Balbec
Windböen über flachen Stränden, deren Enden wie der Horizont in unendlicher Weite zu liegen scheinen. Mit Wellen und zahllosen Varianten von Blau macht das Meer auf sich aufmerksam, dessen Gicht die Luft feucht und salzig macht. Besonders gut für den asthmakranken Jungen, der in Begleitung seiner Großmutter, diese Brise nun etliche Wochen atmen wird. Fern von Maman, fern von lieben Gewohnheiten, fern von der heimatlichen Idylle und dem Schutz des eigenen Zimmers, sieht sich der junge Erzähler einer fremden, unbekannten Umgebung ausgesetzt. Er muss sich erst einmal gewöhnen, an das kahle Zimmer, an die Riten des Hotellebens, an die Gesellschaft anderer Menschen, die zugleich erstrebenswert wie unerreichbar erscheint. Marcel nähert sich durch Beobachtung. Er sieht Gruppen von jungen Menschen, im gleichen Alter wie er aber doch gänzlich anders in ihrem Verhalten. Nicht der Obhut einer Großmutter sondern sich selbst überlassen vergnügen sie sich ganz prächtig. Alleine ihr Auftreten mit Tennis- oder Golfschläger, auf dem Fahrrad oder gar auf dem Rücken eines Pferdes zeugen von einer sportlichen Aktivität, die dem in seinem Liegestuhl sich schonenden Marcel unerreichbar scheint. Und doch wirkt ihr durch exklusive Kleidung betont mondänes Erscheinungsbild äußerst attraktiv auf ihn. Wie gerne würde auch er einem dieser Grüppchen angehören, würde lachend losziehen zu einer Expedition in den Nachmittag. Doch er ist scheu, all’ diese Möglichkeiten sind zunächst nur in seiner Phantasie real. Während der streng einzuhaltenden Nachmittagsruhe im verdunkelten Zimmer lauscht er lediglich den Möglichkeiten eines jungen Lebens. Die einzig neuen Bekanntschaften, die er vorerst machen wird, sind die seiner Großmutter.
Da erscheint eines Tages während eines Spaziergangs auf der Strandpromenade die wilde Meute einer Mädchengruppe. Ungestüm und maenadenhaft durchtanzen sie mit wehenden Haaren den gemächlichen Strom der Spaziergänger, hüpfen über Hindernisse, bewegen sich nach eigenen Regeln, schaffen sich ihre eigene Kurordnung. Marcel ist verzaubert von dieser ungezwungenen Eigenwilligkeit und verliebt sich, wir ahnen es, auf der Stelle. In diesem Zug möchte er mitmachen. Er gibt seine Passivität auf, um den Mädchen nahe zu kommen. Doch dies birgt auch Gefahr, denn bekanntlich gesellen sich nicht nur Satyrn und Silene oder gar Dionysos selbst als Begleiter zu den Maenaden, sondern auch all’ die Unschuldslämmer, Hasen und Zicklein, die von den wilden Frauen vor dem Verspeisen vorzugsweise in der Luft zerrissen werden.
Alleine die Begierde sie zu sehen zerreißt schon den Ahnungslosen. Später wird ihn quälen, in welches der Mädchen er sich nun verlieben sollte. Doch zunächst muss der erste Schritt gewagt werden, sich der wilden Meute nähern. Dazu verhilft ihm eine weitere neue Bekanntschaft, die mit dem Maler Elstir, der Marcel zu einem Besuch in seinem Atelier an der Strandpromenade einlädt. Begegnet war er diesem Künstler, einem guten Freund von Swann, in einem Restaurant in Rivebelle, welches er mit Robert de Saint-Loup aufsuchte. Saint-Loup, Mme de Villeparisis und Baron de Charlus, alle den Guermantes angehörig, verbringen ebenfalls die Sommerfrische an der Küste. Marcel freundet sich mit Robert an, dieser macht ihn mit der Welt von Rivebelle bekannt, die dem Jugendlichen neue Erfahrungen mit Rausch und Halbweltdamen beschert. Er scheint sich etwas vom Behütetsein zu lösen.
Die in der Normandie gelegene Küstenstädtchen Cabourg, Trouville, Dieppe waren Vorbilder zu Balbec. In dieser Gegend verbrachte Proust mehrere Kuraufenthalte. Auf dem ersten begleiteten seine Großmutter den Zehnjährigen. Der Name Balbec, unverkennbar eine Referenz an das antike Baalbek/Heliopolis, wählte Proust erst unmittelbar vor Drucklegung. In den vorhergehenden Entwürfen hieß der Ort Querqueville, Criquebec, Briquebec oder Bouillebec.
Eine schöne Illustration zu diesem zweiten Teil des zweiten Bandes der Recherche, der ja ganz profan mit „Namen und Orte: Orte“ betitelt ist, bietet ein Ausstellungskatalog des Musée de Trouville, Le Balbec normand de Marcel Proust, aus dem Jahr 2005. Er versammelt Abbildungen der Werke von Eugéne Boudin, Louis Fourneau, Adolphe Félix Cals, Paul César Helleu, alles Maler, die Proust verehrte und die zum Teil auch in seinem Werk erwähnt werden. Den Einführungstext des Kataloges verfasste der Proustbiograph Jean-Yves Tadié.