Geschichten aus der Wirklichkeit

Unsere Geschichte beginnt” — neue Shortstories von Tobias Wolff

Wer noch nie ein in­tri­gan­tes Be­ru­fungs­ver­fah­ren er­lebt hat, wer noch nie voll Be­trof­fen­heit und Hilf­lo­sig­keit nach­bar­schaft­li­chen Ge­walt­tä­tig­kei­ten zu­hö­ren muss­te und wer sich noch nie von ei­nem Hund bes­ser ver­stan­den fühl­te als von ei­nem Mensch, der grei­fe zu den neu­en Short Sto­ries von To­bi­as Wolff.

Der Ti­tel „Un­se­re Ge­schich­te be­ginnt“ hat­te in mir ganz an­de­re Er­war­tun­gen er­weckt, die scho­nungs­lo­se Dar­stel­lung har­ter Rea­li­tät riss mich je­doch schnell dar­aus her­aus. Auf we­ni­gen Sei­ten er­zählt Wolff eher All­täg­li­ches als Groß­ar­ti­ges. Sei­ne Prot­ago­nis­ten er­le­ben vie­les, was we­der leicht zu er­tra­gen noch zu er­zäh­len ist. Man möch­te das Buch aus der Hand le­gen und doch bleibt man dran. Man­che Din­ge sind sehr bru­tal. Au­ßer­dem scheint Wolff un­ter ei­nem aus­ge­präg­ten Hun­de­trau­ma zu lei­den. In ei­ni­gen Ge­schich­ten wer­den die ar­men Krea­tu­ren miss­han­delt, in an­de­ren lie­ben die Ehe­frau­en ih­re Hun­de mehr als ih­re Män­ner und die Hun­de lie­ben die Ehe­frau­en mehr als de­ren Män­ner dies tun soll­ten. Un­ter­schied­li­che The­men fin­den sich in sei­nen Sto­ries, die Re­inte­gra­ti­on von Kriegs­heim­keh­rern, Mi­gra­ti­on, Bil­dungs­be­nach­tei­li­gung, aber auch Nächs­ten­lie­be und un­er­füll­te Lie­be. Schuld­fra­gen wer­den dis­ku­tiert, doch die Un­ter­schei­dung zwi­schen Op­fer und Tä­ter ist nie ein­deu­tig. Wolff lässt uns an den Ge­dan­ken sei­ner Per­so­nen teil­ha­ben, wäh­rend wir ei­nem kur­zen Aus­schnitt ih­res Le­bens fol­gen. Auf­fäl­lig sind häu­fig wie­der­keh­ren­de Mo­ti­ve wie der Tod des Va­ters und die ver­spä­tet ein­set­zen­de Trau­er. Man­che wir­ken al­ler­dings im wie­der­hol­ten Ge­brauch wie Ver­satz­stü­cke, so taucht mehr­mals ein Mut­ter­mal am Frau­en­hals auf, eben­so Per­so­nen mit platt­fü­ßi­gem Gang. Man­che Wort­wahl fin­de ich schwie­rig, denn was soll ich mir un­ter fip­si­gen Slip­pern, ei­nem ver­fitz­ten Busch­knäu­el oder ei­ner ga­ke­li­gen Bund­nes­sel vorstellen?

Den­noch, der kla­re und tem­po­rei­che Er­zähl­stil zieht den Le­ser so­fort in das Ge­sche­hen hin­ein. An­spie­lun­gen er­gän­zen das Un­ge­sag­te und re­gen zum Wei­ter­den­ken an, so daß es nie­mals lang­wei­lig wird. Span­nung trägt die Ge­schich­ten bis zum Schluss, wo den Le­ser meist ein über­ra­schen­des En­de er­war­tet. Wolff voll­zieht er­neu­te Vol­ten, lässt vie­les of­fen und manch­mal die Le­se­rin rat­los zu­rück. Schil­dert uns der Er­zäh­ler in „Ne­ben­an“ ei­ne Sui­zid­phan­ta­sie, ist er im Dro­gen­rausch, gläu­big, ver­rückt oder al­les zusammen?

Der Ber­lin-Ver­lag hat die­sen Band mit neu­en und äl­te­ren Er­zäh­lun­gen des ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­lers To­bi­as Wolff in der Über­set­zung von Frank Hei­bert vor­ge­legt. Die An­ga­ben der Ent­ste­hungs­da­ten der ein­zel­nen Er­zäh­lun­gen feh­len lei­der. Eben­so hat es die auf der Ver­lags­sei­te an­ge­kün­dig­te Ein­füh­rung Ja­kob Ar­jounis lei­der nicht bis in das Buch geschafft.

To­bi­as Wolff un­ter­rich­tet seit 1997 an der Stan­ford Uni­ver­si­ty Crea­ti­ve Wri­ting. Ne­ben sei­nen Short Sto­ries sind die Ro­ma­ne „This Boy’s Life“ und „Al­te Schu­le“ ei­nem grö­ße­ren Pu­bli­kum bekannt.

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