Liebe und Leid in Michael Kumpfmüllers Kafka-Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“
„Sie sitzen am Strand und erzählen sich Geschichten vom Warten. Auch der Doktor hat sein halbes Leben gewartet, zumindest ist das im Nachhinein sein Gefühl, man wartet und glaubt nicht daran, dass noch jemand kommt, und auf einmal ist genau das geschehen.“
Eines vorweg, man muss kein Kafka-Kenner sein um diesen Roman zu lesen, auch wenn Michael Kumpfmüller diesen Dichter zur Hauptfigur macht. Der Name Kafka taucht in diesem Buch gar nicht erst auf, es ist immer der Doktor oder Franz. Dessen letztes Lebensjahr schildert Kumpfmüller mit allem durch die Tuberkulose verursachtem Leid, aber auch mit allem Glück, das die Liebe schenkt.
Kommen, Bleiben, Gehen, die drei mit annähernd 80 Seiten gleich großen Teile des Romans erzählen mit suggestiver Kraft die Geschichte einer großen Liebe, der zwischen Franz Kafka und Dora Diamant.
Sie begegnen sich 1923 im Ostseebad Müritz, wo Franz seine Schwester Elli und deren Kinder besucht. Sommerfrische und Seeluft sollen seine Atemnot lindern. Die Ferienwohnung liegt neben einem Erholungsheim für jüdische Kinder. Franz beobachtet deren Treiben im Garten und am Strand und lernt so Tile Rössler, eine der jungen Betreuerinnen, kennen. Tile lädt ihn zum gemeinsamen Abendessen im großen Speisesaal ein, sie zeigt ihm das Haus. Dort begegnet er Dora, die ihn schon am Strand ins Auge gefasst hatte, Franz jedoch trifft es wie ein Blitz.
Überraschend schnell entsteht der Wunsch zusammen zu bleiben. Die bisherigen Liebesbeziehungen des 40jährigen Dichter scheiterten an seiner Angst vor Nähe und Vereinnahmung. Dora Diamant durchbricht diese Distanz. Die 25jährige stammt aus einer jüdische-orthodoxen Familie, ihre Heimat im Osten hat sie verlassen und lebt nun in Berlin. Dorthin will auch Franz, zu ihr, weg aus dem Elternhaus, weg von Prag. Sie wollen einander nahe sein.
Doch die Krankheit zwingt das Paar zur Trennung. Franz erholt sich bei Ottla in Schelesen, während Dora in Berlin alles für seinen Umzug vorbereitet. Schließlich bezieht Franz sein erstes Zimmer, Dora besucht ihn täglich, sie leben fast zusammen bis auf die Nächte. Die Umstände machen es ihnen nicht leicht. Die Inflation steigert die Preise schneller als Franz’ Rente aus Prag eintrifft, der Antisemitismus verstärkt sich und die Vermieterin stört sich am Verhältnis der beiden. So folgen weitere Umzüge bis sie schließlich gemeinsam in einem Zimmer leben dürfen. Doch die Tuberkulose verhindert das gemeinsame Glück. Der angereiste Onkel interveniert, Franz muss raus aus der schlechten Berliner Luft, zunächst ins Elternhaus nach Prag. Dora, die während dieser gemeinsamen Monate seinen Freund Max kennlernt und der Familie näher kommt, bleibt zurück.
Es ist bereits die zweite Trennung für beide, die doch erst so kurze Zeit einander haben. Franz muss im Elternhaus warten. Er fühlt sich alleine und fehl am Platz in der kleinen Kammer des Hausfräuleins, die für diesen Notfall freigemacht wurde. Auch wenn er sich nach Dora sehnt, kann er sie nicht hier haben, nicht in diesem Haus in dieser Situation, die Scham scheint ihm dies zu verwehren. Schließlich hat der Onkel einen Platz für den Kranken ausgemacht. Ein Sanatorium in Ortmann bei Wien wird Franz aufnehmen. Auch Dora ist nun wieder bei ihm. Doch alles nützt nichts. Sein Zustand zwingt ihn in die Klinik, aus deren Bedrückungen ihn Dora nach einiger Zeit befreit. Sie scheint das Ende zu ahnen, die letzten Tage sollen ihnen gehören. Dora, die so gerne sein Lebensmensch wäre wird zum Sterbemenschen für Kafka, sie begleitet ihn, nicht nur in seiner Krankheit, auch in seinen Gefühlen, seinen Selbstzweifeln. In Kierling findet sie ein kleines Haus, das auch Zimmer für Angehörige bietet. So bleibt sie ihm nahe bis zum Schluss.
Kumpfmüller gelingt es in seinem Roman die Phasen dieser großen, wenn auch kurzen Liebe intensiv heraufzubeschwören. Seine Empathie überträgt sich auf den Leser, der das Glück und das Leid dieses Paares nachempfindet. Das Paar ist die Hauptfigur des Romans, Sie und Er. Wir begegnen aber auch Kafkas Umfeld, seinen Freunden Max Brod und Robert Klopstock, den Schwestern Elli und Ottla. Auch Verweise auf Kafkas Werke, vor allem die seiner letzten Jahre, fehlen nicht.
„Die Herrlichkeit des Lebens“ ist eine im besten Sinne des Wortes sentimentale Erinnerung an Kafkas letztes Jahr.
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Dora Diamant kehrte nach Berlin zurück und wurde Schauspielerin. Sie hatte mehrere Arrangements an deutschen Bühnen, floh 1936 in die Sowjetunion und lebte ab 1940 in England. Sie überlebte Franz Kafka um 28 Jahre. Ihre Erinnerungen an diese Liebe hielt sie unter dem Titel „Mein Leben mit Franz Kafka“ fest. Sie finden sich in der bei Wagenbach erschienen Anthologie „Als Kafka mir entgegenkam …“.
Die amerikanische Autorin Kathie Diamant, die nicht mit Dora Diamant verwandt ist, hat auf der Suche nach den verschollenen Kafka-Dokumenten aus Doras Besitz das Kafka-Projekt gegründet. Aus dieser Recherche entstand ihre 2013 in deutscher Übersetzung erschienene Biographie „Kafkas letzte Liebe“.
Agnes Bidmon interviewte Michael Kumpfmüller zu seinem Roman für die Zeitschrift Schauinsblau.
Michael Kumpfmüller, Die Herrlichkeit de Lebens, S. Fischer Verlag, 4. Aufl. 2013
Ich bin großer Kafka-Fan — anscheinend MUSS ich mir das nun einfach auch zu Gemüte führen!:) Schöne Rezension! liebe Grüße von urwort.com
Herzlich willkommen auf meiner Seite!
Dieser Roman ist tatsächlich meine beste Lektüre in den letzten Wochen. Ich kann ihn nur empfehlen.