Rast im Ablauf ihres Ausgangs bilden und wo sie, mit dem gleichen Hut auf dem Kopf, den sie bei ihren Besorgungen schon getragen haben, in die Flucht aufeinanderfolgender Salons die Außenluft hineintragen und einen besseren Blick auf das spätnachmittägliche Paris gestatten als die hohen geöffneten Fenster…“ (Bd. 3, 285)
So verwundert es nicht, daß Madame de Villeparisis diesem ständigen Kommen und Gehen betont unkonventionell begegnet. Sie scheint ganz mit dem Aquarellieren von Blumenbouquets beschäftigt und empfängt im Nebenbei. Das stößt manchen vor den Kopf, ähnlich wie ihre nicht offene und doch offensichtliche Liebesbeziehung zu Norpois. An ihn, so der väterliche Rat, sollte Marcel sich wenden, um seine Karriere als Schriftsteller in Schwung zu bringen. Der Leser denkt etwas skeptisch an die erste Begegnung vor Jahren, als Norpois den ersten Text des Jungen las.
Endlich erscheint auch die Herzogin von Guermantes. Doch sie nimmt Marcel kaum wahr als er ihr vorgestellt wird. Saint-Loup überlässt ihm sogar den Sitzplatz neben ihr. Er hört mit Erschrecken ihr oberflächliches Gerede über Bergotte und Maeterlinck. Welch dumme Pute! denkt er und ist beinahe sofort entliebt.
Befreit von seiner Fokussierung studiert er die anderen Gäste. Der Herzog von Guermantes erscheint ihm nicht weniger oberflächlich als seine Gemahlin, während dessen Schwester Madame Marsantes entzückt ist ihren Sohn Robert de Saint-Loup anzutreffen. Neben den Einblicken in diese Verwandtschaftsbeziehungen, die ihm gegen Ende offenbaren, daß auch Baron Charlus ein Guermantes ist, hält diese Matinee auch Amüsantes bereit. Bloch, der nur gekommen ist um mit Norpois über Dreyfus zu streiten, begeht wieder einmal zahlreiche Fauxpas. Als er endlich den Salon verlässt, stellt Madame de Villeparisis sich schlafend um der Höflichkeit aus dem Weg zu gehen, ihn zu einem erneuten Besuch ermuntern zu müssen. Auch der Schmeichler Legradin taucht auf, sein wohlbekannter Hinweis auf seine Schwester, Madame de Cambremer, ermuntert die Herzogin zu Lästereien über diese Provinzadlige. So wie Bloch erscheint auch Freiherr von Faffenheim-Münsterberg-Weiningen wegen Norpois. Der Deutsche Premierminister mit dem skurrilen Namen, der sein „Ponchour, Matame la Marquise“ mit dem gleichen Akzent vorbrachte wie ein elsässischer Concierge sucht Norpois’ Unterstützung um Mitglied in der Académie des Scienes morales et politiques zu werden. Schließlich erscheinen noch Odette und Charles Morel, Sohn des Kammerdieners von Marcels verstorbenem Onkel. Dieser offeriert ihm eine pikante Fotosammlung des Onkels. Sie zeigt Schauspielerinnen und Kokotten, darunter auch die Dame in Rosa, der Marcels einst als Jüngling begegnet war, und bei der es sich, wie er jetzt erkennt um Odette, Swanns Frau handelt.
Als Marcel die Matinée verlassen will, drängt sich Baron Charlus als Begleiter auf. So wenig wie Marcels die Warnung der Gastgeberin vor Charlus versteht, begreift er dessen Avancen. Er verzichtet auf das Angebot einer moralischen Führung durch Charlus und überlässt den Baron der Fürsorge eines Kutschers.
Diese sehr amüsant zu lesende Gesellschaftsszene entwickelte Proust nicht nur aus persönlichen Erfahrungen. Als Quelle liegen ihm die Memoiren einer Salondame, der Comtesse de Boigne vor, sie tragen den Titel Rècits d’une tante. Einen Artikel über diese Schrift verfasste Proust 1907 für den Figaro. Wenige Jahre zuvor erschien in dieser Zeitschrift seine Artikelserie über die verschiedenen Pariser Salons, die als Vorstudie zu den Salonszenen in der Recherche gewertet werden kann.