Der Tennisballwecker des Zeitungsdompteurs

Existenzialistisches Grauen in Markus Orths’ neuem Roman „Die Tarnkappe

Man ist in den Knast des Le­bens ge­bo­ren und ti­gert dar­in auf und ab, le­bens­läng­lich, und war­tet auf den Tag der Ent­las­sung, den Tod, man war­tet mit Schre­cken dar­auf und mit Sehn­sucht.“ (S. 100)

Auch Si­mon Bloch war­tet nur noch dar­auf, daß ihm sein ei­ge­ner Zie­gel auf den Kopf fällt. Der 45-jäh­ri­ge, vor kur­zem ver­wit­wet und als Be­schwer­de­be­schwich­ti­ger tä­tig, hat be­reits mit sei­nem Le­ben ab­ge­schlos­sen. Als ein­zi­ges Über­ra­schungs­mo­ment bleibt ihm die Rei­hen­fol­ge der ein­zeln ge­fal­te­ten Zei­tungs­blät­ter bei der mor­gend­li­chen Lek­tü­re im Bus.

Vor et­li­chen Jah­ren be­reits hat­te er sei­nen Le­bens­traum vom Film­kom­po­nis­ten auf­ge­ge­ben. Da­mals, bei der Be­ob­ach­tung ei­nes Paa­res, das in „ödes­ter Mit­tel­mä­ßig­keit“ bei Ap­fel­saft­schor­le und Kirsch-Ba­na­nen­saft sei­nen Im­pro­vi­sa­tio­nen in der Jazz­knei­pe Wal­fisch lausch­te. Er fühl­te sich ent­larvt, er­kann­te „Der Ten­nis­ball­we­cker des Zei­tungs­domp­teurs“ weiterlesen

Tschick und Maik auf Lada-Tour

Skurrile Abenteuer zweier Jungs in Wolfgang Herrndorfs neuem Roman „Tschick

Dies ist ein gu­tes Buch, ein un­ter­halt­sa­mes Buch, flott und amü­sant, an man­chen Stel­len nach­denk­lich. Ein Buch für Ju­gend­li­che, wel­che den ewi­gen Vam­pirsch­mon­zes leid sind. Ein Buch eben nicht nur für Mäd­chen, son­dern auch für Jungs. Denn um die­se geht es.

Ge­nau­er, um zwei Vier­zehn­jäh­ri­ge, die im wirk­lich nicht leich­ten Zu­stand der Pu­ber­tät ih­re Iden­ti­täts­su­che be­wäl­ti­gen. Bei­de sind Au­ßen­sei­ter. Aus un­ter­schied­li­chen Grün­den sind sie we­der in ih­rer Klas­se noch in ei­ner Cli­que in­te­griert und be­sit­zen auch kei­nen sta­bi­len fa­mi­liä­ren Rück­halt. Sie kämp­fen mit den Lei­den der un­er­wi­der­ten ers­ten Lie­be, trin­ken sich die Schu­le schön und wol­len nie so wer­den wie ih­re El­tern. Sie glau­ben, an­ders zu sein als al­le an­de­ren, und dies führt sie in den gro­ßen Fe­ri­en schließ­lich zueinander.

Der pas­si­ve Ma­ik, der Haus, Swim­ming­pool, Tief­kühl­tru­he und vor al­lem sich „Tschick und Ma­ik auf La­da-Tour“ weiterlesen

Man hört nur mit den Ohren gut

Tausendundeine birmanische Erbaulichkeit serviert von Jan-Philipp Sendker — Literaturkreis 2/2011

Ich dach­te ja schon al­les hin­ter mir zu ha­ben seit den einst im Fran­zö­sisch­un­ter­richt zwangs­wei­se ver­ord­ne­ten Weis­hei­ten ei­nes ge­wis­sen klei­nen Prin­zen und den Nai­vi­tä­ten ei­nes be­zopf­ten Best­sel­le­re­so­te­ri­kers. Aber, so wür­den mir die Adep­ten die­ser Ver­kün­der zu­ru­fen, die Prü­fun­gen hö­ren nie­mals auf! Folg­lich er­war­te­te mich im ak­tu­el­len Buch un­se­res Li­te­ra­tur­krei­ses ei­ne neue Her­aus­for­de­rung. „Das Her­zen­hö­ren“, die­ser Ti­tel klang in mei­nen Oh­ren be­reits ver­däch­tig rühr­se­lig, auch das hell­blau apri­cot­far­be­ne, ei­ne ge­wis­se Süß­lich­keit aus­strah­len­de Co­ver und der ali­te­ra­ri­sche Gold­mann-Ver­lag tru­gen nicht ge­ra­de er­heb­lich zur Zu­ver­sicht bei.

Der Klap­pen­text kün­digt ei­ne Ge­schich­te vol­ler Wun­der und Weis­hei­ten an, die Su­che nach der Ver­gan­gen­heit des Va­ters und dem Ge­heim­nis der ewi­gen Lie­be. Die­ses Ge­heim­nis trägt als Span­nungs­bo­gen die ge­sam­te Handlung.

Ein äl­te­rer Mann bir­ma­ni­scher Her­kunft ver­schwin­det aus sei­ner ge­si­cher­ten „Man hört nur mit den Oh­ren gut“ weiterlesen

Träume im Stauburwald

Schöne Sprüche in Lucy Frickes „Ich habe Freunde mitgebracht

Am An­fang steht die Flucht. Auf ei­ner knap­pen Sei­te be­geg­net der Le­ser vier Per­so­nen auf dem Weg nach Nor­den, zwei an­schei­nend schwer ver­letzt. Ei­ne Road­sto­ry ent­wi­ckelt sich den­noch nicht, die Ge­schich­te ist in der Rück­schau an­ge­legt. Zu­dem wird die Fahrt wohl eher eng als ra­sant ge­we­sen sein, denn sie er­folg­te in ei­nem mit vier Per­so­nen voll be­setz­ten VW Lu­po und das En­de ist an­ders als erträumt.

Wir ler­nen die vier Freun­de ken­nen. Mar­tha und Hen­ning sind ein Paar. Bet­ty, die beim Film als Skript­girl ar­bei­tet, ist mit Mar­tha be­freun­det, Jon, ein er­folg­lo­ser Schau­spie­ler, mit Hen­ning. Al­le ver­bin­det der Wunsch ih­rer bis­he­ri­gen Exis­tenz zu ent­flie­hen. Ganz tra­di­tio­nell träu­men die Frau­en vom per­sön­li­chen Glück, wel­ches sie in ei­nem Kind oder in ei­ner er­füll­ten Lie­bes­be­zie­hung ver­mu­ten. Die bei­den Män­ner er­hof­fen sich hin­ge­gen be­ruf­li­chen Erfolg.

In schnel­lem Wech­sel rich­tet Fri­cke den Fo­kus auf je­weils ei­ne der Haupt­per­so­nen und skiz­ziert mit rück­halt­los ehr­li­chen, oft sar­kas­ti­schen Be­mer­kun­gen auf we­ni­gen Sei­ten de­ren Welt­sicht. Die ent­täusch­te Bet­ty ver­ach­tet ih­ren Nach­barn, der ist „kei­ne 25 und hängt schon am Le­ben“, die Tren­nung von „Träu­me im Stau­bur­wald“ weiterlesen

Wenn der Vater mit dem Sohne

Eine gelungene Moselreise des jungen Hanns-Josef Ortheil

Wä­re es be­reits Früh­ling, wür­de ich am liebs­ten so­fort zu ei­ner klei­nen Mo­sel­wan­de­rung auf­bre­chen. Es wä­re ei­ne Nost­al­gie­fahrt, denn in Trier auf­ge­wach­sen und in ei­nem Mo­sel­städt­chen ge­bo­ren ver­brach­te ich vie­le Jah­re zwi­schen Rö­mern, Wein­ber­gen und Burgen.

Im vor­lie­gen­den Buch mit dem schnör­kel­lo­sen Ti­tel „Die Mo­sel­rei­se“ han­delt es sich um ein Rei­se­ta­ge­buch, wel­ches der jun­ge Hanns-Jo­sef Ort­heil im Jahr 1963 ver­fasst hat. Der Text ent­stand aus Be­schrei­bun­gen, Auf­zeich­nun­gen und Ge­sprächs­no­ti­zen, die der Elf­jäh­ri­gen am En­de der Rei­se zu­sam­men­füg­te. Ort­heil be­schreibt die Ge­ne­se des Tex­tes, der auch als Er­gän­zung sei­nes au­to­bio­gra­phi­schen Ro­mans „Die Er­fin­dung des Le­bens“ ge­le­sen wer­den kann, aus­führ­lich im Vor- und Nachwort.

Die Rei­se be­ginnt mit ei­ner Bahn­fahrt nach Ko­blenz. Sei­ne ver­trau­te Hei­mat­stadt Köln mit dem präch­ti­gen Dom und der ge­lieb­ten Mut­ter lässt der Jun­ge zu­rück und tauscht sie ge­gen „Wenn der Va­ter mit dem Soh­ne“ weiterlesen

Vatersorgen

Vermurkste Winterreise in Thomas Hettches Roman „Die Liebe der Väter

Ein Va­ter reist mit sei­ner Toch­ter nach Sylt, um die Win­ter­fe­ri­en im an­ge­mie­te­ten Reet­dach­do­mi­zil von Be­kann­ten zu ver­brin­gen. Das dor­ti­ge Kli­ma ist zu die­ser Jah­res­zeit rauh und un­ge­müt­lich und lässt die ent­ste­hen­de At­mo­sphä­re in der be­son­de­ren Fa­mi­li­en­kon­stel­la­ti­on zwi­schen dem un­ver­hei­ra­te­ten Va­ter und sei­ner zwi­schen den sich nicht lie­ben­den El­tern zer­rie­be­nen Toch­ter be­reits er­ah­nen. Zu­dem spielt die Hand­lung aus­ge­rech­net an den Ta­gen, de­ren Näch­te eben­falls die­ses un­heil­ver­hei­ßen­de Prä­fix tragen.

Die drei­zehn­jäh­ri­ge An­ni­ka und Pe­ter ver­le­ben die­se dem All­tag ab­ge­run­ge­ne ge­mein­sa­me Zeit als Zaun­gäs­te in ei­ner Bil­der­buch­fa­mi­lie aus Va­ter, Mut­ter, Toch­ter, Sohn und BMW. Zwi­schen Su­san­ne, der Ehe­frau des Or­tho­pä­den Achim, und Pe­ter be­stand einst ei­ne Schü­ler­lie­be, die sich „Va­ter­sor­gen“ weiterlesen

Voyeuristisches Putzen II.

Schweinereien in Anne B. Ragde, Das Lügenhaus – Literaturkreis 12/2010

Wenn Müt­ter im Ster­ben lie­gen ver­sam­meln sich in der Re­gel ver­lo­re­ne, ver­stos­se­ne und ge­lieb­te Kin­der an ih­rem Bett. Im vor­lie­gen­den Ro­man steht die­ses in ei­ner Kli­nik in Trond­heim, ein gan­zes Stück weit ent­fernt von dem Hof der Fa­mi­lie in By­ne­set. Die­sen be­woh­nen Mut­ter, Va­ter und der al­lein­ste­hen­de Sohn Tor, der ein in­ni­ges Ver­hält­nis zu den Schwei­nen sei­ner Zucht un­ter­hält. Es ist kalt und man schweigt, so wie man es von Nord­nor­we­gern er­war­tet. Bru­der Mar­gi­do ar­bei­tet als Be­stat­ter, was sich so­wohl für den dras­ti­schen Ro­man­ein­stieg als auch für den Fort­gang der Ge­schich­te als äu­ßerst prak­tisch er­weist. Au­ßer­dem stei­gert es na­tür­lich die de­pres­si­ve At­mo­sphä­re, die der ge­mei­ne Le­ser in Nord­nor­we­gen erwartet.

Die Schrei­be­rin die­ser Zei­len hät­te das Buch nach die­sem ers­ten Ka­pi­tel fast zur Sei­te ge­legt. Doch nach ei­ni­gen Ta­gen Pau­se und meh­re­ren Selbst­er­mun­te­run­gen wag­te sie es noch ein­mal und wur­de nach der An­fangs­ka­ta­stro­phe in die hei­le Welt des jüngs­ten Soh­nes ge­führt. Die­se ist „Voy­eu­ris­ti­sches Put­zen II.“ weiterlesen

Voyeuristisches Putzen I.

Die Suche nach Nähe in Markus Orths’ Roman „Das Zimmermädchen“ — Literaturkreis 1/2011

Wer kennt dies nicht? Vor dem Ver­las­sen des Ho­tel­zim­mers noch schnell das Nacht­hemd wie­der in den Kof­fer stop­fen, da­mit we­nigs­tens die­ses in­ti­me Klei­dungs­stück nicht von den Hän­den ei­ner Frem­den be­rührt wird? Dass die­se Frau, denn im­mer noch han­delt es sich in den sel­tens­ten Fäl­len um ei­nen Mann, daß al­so die­se für Rei­ni­gung und Ord­nung des an­ge­mie­te­ten Zim­mers zu­stän­di­ge Per­son auch an­de­re In­ti­mi­tä­ten, näm­lich den ganz per­sön­li­chen Schmutz be­sei­tigt und die zer­wühl­ten Bett­la­ken glatt­zieht, nimmt man hin. Noch mehr, es freut ei­nen, wenn die­se im Preis in­be­grif­fe­ne Putz­ak­ti­on be­son­ders sorg­fäl­tig durch­ge­führt wurde.

Un­über­treff­bar in die­ser Dis­zi­plin gibt sich Orths Zim­mer­mäd­chen im Ho­tel Eden sei­nen Auf­ga­ben hin. Sie putzt zu­erst das Bad, dann saugt sie die Bö­den, wischt mit ei­nem feuch­ten Tuch den kaum sicht­ba­ren Staub, wech­selt die Bett­wä­sche nach Tur­nus und die Hand­tü­cher nach Bedarf.

Doch Lynn ge­nügt dies nicht. „Wo an­de­re Zim­mer­mäd­chen nichts mehr se­hen, fängt es bei Lynn erst an.“ Mes­ser und Dau­men­nä­gel krat­zen den Schmutz aus Rit­zen und von Ar­ma­tu­ren, sie rei­nigt so­gar den Spalt zwi­schen Spie­gel und Ka­cheln. Sie putzt un­sicht­ba­re Fle­cken und wür­de am liebs­ten „Voy­eu­ris­ti­sches Put­zen I.“ weiterlesen

Möbiusband-Manufaktur

Literarische Nähanleitungen in María Cecilia Barbettas Roman „Änderungsschneiderei Los Milagros” — Literaturkreis 11/2010

Tan­ten, Müt­ter, Schwes­tern und Töch­ter, jun­ge Hüh­ner, al­te Schach­teln nä­hen gel­be, wei­ße, grü­ne, ocker­far­be­ne, vio­let­te, blaue, ro­te, him­mel­blaue Baum­wol­le, Ga­bar­di­ne, Fall­schirm­sei­de, Taft, Lei­nen zu Hoch­zeits­klei­dern, Hoch­zeits­schlei­ern, Hoch­zeits­schlep­pen, Hoch­zeits­hand­schu­hen, tref­fen Hoch­zeits­vor­be­rei­tun­gen, ha­ben Hoch­zeits­pa­ra­noia, um­schwärmt von Schmet­ter­lin­gen, Ka­ker­la­ken, Flie­gen, Amei­sen, Glüh­würm­chen und na­tür­lich von Män­nern, Ma­chos, Ge­lieb­ten, Ker­len, Ty­pen, Ver­füh­rern, Vä­tern und Ehe­män­nern, trin­ken sie hei­ße Scho­ko­la­de, hei­ße Milch, hei­ßen Tee und es­sen Scho­ko­la­den­kek­se mit Scho­ko­la­den­über­zug und Ka­ra­mell­fül­lung und mer­ken erst am Schluss, dass sie be­tro­gen, ver­schau­kelt, be­lo­gen und ver­gack­ei­ert wurden.

Wer der­ar­ti­ge Auf­zäh­lun­gen mag, der soll­te zu die­sem Buch grei­fen. Sei­ne Au­torin liebt die­ses Stil­mit­tel min­des­tens ge­nau­so wie die li­te­ra­ri­sche Selbst­re­fe­renz, wel­che sich „Mö­bi­us­band-Ma­nu­fak­tur“ weiterlesen

Sissy meets Beatle

Eine Komposition aus Stimmen — Judith Zanders neuer Roman „Dinge, die wir heute sagten

Tris­tesse be­geg­net uns nicht nur in der ost­deut­schen Pro­vinz, son­dern über­all in Deutsch­land und wahr­schein­lich auch an­ders­wo. Doch ist die­ses Le­ben wirk­lich so er­eig­nis­los und oh­ne Span­nung. Gibt es wirk­lich über­haupt nichts?

Ju­dith Zan­der ver­setzt den Le­ser durch Spra­che und Zeit­ge­schich­te in die DDR einst und das neue Bun­des­land jetzt, vor­ge­führt an Bre­se­kow, ei­nem „häss­li­chen End­lein der Welt“. Die Um­stän­de ha­ben sich ge­än­dert, die Ver­hält­nis­se je­doch nicht, was der Blick auf die drei Ge­ne­ra­tio­nen des Or­tes zeigt.

Die al­te An­na Hans­ke ist nicht mehr und In­grid, die ver­lo­re­ne Toch­ter, kehrt pflicht­ge­mäß heim um „Sis­sy meets Beat­le“ weiterlesen