Eros und Thanatos

Über den Wald als Ort des Werdens und Vergehens schreibt Anaïs Barbeau-Lavalette in „Sie und der Wald“

Ich las­se mich vom Wald auf­sau­gen. Spü­re, dass ich zu die­sem Bo­den da­zu­ge­hö­ren kann. Zu der Flä­che zwi­schen zwei Bä­chen, der Bie­gung hin­ter dem Fel­sen, der aus­sieht wie ein Ge­sicht, zu dem Erd­pfad, der sich zum Gip­fel schlän­gelt. Ich wer­de für al­les durch­läs­sig, das sich be­wegt, das bebt. Aber nicht mein Kopf in­ter­es­siert sich da­für, son­dern mein Blut. Der feuch­te, süß­li­che Duft der Bal­sam­tan­ne, der er­di­ge, in­ten­si­ve Ge­ruch der Ei­chen. Der per­fekt phra­sier­te Tanz des Perl­farns, der sei­nem Na­men – Ono­clea sen­si­bi­lis – al­le Eh­re macht, wenn er mit sei­nen fi­li­gra­nen Zwei­gen in ei­ner Wel­le von oben nach un­ten so ele­gant mit der Reg­lo­sig­keit bricht. Al­les ist gleich­zei­tig hauch­zart und üp­pig. Ich las­se mich ver­schlu­cken. Kei­ne Haut mehr zwi­schen mir und den Bäu­men. Ich set­ze mich auf ei­nen to­ten Baum, den das Un­wet­ter aus der Er­de ge­ris­sen hat. Die Ber­ge sind zer­furcht von die­sen ge­wal­ti­gen Nar­ben, wie lau­ter mo­nu­men­ta­le Knie­fäl­le vor dem lei­sen Wü­ten der jüngs­ten Zeit. Ein Wald oh­ne ge­ra­de We­ge ist ein glück­li­cher Wald. Er ge­deiht präch­tig, wenn man im Zick­zack zwi­schen den Bäu­men und to­ten Stümp­fen lau­fen muss, in de­nen neu­es Le­ben ge­deiht. Sa­la­man­dern und un­zäh­li­gen In­sek­ten bie­ten sie Un­ter­schlupf und Nah­rung. Ein to­ter Baum trägt ge­nau­so zum Lauf des Le­bens bei wie ein lebendiger.“

Wer mein Blog ver­folgt, weiß, daß ich sehr ger­ne Bü­cher über Men­schen le­se, die sich der Na­tur aus­set­zen. Sie dient dem Rück­zug, wie bei Ho­ward Axel­rod und Do­ris Knecht oder ei­nem Ex­pe­ri­ment, wie es Jür­gen Kö­nig auf ei­ner Hoch­alm un­ter­nahm. Manch­mal liegt in ihr der ein­zi­ge Ort zum Über­le­ben, wie in Er­win Uhr­manns span­nen­der Dys­to­pie „Ich bin die Zu­kunft“.

Ei­ne sol­che ret­ten­de Zu­flucht bie­tet die Na­tur der in Mon­tré­al ge­bo­re­nen Film­re­gis­seu­rin, Dreh­buch­au­to­rin und Schrift­stel­le­rin Anaïs Bar­beau-La­va­let­te. Zu Be­ginn der Co­ro­na-Epi­de­mie zieht sie in die ka­na­di­schen Wäl­der. Dort steht das Blaue Haus, wo sie ge­mein­sam mit ih­rem Mann, ei­nem Freun­des­paar und fünf Kin­dern die Zeit der Iso­la­ti­on über­ste­hen will. Nicht weit ent­fernt, aber doch weit ge­nug in Zei­ten des Ab­stands, ist Bar­beau-La­va­let­te im Ro­ten Haus auf­ge­wach­sen, wo ih­re El­tern nach wie vor le­ben. „Sie und der Wald“ er­zählt folg­lich von ei­ner au­then­ti­schen Be­ge­ben­heit. Wer je­doch denkt, es han­de­le sich um ei­nen Be­richt über die Her­aus­for­de­run­gen, die Zi­vi­li­sa­ti­ons­fer­ne „Eros und Tha­na­tos“ weiterlesen

Das Glück beim Betrachten der Biber

Kerstin Ekman erkundet das Hundeherz


„Lag er lan­ge Zeit still, sah er manch­mal ei­nen im Son­nen­licht glän­zen­den Bi­ber­schä­del auf ge­ra­dem Kurs durchs Was­ser. Er folg­te ihm im­mer mit dem Blick, blieb aber gleich­mü­tig lie­gen (…) Die Bi­ber und er hat­ten nichts mit­ein­an­der zu schaf­fen. Doch sie wa­ren da, wa­ren in der­sel­ben Abend­son­ne, am sel­ben schwar­zen Was­ser, das im Son­nen­licht glüh­te. Er hat­te ih­re Ge­räu­sche gern, ih­re Gesellschaft.“

Bei die­sem Buch ge­schah es zum ers­ten Mal, ich las den Schluss zu­erst. Ich muss­te si­cher sein, daß die Ge­schich­te gut aus­geht für den Wel­pen, der sich im Wald ver­irr­te. Erst dann konn­te ich ge­mein­sam mit ihm die kal­te Um­ge­bung er­kun­den, mich un­ter ei­ner Wur­zel schla­fen le­gen, eis­kal­te Frost­näch­te und boh­ren­den Hun­ger überstehen.

Sich sprei­zen­de Äs­te, Pfo­ten und Kral­len. Sich du­cken­de Baum­stümp­fe mit Rü­cken­zot­teln und Oh­ren. Schla­fen­de Stein­rü­cken. Schla­fen, an feuch­ten Flech­ten ge­schmiegt, zu Stein ge­fro­ren und schwin­de­lig. Irr­lich­tern­de Punk­te vor Au­gen. Hun­ger­schmerz und be­täu­ben­de Angst. Weg­schla­fen. In die Son­ne schla­fen. An Son­nen­zit­zen sau­gen. Weg­wär­men. Sau­gen. Wär­me saugen.“

Ich er­kun­de­te die Na­tur durch die Sin­ne ei­nes Hun­des. Er riecht, stö­bert auf, rät­selt und lernt. Kers­tin Ek­man fin­det für al­le die­se Emp­fin­dun­gen und Re­ak­tio­nen ei­ne poe­ti­sche Spra­che, die ganz na­he ist an den Ge­räu­schen, Düf­ten und Far­ben der Na­tur. Fast sind es Hun­de­wor­te, Hun­de­ge­dan­ken, ein Hun­de­be­wusst­sein, das uns die Re­ak­tio­nen die­ses Tie­res nä­her bringen.

Sei­ne Pfo­ten fin­gen zu lau­fen an. Auf der glat­ten Flä­che drau­ßen wur­de sein Kör­per leicht. Er ver­fiel in ei­nen schnel­len, rhyth­mi­schen Trab und nach ei­ner Wei­le ins Ren­nen. Er rann­te aus rei­nem Spaß an der Freu­de. In sei­nem Kör­per san­gen der Mond­schein, die Käl­te und die Ge­schwin­dig­keit. Es gab kei­ne Gren­ze, kei­nen Wald, kein Ufer.“

Doch wir wis­sen, es ist ei­ne Er­zäh­le­rin, die sich in das Ge­schöpf hin­ein­ver­setzt. Als Haus­tier ge­bo­ren ist es durch Un­acht­sam­keit in die Wald­ein­sam­keit ge­ra­ten und nun auf sich al­lei­ne ge­stellt. Der Wel­pe ent­deckt schnell, wo er trin­ken kann und was den Hun­ger stillt. Ein Elch­ka­da­ver si­chert ihm das Über­le­ben. Im Ver­lauf ei­nes Jah­res lernt er das Wich­tigs­te, wann er sich weg zu du­cken hat und wann er sich be­haup­ten muss. Be­vor der Win­ter wie­der ein­bricht kommt es je­doch zu ei­ner Be­geg­nung, die aus dem ver­wil­der­ten Grau­en wie­der ei­nen Men­schen­hund macht.

Der Mann gab ein Ge­räusch von sich, er at­me­te aus. Der Graue be­weg­te er­neut den Schwanz. Er hielt den Kopf schräg und hat­te die Oh­ren ge­senkt. Sie la­gen jetzt ein­ge­schla­gen zu bei­den Sei­ten der fla­chen Stirn. Er wa­ckel­te mit dem Kör­per und be­weg­te sich im Halb­kreis auf den Mann zu, so­dass er sich ihm nä­her­te und zu­gleich auf Ab­stand blieb. Ob­wohl un­ge­übt, wirk­te er un­ver­hoh­len freund­lich. Das ge­sträub­te Rü­cken­haar hat­te sich ge­legt, sei­ne Wür­de und Fas­sung hat­te er aber nicht ver­lo­ren. Der halb ent­roll­te Schwanz­krin­gel be­weg­te sich.“

Trotz die­ses gu­ten En­des fin­det sich in kei­ner Zei­le Kitsch. Kers­tin Ek­man fühlt sich in ih­ren Hel­den sehr ge­nau ein und über­setzt dies in ih­re Wald­poe­sie. In­dem man liest taucht man tief ein in das grü­ne Ge­knurpschel, Ge­zie­pe und Ge­flat­ter. Lang­sam liest man die Sät­ze, vor­sich­tig um kein Ge­räusch zu ma­chen und zu stö­ren. Gleich­zei­tig wird man von ei­nem un­ge­heu­ren Sog er­fasst, atem­los, hechelnd.

Ein Buch, das ei­nem Lust auf den Wald macht, auf ei­nen Hund und auf die poe­ti­sche Spra­che die­ser schwe­di­schen Au­torin, die Hed­wig M. Bin­der kunst­voll ins Deut­sche über­tra­gen hat.