Peter Stamm über Kunst in Nacht ist der Tag
Nie wird es mir gelingen, in ein Porträt die ganze Kraft zu legen, die in einem Kopf ist.
Alberto Giacometti
Der neue Roman von Peter Stamm besteht aus drei Teilen, denen jeweils ein Zitat voran steht. Während Shakespeare den Beginn und der Philosoph Ernst Bloch den Schluss einleiten, findet sich in der Mitte der Schweizer Künstler Alberto Giacometti mit einer Aussage, die wie ein Schlüssel zur vorliegenden Geschichte erscheint.
Oberflächlich betrachtet erzählt Nacht ist der Tag die Geschichte einer Frau, die durch einen Unfall ihr Gesicht verliert und in den Bemühungen dies wiederherzustellen zu einer neuen Identität findet. Doch hinter dieser Fassade steckt viel mehr, vor allem die Frage, was Kunst vermag.
Der erste und mit 126 Seiten umfangreichste Teil des Romans, dem Shakespeare die Diskrepanz zwischen Realität und Imagination vorgibt, schildert die Ausgangssituation. Gillian, eine Fernsehmoderatorin, gerät wegen einiger Aktfotos mit ihrem Freund Matthias in Streit. Auf der anschließenden Party trinken beide zu viel, die Heimfahrt endet in einem Unfall. Er zerstört das Leben von Matthias und Gillians Gesicht. Nicht nur Gillians äußere Erscheinung ist beschädigt. Während die Wiederherstellung ihres Gesichts in den Händen der Ärzte liegt, bleibt Gillian die Wiederherstellung ihres Selbstbildes überlassen. Doch die Außenwahrnehmung, das Bild, das sich die Anderen von uns machen, prägt ebenso unsere Identität, selbst wenn dieses Bild niemals unser Wesen vollständig erfassen kann. Dies zeigen die Filmaufnahmen einer Fernsehsendung, die Gillian auf der Suche nach ihrem verlorenen Ich ansieht. Es sind nur „fünfundzwanzig Bilder in der Sekunde, fünfundzwanzig Menschen, die nicht viel mehr gemeinsam hatten als die Personalien, die Haar- und Augenfarbe, die Größe und das Gewicht“.
In einer dieser Sendungen war Hubert ihr Gast. Ein Künstler, der Frauen bei alltäglichen Handlungen fotografierte und daraus Gemälde schuf. Der Maler versuchte Wirklichkeit, Präsens, Intimität in seiner Kunst darzustellen. Doch vermag Kunst das Wesen einer Person abzubilden? Huberts Bemühen das Ich seiner Modelle freizulegen, war vielleicht der Grund, warum Gillian den Kontakt zu ihm suchte, was schließlich zum tragischen Unfall führte.
Im zweiten Teil des Romans rückt Hubert in den Mittelpunkt. Er lehrt inzwischen an einer Kunsthochschule. Den Künstler quält eine Schaffenskrise, er kommt sich „wie ein Betrüger vor, wenn er vor den Studenten stand und ihre Arbeiten kritisierte“. Da erhält er das Angebot zu einer Ausstellung. Vor sieben Jahren zeigte er in dem Kulturzentrum im Engadin seine ersten Werke. Atmosphäre und Ambiente des verwunschenen zerbröckelnden Ortes erinnern an Stamms Erzählung „Sommergäste“ aus dem Band „Seerücken“. Die Trinkhalle des ehemaligen Kurhauses erinnert auch an die Büvetta von Nairs, dem Zentrum für Gegenwartskunst. Dort beschützen wie im Roman Lucius, Bonifatius und Emerita die Quelle.
Wie eine Emerita hatte sich auch Gillian in die Berge zurückgezogen, seit sechs Jahren lebt sie dort im Ferienhaus der Eltern. Mittlerweile nennt sie sich Jill und arbeitet als Entertainment-Managerin in einem Ferienclub. Sie war es, die Hubert bei der Kommission des Künstlerhauses ins Gespräch gebracht hatte. Es kommt zur Begegnung zwischen ihnen aber nicht zur Ausstellung. Hubert überwindet seine Krise erst sehr spät. Die Inspiration verschafft ihm nicht die neue Liebe sondern Jills Offenheit. Sie betrachten die Fotos, die die Rekonstruktion ihres Gesichts dokumentieren, vom Jetztzustand ausgehend zeigen sie jedoch einen Zerfall. Hubert entwickelt daraus eine Idee, doch das Ausstellungs-Projekt kann er nicht mehr realisieren. Alles entpuppt sich als Farce wie der Rückzug an die Kraftorte des Engadins. Dieser beschert zwar Jill wie Hubert einen Weg aus ihren Krisen, liegt aber jenseits der Wirklichkeit.
Doch was ist Wirklichkeit? Kann Kunst Wirklichkeit abbilden? Gelingt dies der Literatur?
Mir scheint diese Frage ein Motiv des Romans zu sein, eines Romans, in dem Stamm auf vielfältige Weise seine eigenen Werke und die anderer Künstler einbringt und hinterfragt.
Peter Stamm, Nacht ist der Tag, S. Fischer Verlag, 1. Aufl. 2013
Liebe Atalante,
Peter Stamms Buch hört sich Deiner Besprechung zufolge ja sehr interessant und lesenswert an. Wenn ich bloß mehr Zeit hätte…
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, diesen Wunsch kenne ich auch. Da ist es dann natürlich ein Glück auf den unterschiedlichen Blogs von unterschiedliche Bücher zu lesen. Andererseits würde ich gerne über das diskutieren, was ich in diesen Roman vielleicht nur hinein gelesen habe. Stamm führt einige Künstler als Zeugen oder als Beweise, wie man will, auf, darunter Chris Ofili und Lucian Freud.
Vielleicht liest Du das Buch doch noch irgendwann?