Howard Axelrod erzählt in „Allein in den Wäldern“ von der Suche nach sich selbst
„Und ich ahnte nicht, dass mich nach Erscheinen des Artikels ein Verleger kontaktieren würde, um mich zu fragen, ob ich nicht ein Buch schreiben wollte. Ob ich nicht irgendwelche Geschichten über Leute gehört hätte, die ich gerne erzählen würde. Genau dieses Gespräch brachte mich dann auf die Idee, meine eigene Geschichte zu erzählen – von meinem Unfall, den Jahren in der Einsamkeit und meiner langwierigen, merkwürdigen Suche nach meinem Platz in der Welt, nach einem neuen Verständnis der Realität, nach einer neuen Perspektive.“
Dieses Bekenntnis im letzten Kapitel des vorliegenden Buchs beschreibt besser als der Titel, daß „Allein in den Wäldern“ nicht nur vom (Über)leben in der Natur erzählt. Howard Axelrod schildert in seinem als Memoir zu bezeichnendem Werk keine moderne Version von Thoreaus „Walden“ , auch wenn er diesen Klassiker zitiert.
Parallelen im Verhalten der beiden Protagonisten bestehen durchaus. Wie Thoreau so ist auch Axelrod kein Selbstversorger und den Launen der Natur nicht ganz und gar ausgesetzt wie ein einsamer Naturbursche fern der Zivilisation. Diese ist mühelos zu erreichen, von Axelrod sogar mit dem eigenen Auto, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen oder auch mal einzukehren. Während Thoreau bisweilen Besuch von Familie und Freunden erhielt, hält Axelrod telefonisch den sporadischen Kontakt. Hart wird es nur im Winter, wenn Nat nicht rechtzeitig mit dem Schneeschieber kommt oder ein Nachmittagsspaziergang in der Dunkelheit endet.
In drei Teilen seines Buchs, das Ende der Neunziger Jahre spielt, schildert Howard Axelrod seine Jahre des Erwachsenwerdens zwischen 20 und 27, von denen er die beiden letzten alleine in einem abgelegenen Haus in den Wiesen und Wäldern Vermonts verbringt. In den Bericht über die Erfahrungen der letzten Monate fügt er weiter zurückliegende Erlebnisse ein. Er verbindet die beiden Stränge in alternierender Weise, was Abwechslung erzeugt und dank gut gesetzter Schnitte auch Spannung. Axelrod versteht sein Metier. Als Dozent für Kreatives Schreiben unterrichtete er an verschiedenen amerikanischen Universitäten und Instituten.
Im Vordergrund von „Allein in den Wäldern“ steht weniger die Auseinandersetzung mit der Natur, sondern die Bewältigung zweier großen Verletzungen, der Verlust eines Auges und den einer großen Liebe. Mit seinem ersten Trauma konfrontiert Axelrod den Leser gleich zu Beginn. Er schildert den Unfall, die körperlichen und seelischen Konsequenzen. Sein Hadern sich mit diesem Ereignis auseinander zu setzen, entfremdet ihn nicht nur von seinen Mitmenschen, sondern vor allem von sich selbst. Diese Erfahrungen schildert der Autor nachvollziehbar und mit viel Gefühl, manchmal jedoch nicht frei von Larmoyanz. „Da war die schwammige Trägheit des Lids, das Gefühl der Ermüdung im Auge selbst, und dann noch dieser innere Schmerz, mittlerweile kein anhaltendes Stechen mehr wie von einem Wespenstich, sondern dichter, mit einer Art dumpfen Vibrieren verbunden. Die Ärzte hatten mir lediglich extra starkes Paracetamol verschrieben, was im Grunde ein schlechter Scherz war. Konnte ich nicht wenigstens anständige Medikamente bekommen?“
Feinfühlig sind seine Naturbilder, mit denen es ihm gut gelingt seine Empfindungen in der Einsamkeit darzustellen, sei es das Donnergrollen, welches ihn im Haus begrüßt, die Äpfel, die ihm ihre Pflückreife signalisieren oder die Schnecken, die ihm mit ihrem Tempo seine Grenzen zeigen.
Die eigenen Grenzen und ihre Überwindung sind wesentliche Themen dieses Memoirs. Axelrod beschreibt dies wie in einem Entwicklungsroman. Durch seinen Einzug in das abgelegene Haus begibt er sich fern vertrauter Sicherheit in eigene Verantwortung. Sogar das Notfallhandbuch, welches ihm der Besitzer hinterlässt, wirft er ins Feuer. Frei von Verhaltensregeln und Vorsichtsmaßnahmen will Axelrod eigene Erfahrungen machen. Er sucht die Einsamkeit, kann, wie er bald bemerkt, dennoch nicht alleine sein. Zuvor will er sich selbst finden, „damit ich niemanden mehr verletzen oder mich hinter jemand anderem verstecken konnte, damit ich mich nicht länger in einer Version meiner selbst aufhielt, die keinen Bestand hat“.
Grund zu diesem Bedürfnis gibt ihm seine unerfüllte Liebe zu Milena, einer österreichischen Studentin, die er während seines Stipendiums in Italien kennenlernte. Auch diese Begegnung schildert der Autor auf sehr sensible Weise. Jedoch mischen sich in die einfühlsamen Passagen auch hier Wehleidigkeit und Klischee. Letzteres zeigt sich beim gezeichneten Italienbild. „Also mietete ich mir ein Zimmer in einem Haus im hügeligen Hinterland von Bologna. Durchs Fenster blickte ich auf die Weinberge, die bis zu einer zweispurigen Straße abfielen, und auf der anderen Seite dieser Straße erstreckte sich die Landschaft weiter über eine Anhöhe, über ein Patchwork aus verschiedenen bewirtschafteten Feldern. Einige waren gleichmäßig grün, andere bestanden aus regelmäßigen Reihen von Weinreben, wieder andere waren bedeckt von schartigem Erdreich, von dem der Wind gelegentlich Staub aufwirbelte.“
Dennoch habe ich die mit Phantasie angereicherten Erinnerungen, die Axelrod allein in den Wäldern weckt, mit Interesse gelesen. Er versteht es in verständlicher Form seine Empfindungen zu schildern und erzeugt vor allem durch seine Ehrlichkeit beim Leser Empathie.
„Allein in den Wäldern“ ist, was die Auffassung von Einsamkeit in der Natur angeht, ‑das Original spricht von „Solitude“-, typisch amerikanisch. Das zeigt nicht nur der Blick zurück auf Thoreau, sondern auch der auf moderne Adepten wie Anna Quindlen. Wer wissen will, wie es ist, fern der Zivilisation ganz auf sich und die Natur zurückgeworfen zu sein, findet in der alpenländischen Literatur bessere Beispiele. Neben dem Klassiker „Die Wand“ von Marlen Haushofer und dem modernen „Wald“ von Doris Knecht, seien vor allem Jürgen Königs Bericht „Medalges“ über sein Jahr auf einer Hochalm und die grandiose Dystopie „Ich bin die Zukunft“ des österreichischen Schriftstellers Erwin Uhrmann genannt.