Würgende Tauben und anderes Getier

Wenn wir Tiere wären”– ein neuer Fluchtroman von Wilhelm Genazino

Wenn wir flug­fä­hi­ge Tie­re ge­we­sen wä­ren, hät­ten wir dann und wann mit den Flü­geln schla­gen kön­nen. Aber wir wa­ren Men­schen und ver­hiel­ten uns, trotz al­ler Of­fen­heit, verhüllend.“(S. 74)

Der Er­zäh­ler des neu­en Ro­mans von Wil­helm Gen­a­zi­no ver­dient sein Geld we­der mit dem Test ed­len Schuh­werks noch als Do­zent für Apo­ka­lyp­tik. Er ar­bei­tet als frei­er Ar­chi­tekt, sein Spe­zi­al­ge­biet ist die Sta­tik von Hän­ge­brü­cken. So wie die­se hängt auch er in der Land­schaft des Le­bens her­um. Be­hin­dert von sei­nem „heim­li­chen Grund­ge­fühl“ spürt er „nur man­geln­des Ta­lent zum so­ge­nann­ten nor­ma­len Le­ben“. Schon als Kind fühl­te er sich „er­schöpft und von der Welt an­ge­wi­dert“. Sei­nem Le­bens­ge­fühl, ei­nem Ge­misch aus Gleich­gül­tig­keit, Über­druss, Ekel, Me­lan­cho­lie und Angst, ver­sucht er zu ent­flie­hen. Meist ver­ge­bens, im Schei­tern sei­ner Flucht­ver­su­che trifft er höchs­tens auf an­de­re Ge­schei­ter­te. Zu die­sen zählt auch Ma­ria, sei­ne Le­bens­ge­fähr­tin, die ei­ne ei­ge­ne Woh­nung und ein Rot­wein­pro­blem be­sitzt. Sie scheint ihn we­nigs­tens zum Teil zu ver­ste­hen und ver­sorgt ihn mit Un­ter­wä­sche und Sex. Als sein bes­ter Freund, Ar­chi­tekt und Auf­trags­ver­mitt­ler Autz, dem zum Kau­tz nur der ers­te Buch­sta­be des Vor­na­mens sei­ner Frau fehlt, ver­stirbt, tritt ei­ne Ver­än­de­rung ein. Der noch Le­ben­de rutscht sach­te in das Le­bens­ar­ran­ge­ment des To­ten hin­ein bis er schließ­lich dar­in zu ver­sin­ken droht wie in ei­nem al­ten durch­ge­ses­se­nen So­fa. „Ich hat­te jetzt zwei Ge­braucht­frau­en, ei­nen Ge­braucht­job, ei­nen Ge­braucht­wa­gen und jetzt auch noch ei­nen Ge­braucht­schreib­tisch.“ Als An­ge­stell­ter des Ar­chi­tek­tur­bü­ros be­schwich­tigt er zwar sei­ne Exis­tenz­angst, fühlt sich aber von der Un­frei­heit ge­lähmt. Er über­nimmt schließ­lich noch die Ge­braucht­be­trü­ge­rei­en sei­nes Vor­gän­gers. Durch die selbst in­sze­nier­te Frei­heits­be­rau­bung ent­geht er dem Ge­fäng­nis des Angestelltendaseins.

Wir schei­nen ihn be­reits gut zu ken­nen, den Er­zäh­ler des Ro­mans. Wie sei­ne Vor­gän­ger aus den Vor­gän­ger­ro­ma­nen ist auch er zu le­bens­emp­find­lich und zwei­felt vor al­lem an ei­nem, an sich selbst. Zu den Mög­lich­kei­ten die­sen Über­druss zu be­schwich­ti­gen zäh­len die be­ru­hi­gen­de Wir­kung von Bu­sen al­ler Art und das Ver­har­ren im Au­gen­blick. Die­se me­lan­cho­li­schen Mo­men­te fin­det der Held des neu­en Ro­mans oft beim An­blick von Tie­ren, in de­ren In­stinkt für ihn un­ver­fälsch­te Schön­heit zu lie­gen scheint. Sie ru­hen in sich selbst, aut­ark und zu­frie­den, wäh­rend Gen­a­zi­no sei­nen Prot­ago­nis­ten an ei­ge­nen und frem­den An­sprü­chen lei­den lässt. Dies führt zu iro­ni­schen Hö­he­punk­ten wie dem der mit 42 Le­bens­jah­ren und Ge­biss ein­deu­tig zu spä­ten Mut­ter Thea. Na­tür­lich auch zu Me­lan­cho­lie, wenn der An­blick der Par­fü­me­rie-Ver­käu­fe­rin­nen qua­si als proust­sche Mé­moi­re in­vo­lon­tai­re die Ar­mut der Kind­heit her­auf­be­schwört. Auch Selbst­kri­tik scheint auf, wenn Gen­a­zi­no den Chef des Ar­chi­tek­tur­bü­ros über den Zu­sam­men­hang zwi­schen Me­lan­cho­lie und ab­wei­chen­dem Ver­hal­ten sin­nie­ren lässt. Schließ­lich wird man­cher Le­ser, mal an­ge­nehm mal un­an­ge­nehm be­rührt, sich in man­chen Ma­rot­ten selbst erkennen.

Es gibt al­so auch in die­sem ech­ten Gen­a­zi­no, der den iro­ni­schen Blick auf die Zu­stän­de der Ge­sell­schaft und des In­di­vi­du­ums öff­net, durch­aus Neu­es zu ent­de­cken. Da­zu zäh­len schö­ne Wort­schöp­fun­gen wie „Blei­be­wunsch“ und zahl­rei­che zi­tie­rens­wer­te Sät­ze. Den­noch bin ich zwie­ge­spal­ten, da der Ro­man im letz­ten Drit­tel deut­lich schwä­cher wird. Die Bu­sen-Ob­ses­si­on zu der sich die Scham­haar-Schil­de­run­gen hin­zu ge­sel­len ha­ben mich et­was „an­ge­mü­det“, von an­de­ren dies­be­züg­li­chen Be­zeich­nun­gen und der Re­vier­mar­kie­rung von Ge­fäng­nis­zel­len ganz zu schweigen.

 

Über Schönheit:

Denn merkwürdig an der Schönheit ist, dass man sie immer nur anschauen kann. Man kann nichts davon mit nach Hause nehmen oder ein kleines Teil von ihr an einer besonderen Stelle aufbewahren. Man kann Schönheit immer nur anstarren, mehr ist nicht zu holen. Wenn man sie lange angeschaut hat, muss man wieder gehen.“ (S. 17)

 

Über Staub und Schmutz:

Stau­big wird et­was von selbst, sag­te ich, durch Teil­ha­be an dem gro­ßen Staub, in dem wir al­le le­ben müs­sen. Schmutz hin­ge­gen ist ein selbst­stän­di­ges Ein­tau­chen in ein Kon­zen­trat von Aus­schei­dun­gen, das durch die stän­di­ge Um­wand­lung der Na­tur ent­steht.“ (S. 23)

 

Über den Hauptlebenstrieb:

Der Wunsch nach Flucht war ver­mut­lich der be­stän­digs­te Im­puls mei­nes Le­bens. Es gab so gut wie nichts, wo­vor ich nicht hat­te flie­hen wol­len: vor mei­nen El­tern, vor dem Kin­der­gar­ten, vor der Schu­le, vor Thea, vor Woh­nun­gen, vor der Kul­tur, vor dem Mi­li­tär, vor der Fest­an­stel­lung, vor Ma­ria.“ (S. 126)

 

Über das Gefängnis:

Ich trau­te mich end­lich zu den­ken, dass ich die an­de­ren nicht ver­stand. Das hat­te ich schon im nor­ma­len Le­ben oft emp­fun­den, aber ich hat­te mich nicht ge­traut, es auch zu den­ken.“ (S. 130)

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