Lebensthemen
Die Seiten 101 bis 193 bieten viele Rückblicke, Erinnerungen und Spaziergänge. Wir lernen zwei sehr amüsante Personen kennen, den arroganten Bloch und den Schwätzer Legrandin.
Am besten gefällt mir, daß auf diesen Seiten die drei großen Leidenschaften Prousts oder des Erzählers zur Sprache kommen, Theater, Liebe und Literatur.
Er schildert wie ihn schon als Junge der mondäne Ruch des Theaters und vor allem der damit verbundenen Frauenwelt anzog. All’ diese gefeierten Schauspielerinnen, hübschen, noch nie verheirateten Witwen, falschen Gräfinnen und Kokotten würde der Knabe sehr gerne kennen lernen. Aber er ist noch zu jung, seine Eltern erlauben keinen Besuch im Theater, geschweige denn in der Demimonde. Da trifft es sich gut, einen Onkel besuchen zu können, der diesem Milieu gegenüber aufgeschlossen ist. Dies muss allerdings zur Unzeit geschehen. An einem Wochentag, der weniger dem verwandtschaftlichen Zusammentreffen denn anderen Stelldicheins gewidmet ist. Die List gelingt, Marcel wird empfangen und findet neben dem Onkel nicht nur die gewohnte Schale mit Marzipan und Mandarinen, sondern eine ebenso appetitliche Dame mit Perlenkollier und rosa Strickkleid. Die Bewunderung ist gegenseitig und gipfelt in einem Abschiedshandkuss des Jungen, der zum Dank eine nicht ganz ernst gemeinte Einladung zum Tee erhält. Marcel ist begeistert sowohl von der Dame in Rosa als auch von dem Eindruck, den er erzeugt hat. Nach Hause zurückgekehrt vergisst er alle elterlichen Vorbehalte und erzählt enthusiastisch von seinem Abenteuer. Die fatale Folge ist ein Abbruch der Beziehungen zu Onkel Adolphe.
Was sehr schade ist, denn wie Marcel so war auch der Onkel ein Literaturliebhaber mit einer leidenschaftlichen Abneigung gegen das Verleihen von Büchern. Vielleicht hätte er jedoch bei seinem Neffen eine Ausnahme gemacht und ihn seine Vaulabelle Bände lesen lassen? Vorerst muss der Junge sich seinen Nachschub in der Kolonialwarenhandlung Borange besorgen, deren mit Romanen und Heften behangene Eingangstür „an Mysterien und Gedankenreichtum jeder Kathedraltür überlegen“ scheint. Mit seinen Lektüren entflieht er der Sommerhitze in ein abgedunkeltes Zimmer oder unter ein Gartenzelt und durchlebt dort mehr Dramen als jemals in einem Leben zu bewältigen wären. Die Verfasser seiner Bücher, darunter vor allem sein geliebter Bergotte, verstehen es ihren Leser in eine Art Trance hinein zu versetzen, in der er alle Gefühlszustände in kurzer Lesezeit nachvollziehen kann. Zudem sensibilisiert ihn erst das Lesen für das Erleben von Landschaften, die der Schriftsteller auswählt und durch seine Kunst des Beschreibens dem Leser zeigt. Marcel träumt sich in diese Landschaften und träumt seine Geliebten gleich mit hinzu. So werden die sommerlichen Lesestunden zu Abenteuern „aus denen ich für meinen Gebrauch so sorgfältig alle mittelmäßigen Züge meiner persönlichen Existenz herausgenommen und durch ein Leben reich an Abenteuern und voll merkwürdiger Unternehmungen inmitten einer von lebendigen Wasern durchströmenden Landschaft ersetzt hatte.“
Teil dieser Traumreisen mag auch Gilberte gewesen sein, die Tochter Swanns, von der er bereits gehört hat und die mit dem Schriftsteller Bergotte persönlich bekannt ist. Der junge Marcel beginnt sich in die Tochter Swanns zu verlieben, obwohl er sie bisher nur in den Weißdornblüten herbei phantasiert hat. Kurz darauf kommt es zur wirklichen Begegnung, natürlich beim rosa blühenden Weißdornbusch, der nebenbei auch der Lieblingsstrauch von Tante Léonie ist.
Sehr gelacht habe ich über die Beschreibung der Caritas von Giotto in der Capella degli Scrovegni in Padua. Sie tritt die „Schätze der Erde unter ihre Füße … und wenn sie Gott ihr Herz in Flammen darbietet, so reicht sie es ihm eigentlich in einer Weise heraus, wie eine Köchin einen Korkenzieher aus dem Kellerfenster jemandem hinhält, der am Parterrefenster stehend ihn von ihr haben will.”
Durchaus treffend, finde ich, aber überzeugt Euch selbst.