Der Besuch Albertines (Bd. 3, 484 ‑520)
„Die Geschöpfe, die in unserem Leben eine große Rolle gespielt haben, verlassen es nur selten mit einem Schlag und für alle Zeiten“.
Damals auf der Strandpromenade Balbecs war der 15-jährige Erzähler sofort gefangen von „einem Mädchen mit blitzenden, lachenden Augen und vollen, mattschimmernden Wangen unter einer tief in die Stirn gesetzten schwarzen Polomütze, das ein Fahrrad mit dermaßen nachlässigem Wiegen der Hüften vor sich herschob“. Dieser Albertine Simonet begegnet er noch mehrere Male bevor der Maler Elstir sie ihm vorgestellt. Die Realität ernüchtert seine schwärmerische Phantasie.
„In dem Maße, wie ich dem jungen Mädchen näherkam und sie besser kennenlernte, vollzog sich die Bekanntschaft mit ihr durch einen Subtraktionsprozeß, denn jeder einzelne der durch Phantasie und Verlangen bestimmten Teile ihres Wesens wurde durch eine Kenntnis ersetzt.“
Sie freunden sich an, gemeinsam mit den anderen Mädchen unternehmen sie Strandausflüge, doch das Ziel seiner Liebessehnsucht erreicht Marcel nicht. Eine Übernachtung Albertines in Marcels Hotel und eine geheim gehaltene Einladung auf ihr Zimmer ermutigt den scheuen Selbstzweifler. Bis auf die Bettkante hat sie ihn an sich heran gelassen doch seinen Kuss wehrt sie ab. Ihr Klingeln beendet die Intimität.
Über ein Jahr ist vergangen. Marcel liegt im Bett, der nebelverhangene Herbstmorgen und eine heiße Schokolade erinnern ihn an seinen Besuch bei Saint-Loup. Sehnsucht und Melancholie machen ihn zu „einem fröstelnden Adam auf der Suche (…) nach einer häuslichen Eva“. Diese scheint in Aussicht. Saint-Loup hatte für ihn ein Rendezvous mit Mme de Stermaria angebahnt. Gelangweilt erwartet er ihre Antwort auf seine Diner-Einladung,
„müde, ergeben, auf Stunden noch mit seiner ewigwährenden Aufgabe beschäftigt, wob der graue Tag an seinen Perlmuttposamenten und ich stellte mir betrübt vor, wie ich mit ihm allein zusammenbleiben würde“.
Da erhält er überraschenden Besuch von Albertine. Nun sitzt sie auf seiner Bettkante. Ihr Anblick weckt in ihm die Erinnerung an Balbec und offenbart die vergangene Zeit, er „weiß nicht, ob dann Sehnsucht nach Balbec oder nach ihr mich erfüllte“. Albertine hat sich verändert, sie erscheint erfahrener. Gegen seinen Kuss würde sie sich wohl nicht mehr wehren. Marcel glaubt, sie nicht mehr zu lieben und ist davon überzeugt, daß er ihr gleichgültig sei. Es besteht zwischen ihnen keine Freundschaft mehr, die sein Begehren zerstören könnte. Bilder von Adam und Eva und liebeslustigen Eroten aus Herkulaneum sublimieren seine sexuelle Erregung, die er schließlich freimütig gesteht,
„jene Lust (…), die mein Verlangen erfüllt und mich dadurch von dieser Phantasterei befreit hätte, die ich aber genaussogern bei jeder beliebigen anderen hübschen Frau gesucht hätte“.
Er scheint kurz vor seinem Ziel, Albertine liegt bereits neben ihm, da erscheint Françoise obwohl niemand geklingelt hat. Doch die Köchin, die in Abwesenheit seiner Eltern wie eine Gouvernante über ihn wacht, verlässt wieder das Zimmer und gibt Marcel Gelegenheit seine Gefühle gegenüber Albertine zu sondieren. Albertine, zunächst verführerische Erscheinung am Strand, wurde schon in Balbec für ihn zu einer wirklichen allerdings unberührbaren Frau, nun sitzt sie als Verführbare neben ihm.
„Das Wissen, Albertines Wangen küssen zu können, (war) für mich vielleicht ein noch größeres Vergnügen als jenes, sie wirklich zu küssen“. Die erwartete Diskrepanz zwischen Phantasie und der profanen Wirklichkeit erfüllt sich.
„In dem Maße, wie mein Mund begann, sich den Wangen zu nähern, die zu küssen meine Blicke ihm vorgeschlagen hatten, sahen diese zunächst, indem sie sich verschoben, neue Wangen; auch der Hals wirkte aus größerer Nähe und wie durch eine Lupe betrachtet in seiner Grobkörnigkeit so robust, daß dadurch der Charakter des Gesichts sich ändert.“
Würde es helfen die Augen zu schließen? Wohl kaum, denn
„die Lippen aber, die dafür gemacht sind, dem Gaumen den Geschmack verlockender Dinge zuzuführen, müssen sich, ohne ihren Irrtum zu begreifen und sich ihre Enttäuschung einzugestehen, damit begnügen, auf der Oberfläche umherzutappen und sich an der Verschlossenheit der undurchdringlichen, begehrten Wange zu stoßen“.