Pompejanische Politsatire

Eugen Ruge ist mit „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ der wohl lustigste Roman über die untergegangene Stadt gelungen

Ach die Leu­te.“ Li­via zuck­te mit den Schul­tern. „Die sind so ver­gess­lich wie das Schilf! Nie­mand in­ter­es­siert sich für das, was du ges­tern ge­sagt hast. Sie wol­len wis­sen, was du heu­te sagst. Die po­li­ti­sche Wahr­heit, mein Lie­ber, ist kei­ne Fra­ge von Fak­ten und Beweisen.“

 „Ver­giss, lie­ber Le­ser, al­les, was du je­mals über Pom­pe­ji ge­hört hast.“

 Über Pom­pe­ji, die im süd­li­chen Kam­pa­ni­en ge­le­ge­ne Pro­vinz­stadt, die durch die kon­ser­vie­ren­de Wir­kung ei­nes Vul­kans im Jahr 79 n. Chr. zu Welt­ruhm ge­lang, wur­de viel ge­schrie­ben. Wis­sen­schaft­li­ches füllt gan­ze Bi­blio­the­ken. Doch auch fik­tio­na­le Li­te­ra­tur ent­stand, kaum hat­ten die Schatz­grä­ber des Bour­bo­nen-Kö­nigs ih­re Lö­cher in die ver­sun­ke­ne Stadt ge­bohrt. Das Er­stau­nen über die vor­ge­fun­de­nen, an­nä­hernd in­tak­ten Woh­nun­gen und Stadt­struk­tu­ren, ins­be­son­de­re über die Res­te der Pom­pe­ja­ner selbst, die Jah­re spä­ter Fio­rel­li durch Gips­aus­güs­se an­schau­lich mach­te, reg­ten die Phan­ta­sie vie­ler Schrift­stel­ler an. Was war wohl ge­sche­hen in den letz­ten Ta­gen der Stadt? Man­chen wie Ed­ward Bul­wer-Lyt­ton oder Ro­bert Har­ris ge­lang ein Pu­bli­kums­er­folg. Nicht sel­ten trifft man auf an Best­sel­lern ge­schul­te Ex­per­ten, die ei­nen über das de­ka­den­te Trei­ben der Pom­pe­ja­ner aufklären.

Da die schrift­stel­le­ri­sche Phan­ta­sie nie­mals en­det, wer­den auch wei­ter­hin Ro­ma­ne über Pom­pe­ji ge­schrie­ben. Der neu­es­te ist aus der Fe­der von Eu­gen Ru­ge und trägt den Ti­tel „Pom­pe­ji oder Die fünf Re­den des Jow­na“. Doch möch­te man ihn le­sen, wenn man eher die an­de­ren Bü­cher über die un­ter­ge­gan­ge­ne Stadt stu­diert und in manch‘ stau­bi­ger Ecke im An­we­sen ei­ner pom­pe­ja­ni­schen Ver­mie­te­rin her­um­ge­sto­chert hat? Um es kurz zu ma­chen, ja! Al­lei­ne, weil Ru­ges Er­zäh­ler Din­ge über Iu­lia Fe­lix ans Licht bringt, die bis­her im Ver­bor­ge­nen la­gen. Kein Wun­der, war er doch da­bei und hat den Aus­bruch, die Ka­ta­stro­phe, un­be­scha­det über­lebt. Sei­ne Iden­ti­tät of­fen­bart er nicht, aber sein Vor­ha­ben. Er wird, so legt er in ei­nem Pro­log dar, die Ge­scheh­nis­se vor dem Aus­bruch auf­schrei­ben, die Pa­py­rus­rol­len in Am­pho­ren ver­sie­geln und die­se ver­ste­cken. Die Wahr­heit sei­nes Be­richts sei den Zeit­ge­nos­sen nicht zu­mut­bar. Nie­mand wür­de ihm glau­ben. Kein Wun­der, daß die Wis­sen­schaft fast 2000 Jah­re auf fal­sche Über­lie­fe­run­gen setz­te. Jetzt da die Schrift­rol­len tran­skri­biert sind, er­ken­nen wir „dies ist der wah­re Be­richt vom Un­ter­gang Pom­pe­jis und sei­ner Be­woh­ner“.

Auf die­se Wei­se le­gi­ti­miert Eu­gen Ru­ge die Ideen sei­nes neu­en Ro­mans. Fans his­to­ri­scher Schmö­ker wer­den schon im Klap­pen­text ge­warnt. Da­durch über­re­det er die Skep­ti­ke­rin, die­se Quel­le zu prü­fen. Sie mag sich zu Be­ginn an Ana­chro­nis­men sto­ßen, doch bald wird klar, daß es sich bei die­sem Ro­man ‑oder soll­te ich sa­gen, bei den auf sechs Am­pho­ren auf­ge­teil­ten acht­zehn Rol­len- nicht um den Ver­such han­delt, Ver­gan­gen­heit durch Fik­tio­na­li­sie­rung er­leb­bar zu ma­chen. Al­so nicht um ei­nen His­to­ri­schen Ro­man, der mit Mord und Tot­schlag, Ver­ge­wal­ti­gung und schwe­rer Ge­burt die Le­ser bei der Stan­ge hält. Zwar gibt es in Ru­ges „Pom­pe­ji“ auch Sex and Crime, wenn man so will, doch nicht um des woh­li­gen Schau­derns vor fer­nen Ver­gan­gen­heit wil­len, son­dern um die Sa­ti­re mög­lichst saf­tig zu machen.

Nun ha­be ich das Pferd von hin­ten auf­ge­zäumt. Beim Ro­man ist es ähn­lich. Er kann, wie al­le Pom­pe­ji-Ro­ma­ne vor und nach ihm, das Wis­sen um das En­de nicht ver­ber­gen. Am Schluss bricht der Ve­suv aus und ver­schüt­tet die Stadt. Da beißt die Maus kei­nen Fa­den ab, sei sie auch noch so muskulös.

Be­gin­nen wir al­so mit der ei­gent­li­chen Rezension:

Eu­gen Ru­ge, der 2011 mit sei­nem ers­ten Ro­man den Deut­schen Buch­preis ge­wann, weiß, wie man von miss­lin­gen­den Uto­pien er­zählt. „In Zei­ten des zu­neh­men­den Lichts“ schil­der­te er das Schei­tern der so­zia­lis­ti­schen Staats­idee an­hand ei­nes Fa­mi­li­en­schick­sals in der DDR. In „Pom­pe­ji“ dient ihm der Un­ter­gang der an­ti­ken Stadt als Fo­lie für den Zu­sam­men­bruch ei­ner Aus­stei­ger-Kom­mu­ne. Er er­zählt dies am Wer­de­gang ih­res Be­grün­ders, ei­nes aus Pan­no­ni­en ein­ge­wan­der­ten Jun­gen, des­sen El­tern in Pom­pe­ji ihr Glück nicht fan­den. Die Metz­ge­rei des Va­ters ging zu­grun­de, eben­so wie die­ser selbst. Jow­na ali­as Jo­se­phus ali­as Jos­se lebt mit sei­ner Mut­ter in ei­ner ärm­li­chen Kam­mer. Er schlägt sich durch, trai­niert auf der Pa­läs­tra und hängt mit sei­ner Ban­de ab. Als die­se ei­ne Ver­samm­lung be­lauscht, in der ein ge­lehr­ter Grie­che vor ei­ner Ka­ta­stro­phe warnt, er­greift Jos­se sei­ne Chan­ce und das Wort. Er scharrt ei­ne Grup­pe von Aus­stei­gern um sich, die von der vom Vul­kan be­droh­ten Stadt fort an ei­nen Strand zie­hen. Dort, am „Fens­ter des Mee­res“, wol­len sie ei­ne neue Ge­mein­schaft grün­den und Häu­ser bau­en. Schon bald tre­ten, wie bei al­len der­ar­ti­gen Pro­jek­ten, Schwie­rig­kei­ten auf. Wie ver­teilt man Auf­ga­ben und vor al­lem, wer ver­teilt sie? Er­le­di­gen will sie so­wie­so kei­ner. Die Kom­mu­nar­den üben sich im Ab­schie­ben von Ver­ant­wor­tung bis die idyl­li­schen Zu­stän­de gars­tig wer­den. Da kommt Jos­se mit ei­ner Idee, auf die er nicht von selbst ge­kom­men ist.

All dies er­zählt Ru­ge mit gro­ßem Per­so­nal auf den wohl­be­kann­ten pom­pe­ja­ni­schen Schau­plät­zen. Fo­rum, Pa­läs­tra, Am­phi­thea­ter, Ther­men, Knei­pen und Bor­del­le wer­den, wenn nicht al­le be­tre­ten, so doch er­wähnt. Viel lie­ber tref­fen sich sei­ne Fi­gu­ren in den gro­ßen pom­pe­ja­ni­schen Vil­len, vor­wie­gend an der Via dell’Abbondanza, wo es nach dem Urin der Fär­be­rei stinkt, wo zahl­rei­che Ther­mo­po­li­en den Bord­stein säu­men und Iu­lia Fe­lix ein An­we­sen mit al­lem Drum und Dran be­sitzt. Man liegt im Tricli­ni­um, ‑wenn auch viel­leicht nicht ganz so, wie man dort lie­gen sollte‑, haust in Dach­kam­men ‑wenn auch viel­leicht mit mehr Kom­fort, ei­nem Herd, als es üb­lich war‑, und na­tür­lich lässt Mann sich in den Ther­men von, wie soll­te es an­ders sein, rot­haa­ri­gen Skla­vin­nen die Fü­ße und an­de­res pfle­gen. Um nur ei­ni­ge der Ana­chro­nis­men und Kli­schees zu nen­nen, die ich je­doch kei­nes­falls übelnehme.

Ne­ben den Mit­glie­dern im Strand­la­ger be­geg­net die Le­se­rin der raff­gie­ri­gen Iu­lia Fe­lix, dem sa­tu­rier­ten Fa­bi­us Ru­fus, der ein­fluss­rei­chen Li­via Nu­mis­tria, den Vet­ti­ern und ei­nem all­wis­sen­den Skla­ven. Der ist eben­so vor­nehm wie hoch­ge­stellt, be­ant­wor­tet wie Ale­xa Fra­gen aus dem Nichts, er­weist sich als for­mi­da­bler Spin­doc­tor und heißt zu al­lem Über­fluss auch noch Epi­pha­nes. So schafft Ru­ge qua Fi­gu­ren­re­de viel­fäl­ti­ge Per­spek­ti­ven auf das Ge­sche­hen. Es mag über­zo­gen wir­ken, wenn et­wa Li­via über den Ein­satz ver­füh­re­ri­scher Ro­ben nach­denkt, und be­dient ein Kli­schee, wenn der „rund­ge­sich­ti­ge, teu­to­ni­sche Un­ter­prä­fekt“ aus tum­ber Pflicht­er­fül­lung stirbt. Doch die­se sind der Sa­ti­re nun mal ei­gen. Wenn sie zu schril­len Über­trei­bun­gen füh­ren, wie die haut­engen Klei­der und ho­hen Schu­he der Li­via, denkt man an Ähn­li­ches bei As­te­rix oder Mon­ty Py­thon. Ru­ge macht sich über al­les lus­tig, so­gar den ar­men Pli­ni­us lässt er nicht aus, und kann doch ernst ge­nom­men wer­den. In zahl­rei­chen Ex­em­peln nimmt er Din­ge aufs Korn, die da­mals wie heu­te lä­cher­lich er­schei­nen. Sei­ne Fi­gu­ren be­mü­hen sich ih­re Welt zu er­fas­sen, doch sei­en sie Phi­lo­so­phen, Stra­te­gen, Idea­lis­ten oder Ego­is­ten, sie krie­gen sie nicht in den Griff und über­se­hen bei al­le dem, die An­zei­chen des be­vor­ste­hen­den Untergangs.

Auch die Kom­mu­ne am Meer teilt sich schließ­lich in die, die an ih­rer Idee fest­hal­ten, und die Kom­pro­miss­be­rei­ten, die sich ar­ran­gie­ren, um ei­nen Teil ih­res Pro­jek­tes zu ver­wirk­li­chen. Wä­ren sie ei­ne Par­tei, könn­te sie sich Fun­dis und Rea­los nen­nen. Ihr eins­ti­ger An­füh­rer Jos­se, der ar­me Sohn ei­nes Ein­wan­de­rers ge­lingt mit Geist, Glück und Ge­le­gen­hei­ten ei­ne enor­me, wenn auch nicht un­er­war­te­te Ent­wick­lung. Eu­gen Ru­ge ge­lingt mit sei­nem neu­en Ro­man „Pom­pe­ji“ ei­ne köst­li­che Politsatire.

Bleibt am En­de nur zu fra­gen, wer der all­wis­sen­de Er­zäh­ler ist, der sich die Mü­he macht, all‘ dies für die Nach­welt zu er­hal­ten? Die­ser Über­le­ben­de, der hin­ter al­le Vor­hän­ge blickt und sprach­lich ge­wandt kom­men­tiert, kann nur der klu­ge Epi­pha­nes sein. Ei­ne wah­re Erscheinung!

Eugen Ruge, Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna, dtv Verlag 2023

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert