Paul Auster — Unsichtbar

Eine Geschichte der Verführungen

In sei­nem neu­en Ro­man „Un­sicht­bar” schil­dert Paul Aus­ter ei­ne Ge­schich­te der Ver­füh­rung. Wie meist, so be­inhal­tet auch die­se Ge­heim­nis­se und Er­war­tun­gen, die nicht im­mer ein­ge­löst wer­den. Es gibt Op­fer und Tä­ter und ei­ne Schuld, wel­che die Gren­zen zwi­schen den Rol­len in der Un­ein­deu­tig­keit belässt.

Zu Be­ginn des ers­ten Ka­pi­tels scheint es noch klar. Der eher scheue Li­te­ra­tur­stu­dent Adam Wal­ker er­zählt von dem un­glaub­li­chen An­ge­bot Her­aus­ge­ber ei­ner neu­en Li­te­ra­tur­zeit­schrift zu wer­den. Idee und Geld zu die­sem Pro­jekt stam­men von Born, ei­nem eu­ro­päi­schen Gast­pro­fes­sor, den er zu­fäl­lig auf ei­ner Par­ty ken­nen ge­lernt hat­te.  Doch be­reits kur­ze Zeit spä­ter weiß Adam nicht mehr, ob der do­mi­nan­te Geld­ge­ber ihn nicht le­dig­lich als Op­fer ei­nes per­fi­den Psy­cho­spie­les aus­er­ko­ren hat. Wer ist die­ser Born? Et­wa der „Be­sit­zer ei­ner süd­ame­ri­ka­ni­schen Kaf­fee­plan­ta­ge, der nach zu vie­len Jah­ren im Dschun­gel wahn­sin­nig ge­wor­den“ ist, wie Adam ver­mu­tet? Aus­ter cha­rak­te­ri­siert ihn oh­ne Zwei­fel als mo­der­nen Me­phis­to, der auf sei­ne Mit­men­schen ab­sto­ßend und an­zie­hend zu­gleich wirkt. „Er war geist­reich, ex­zen­trisch und un­be­re­chen­bar, aber wer be­haup­te­te, der Krieg sei die reins­te Ab­rech­nung der mensch­li­chen See­le, ver­bannt sich aus dem Reich des Gu­ten.“ (S. 19)

Die un­gu­ten Vor­ah­nun­gen Wal­kers be­stä­ti­gen sich wäh­rend ei­ner Abend­ein­la­dung. Dort trifft der Stu­dent auch Borns Ge­lieb­te Mar­got wie­der, ei­ne Fran­zö­sin, die laut Born um den jun­gen Mann be­sorgt sei. Noch mehr, sie fän­de den gut­aus­se­hen­den Jun­gen so an­zie­hend, daß Born sie ihm, der Ro­man spielt im New York der spä­ten Sech­zi­ger­jah­re, ge­ne­rös zum Nach­tisch an­bie­tet. Wal­ker fühlt sich ver­un­si­chert. Bei der An­kunft in Borns Woh­nung hat­te er die­sen bei ei­nem hef­ti­gen Wut­aus­bruch er­lebt. Born ent­puppt sich als Mann, der an sei­ner Wut Freu­de hat.

Im zwei­ten Ka­pi­tel er­fährt der Le­ser durch den neu­en Ich-Er­zäh­ler Jim, ei­nen Col­lege­freund Wal­kers, daß das ers­te Ka­pi­tel Teil ei­nes Ro­mans sei. Adam bit­tet den er­folg­rei­chen Schrift­stel­ler sein Ma­nu­skript zu le­sen. Auf­ge­teilt ist die­ser au­to­bio­gra­phi­sche Ro­man in vier Ka­pi­tel, Früh­ling, Som­mer, Herbst und Win­ter des Jah­res 1967. Der Schrift­stel­ler wird Beicht­va­ter und Schreib­be­ra­ter zu­gleich. Er er­fährt von Wal­kers Krank­heit, sei­nem Kind­heits­trau­ma und ei­nem Ge­schwis­ter­ge­heim­nis. Din­ge, die bis­lang nicht nur für ihn im Ver­bor­ge­nen lagen.

Un­sicht­bar, so lau­tet der Ti­tel des Ro­mans, der zu­gleich sein Mot­to ist. Schein und Wirk­lich­keit, Ober­flä­che und In­ne­res, das Of­fen­sicht­li­che und das Ver­bor­ge­ne, al­les Wort­paa­re, de­ren je­weils zwei­ter Teil un­sicht­bar bleibt. Wie Paul Aus­ter die­se Dop­pel­bö­dig­keit von Per­so­nen, aber auch von Er­eig­nis­sen, Or­ten und Din­gen in die­ser Ge­schich­te durch­spielt, fin­de ich gran­di­os. Wal­ker er­scheint zu­nächst als ehr­gei­zi­ger Stu­dent, der von Born ver­führt und kor­rum­piert, schließ­lich durch die Mord­ge­schich­te so­gar be­droht und in sei­ner Kar­rie­re be­hin­dert wird. Durch sei­ne au­to­bio­gra­phi­schen Of­fen­ba­run­gen er­fährt der Le­ser je­doch, daß er kei­nes­falls so tu­gend­haft ist, wie er zu Be­ginn er­scheint. Das be­trifft nicht nur sei­ne pu­ber­tä­ren Er­kun­dun­gen mit sei­ner Schwes­ter und den spä­te­ren In­zest. Es be­trifft auch sein Ver­hal­ten in Pa­ris, sei­nen nai­ven Ra­che­plan, der Born kei­nes­wegs ei­ner ge­rech­ten Stra­fe zu­füh­ren wür­de. Falls die­ser über­haupt be­straft wer­den muss. Denn wir wer­den nie wis­sen, was wirk­lich ge­schah, ob Born tat­säch­lich ein Mör­der ist. Das ist si­cher das pla­ka­tivs­te Bei­spiel für ei­nen an­schei­nend kla­ren Vor­gang mit mög­li­cher­wei­se ver­bor­ge­nen Details.

Wer lügt, wer sagt die Wahr­heit? Wie­viel Wah­res steckt in all un­se­ren Er­in­ne­run­gen? For­men wir sie nicht stän­dig um, for­mu­lie­ren sie neu, ma­chen aus ver­meint­li­chen Fak­ten un­se­ren ei­ge­nen, in­di­vi­du­el­len Roman?

Un­sicht­bar, ge­heim­nis­voll, im Dun­keln so be­lässt Aus­ter vor al­lem das En­de sei­nes Bu­ches. In der Schluss­sze­ne schil­dert er die Flucht ei­ner Frau auf ei­ner In­sel. Schon von wei­tem hört sie ein Ge­räusch, das sie nicht zu deu­ten weiß. Erst als sie un­mit­tel­bar da­vor steht, er­kennt sie Ar­bei­ter, die Stei­ne aus dem har­ten Fels schla­gen. Die Ur­sa­che des Ge­räuschs ist sicht­bar ge­wor­den. Die Fron die­ser Men­schen wird auf­ge­deckt. Das Er­geb­nis ziert zahl­lo­se Plät­ze der so­ge­nann­ten Zi­vi­li­sa­ti­on. Doch was will der Au­tor da­mit sa­gen? Ein Apell an das so­zia­le Ge­wis­sen? Oder ent­larvt Aus­ter mit der Il­lu­si­on des ver­meint­li­chen Idylls wie­der­rum ei­ne wei­te­re Fa­cet­te Borns?

Hilf­reich für die Be­ant­wor­tung dürf­ten die li­te­ra­ri­schen Spu­ren sein, die Aus­ter ge­legt hat. Sie füh­ren von der rät­sel­rei­chen Kas­san­dra­va­ri­an­te des Ly­ko­phron, über die Kriegs­ge­sän­ge Ber­tran de Borns und des­sen Be­stra­fung in der Di­vina Com­me­dia zu Mil­tons Ver­füh­rung des Adam bis zu Sa­mu­el Be­ckett. Die Wahr­heit je­doch bleibt unsichtbar.

 

Li­te­ra­tur in der Literatur:

Ly­ko­phron, Alex­an­dra (ca. 190 v. Chr.)

Ber­tran de Born, Sir­ven­tes (1181)

Dan­te Ali­ghie­ri, Di­vina Com­me­dia (1307)

John Mil­ton, Pa­ra­di­se Lost (1667)

Sa­mu­el Be­ckett, Krapp’s Last Tape (1958)

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