Proust für Anfänger und Liebhaber

Die Recherche als Graphic Novel — „Im Schatten junger Mädchenblüte”, Teil 1

Ich bin ei­gent­lich kei­ne Co­mic-Le­se­rin. Le­dig­lich von As­te­rix ließ ich mich einst er­obern. Im­mer­hin ist auch er ein Fran­zo­se wie Proust, man mö­ge mir den Ver­gleich ver­zei­hen, und der von die­sem in­spi­rier­te Sté­pha­ne Heu­et. Heu­et kre­ierte ei­ne Ad­ap­ti­on der Re­cher­che als Gra­phic No­vel, von der bis­her drei Bän­den in der Über­set­zung von Kai Wil­kens im Kne­se­beck-Ver­lag vorliegen.

Den ers­ten Band, Com­bray, ent­deck­te ich kurz nach sei­nem Er­schei­nen im letz­ten Jahr. Beim An­schau­en über­rasch­te mich, wie gut es Heu­et in Zu­sam­men­ar­beit mit Sta­nis­las Bré­zet ge­lun­gen war, die kom­ple­xe Er­zähl­wei­se Prousts in ei­ne ge­zeich­ne­te Form zu brin­gen. Seit vier­zehn Jah­ren ar­bei­tet Heu­et an der gra­phi­schen Ge­stal­tung der Bän­de und zeigt die wich­tigs­ten Sze­nen in Comic-Manier.

Com­bray“ mit sei­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen, der un­ver­gess­li­chen Made­lei­ne-Sze­ne und den Spa­zier­gän­gen zu duf­ten­den Weiß­dorn­he­cken hat­te mich da­mals über­zeugt. Aber wie mag es Heu­et wohl ge­lun­gen sein, die Proust­schen Re­flek­tio­nen und Ver­zweif­lun­gen des zwei­ten Ban­des dar­zu­stel­len? Die un­glück­li­che Lie­be zu Gil­ber­te, die Ge­füh­le der Fremd­heit in Bal­bec und schließ­lich sein Glück mit der Mädchenschar?

Nun liegt sie al­so vor mir, Sté­pha­ne Heu­ets Gra­phic No­vel von „Im Schat­ten jun­ger Mäd­chen­blü­te“, ge­nau­er ihr ers­ter Teilband.

Die­ser setzt so­fort mit dem zwei­ten Teil sei­ner Vor­la­ge ein, „Na­men und Orte:Orte“. Er er­zählt von der Rei­se des jun­gen Mar­cel in das Kur­bad Bal­bec. Wir be­glei­ten ihn auf sei­ner Zug­fahrt, su­chen und be­sich­ti­gen mit ihm die Kir­che. Ein Milch­mäd­chen taucht in der Mor­gen­rö­te der Bahn­glei­se auf. Am Ziel der Rei­se war­tet der di­cke Di­rek­tor des Grand­ho­tels. Mar­cel fühlt sich zu­nächst un­wohl in der frem­den At­mo­sphä­re der Kur­ge­sell­schaft. Erst all­mäh­lich macht er neue Ent­de­ckun­gen und Bekanntschaften.

Heu­ets an Her­gé ori­en­tier­ter Zei­chen­stil stellt Ge­sichts­zü­ge in mi­ni­ma­lis­ti­scher Strich­füh­rung dar. Sie tref­fen den­noch den Cha­rak­ter der Fi­gu­ren und spie­geln de­ren Ge­fühls­be­we­gun­gen. So­fort er­kennt man die Bla­siert­heit der Ho­tel­gäs­te, die schil­lern­de Per­sön­lich­keit Saint-Loups und die ver­steck­te Ho­mo­se­xua­li­tät des Ba­ron von Char­lus. Be­son­ders bei die­ser Per­son ist die Iro­nie Prousts in den Zei­chen­stift Heu­ets ge­flos­sen. Man ach­te nur auf die ver­stoh­len be­gehr­li­chen Bli­cke, die der ge­al­ter­te Ba­ron den mus­ku­lö­sen Fuhr­knech­ten und den hüb­schen Ma­tro­sen nach­schickt. Auch vie­le wei­te­re Sze­nen, wie die Be­geg­nung Mar­cels mit dem Fi­scher­mäd­chen, sind al­lei­ne durch die Zeich­nung verständlich.

Die zu­rück­hal­ten­de Farb­ge­bung ent­spricht dem Ort und der Stim­mung der Si­tua­ti­on. So emp­fängt das Meer in grau tür­ki­ser Mor­gen­stim­mung Mar­cel und den Betrachter.

Die ak­ti­ve Hand­lung und die di­rek­te Re­de wer­den von Text­ab­schnit­ten mit Ori­gi­nal­zi­ta­ten ergänzt.

Ein Kri­tik­punkt be­steht den­noch. Die Ge­schich­te um Gil­ber­te, „Im Um­kreis von Ma­dame Swann“, ist lei­der voll­stän­dig aus­ge­spart. Scha­de, ich bin mir si­cher, daß die­se Heu­et ge­lun­gen wäre.

Der vor­lie­gen­de Band en­det als Mar­cel ei­ne Schar jun­ger Mäd­chen ent­deckt, die sich die Strand­pro­me­na­de er­obert. Da­mit um­fasst er ca. 220 Sei­ten des Ori­gi­nals, die rest­li­chen dür­fen mit Span­nung er­war­tet werden.

Die Re­cher­che als Gra­phic No­vel ist nicht nur ei­ne schö­ne Er­gän­zung für al­le Proust­lieb­ha­ber, son­dern sie bil­det eben­so ei­nen ge­lun­ge­nen Ein­stieg für al­le, die das Werk noch ken­nen ler­nen dürfen.

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