Kurgesellschaft
Unser Held, der jugendliche Marcel, verbringt zum ersten Mal seine Zeit in einem Grandhotel und beschert uns mit seinen Beobachtungen eine amüsante Analyse der Freuden und Nöte des dortigen gesellschaftlichen Gerangels. Nichts scheint schwieriger als in der vermeintlich vereinheitlichenden Atmosphäre einer gemeinsamen Badekur die gesellschaftlichen Schranken aufrechtzuerhalten.
Dieser Schwierigkeit, allen comme il faut gerecht zu werden, sieht sich auch der Direktor des Grand-Hôtel de la Plage in Balbec ausgesetzt. Das Äußere dieses Herrn erinnert an eine lebensgegerbte Pagode im Smoking, aber sein psychologisches Gespür täuscht ihn manchmal. Nicht immer erkennt er, wer die ausreichende Finanzstärke eines würdigen Gastes ausstrahlt. Meist sind das Auftreten, ein exklusives Äußeres, aber auch die „gewählten, aber falsch angebrachten“ Redewendungen deutliche Indizien. Doch ob Bourgeois oder Aristokrat, auch ein hoher Status garantiert keine hohen Umsätze. Der Direktor weiß, „der Geiz ist tatsächlich dem Prestige nicht abträglich, da er ein Laster ist und demgemäß in allen Gesellschaftsklassen zu Hause“ (II, 339).
Der Erzähler leider ist kaum beeindruckt von diesem Kurort. Treppen aus falschem Marmor erwarten ihn im Inneren des Hotels, davor eine Straße mit Frisiersalon und Konditor und der ästhetisch entmutigenden Statue eines alten Freibeuters. Schlechter hätte der junge Mann sich nicht „im Wartezimmer eines Zahnarztes“ fühlen können.
Das alles ist umso schwieriger als sich Marcels Großmutter, wie es ihrem eigenwilligen Charakter entspricht, sehr entschlossen unkonventionell verhält. Sie, für die frische Lust das beste Heilmittel scheint, scheut sich nicht, während des Essens heimlich einen Flügel im Salon zu öffnen. Ungnädige Blicke der übrigen Hotelgäste sind die Folge.
Diese wohlhabenden, sich kosmopolitisch gebenden Stammgäste erscheinen reichlich provinziell. Marcel beobachtet bei den Gerichtspräsidenten, Ärzten oder Anwälte, sobald sie im Salon mit Standesgenossen aus Paris zusammentreffen, gewaltige Unterschiede, die sich in ihrem Dialekt und ihrer Liebe zum Leben in der Stille zeigen, „vielleicht auch, weil sie reaktionär waren“ (II, 357).
Da der Müßiggang der Sommerfrische nach Abwechslung giert, werden Neuankömmlinge und Abweichler von den examinierten Hotelinsassen kritisch und offen durch das Lorgnon beäugt. Die Kluft zwischen Bourgeoisie und Aristokratie tritt ganz offensichtlich zu Tage, wenn der Marquis de Cambremer, Grandseigneur de Balbec et aux alentours, zur sonntäglichen Gardenparty lädt. Nur wenigen wird diese wöchentliche Ehre zu Teil. Die vielen, die nicht von diesem „Mann mit sorgenvoller Stirn und einem Blick, der sich hinter den Scheuklappen seiner Vorurteile und seiner Erziehung verbarg“, empfangen werden, geben sich trotzdem den Anschein des Alsob. Sie verlassen zur gleichen Stunde ebenfalls das Hotel. Da der Großteil dieser Snobs gar keine Einladung erhielt, wägen sie sich in gegenseitiger Unsicherheit. Und erkennen den Grandseigneur selbst nicht als solchen, als dieser eines Tages das Hotelfoyer betritt. Nur diejenigen, die ohne alle Not und Hintergedanken im Hotel bleiben, entlarven sich als eindeutig nicht Dazugehörige, wenn auch als nicht sich dazugehörig Sehnende. Sie sind wohl uneitel und selbstbewusst wie Marcels Großmutter, deren Jugendfreundschaft mit dem neuen Gast, der Marquise de Villeparisis, ihr dann doch unter den Stammspießern das Prestige der Adelsnähe verschafft.
Oberflächlich und herablassend kann jedoch auch der Adel sein. Während einer Promenade mit der Marquise treffen Großmutter und Enkel auf die Prinzessin von Luxembourg, deren affektiertes Verhalten der Erzähler mit ironischer Phantasie kommentiert, „denn infolge einer falschen Einstellung tränkten sich ihre Blicke mit derartiger Güte, daß ich den Augenblick kommen sah, da sie uns streicheln würde, wie zwei nette Tiere, die im Jardin d’Acclimatation durch ein Gitter ihr den Kopf hinstreckten“ (II, 391f.).
Marcel fühlt sich den Kreisen der Kurgesellschaft fremd, seien sie nun adlig oder großbürgerlich, städtisch oder provinziell. Da entführt ihn eine neue Gestalt mit heller Haut und golden schimmernden Haaren aus seiner Zimmereinsiedelei. Groß, schlank, ganz in weiß gekleidet schließt der Neffe der Marquise de Villeparisis, Robert de Saint-Loup-en-Bray, nach anfänglichem Zögern mit Marcel eine Freundschaft fürs Leben.