In „La pozza del Felice“ feiert Fabio Andina die Zufriedenheit am Ende des Lebens
“Che poi, che la politica l’è tutta una gran porcada, e che il mondo è in mano ai soliti due o tre farabutti, questo lo sanno anche i pesci di questo fiume, per conto mio, irrompe il Felice guardando l’aqua.” – Und außerdem, dass die Politik eine einzige Sauerei ist und die Welt in den Händen der üblichen zwei oder drei Schurken liegt, das wissen sogar die Fische in diesem Fluss, wenn man mich fragt, unterbrach Felice und blickte aufs Wasser.
Je älter wir werden, umso mehr wird unser Leben von Ritualen geprägt. Es mehren sich die immergleichen Wege, Begegnungen und Handlungen, die den Alltag strukturieren. Im Valle di Blenio, eingebettet in die Bergzüge des Schweizer Tessin, sind es die Glocken der zahlreichen Dorfkirchen, die Orientierung in Raum und Zeit bieten, auch den Bewohnern des kleinen Ortes Leontica. Dort verbringt Fabio Andina, der Autor von “La pozza del Felice”, seit seiner Kindheit die Ferien, ganz wie sein Erzähler.
Andina ist vertraut mit dem Ort und der Natur, die er als Szenerie für seinen Roman übernimmt. Seine Figuren jedoch hat er erfunden, wenn sie auch viel gemein haben mit ihren Vorbildern. Sie führen ein karges und bescheidenes Leben mit der Natur. Als zufriedene Selbstversorger verzichten sie auf Konsum, Abwechslung auf dem Tisch bringen Tausch und Jahreszeiten. Die Dorfgemeinschaft, vorwiegend Alte, aber auch einige Familien mit Teenagern und kleinen Kindern, beruht auf gegenseitiger Unterstützung. Frei von Uneinigkeit ist sie nicht, doch man begegnet sich mit Respekt und Akzeptanz. Dies ist auch die Maxime des alten Felice, der jeden Tag mit einem Marsch zur hochgelegenen Pozza beginnt, um in ihr eiskaltes Wasser einzutauchen. Zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter und trotz seiner neunzig Lebensjahre. „Se la batteria non mi scarica“ – Solange meine Batterie nicht leer ist, sagt er. Um dieses Ritual zu verstehen, beschließt der Erzähler, einige Tage mit Felice zu verbringen.
Er begleitet ihn durch den Tag und weicht ihm kaum von der Seite. In aller Frühe, mitten in der Novemberdunkelheit, beginnen sie den Aufstieg. Der noch sommerlich gekleidete Felice geht voran, barfuß, mit kurzer Hose und offenen Hemd. Vorbei an den letzten Häusern der Ortschaft, am Esel und dem Kuhstall führt sie der Weg durch einen finsteren Wald, über Geröll und Steine bis sie schließlich die Pozza erreichen. Das Wasserloch liegt zwischen den Felsen, auf einem Plateau, das in der Morgendämmerung einen grandiosen Blick auf die umliegenden Gipfel und Täler freigibt.
Felice vollzieht sein Ritual, taucht unter in der Pozza und lässt seinen nackten Körper anschließend auf einem Felsen hockend vom Wind trocknen. Seinen Begleiter hingegen kostet das Bad große Überwindung. Andinas Beschreibungen vermitteln dies eindringlich, ebenso wie sie das sensorische Glücksgefühl danach glaubhaft zeigen. In den folgenden Tagen, so erfährt der Leser, wird daraus auch für Felices Begleiter eine Gewohnheit, den Morgen zu begrüßen.
Danach steigen sie ab, nehmen ein Schluck Milch bei Sosta, dem Milchbauern, und kehren zu einem frugalen Frühstück in Felices Hütte ein. Nüsse, Honig, Joghurt stehen auf dem Tisch, dazu Kräutertee mit einer Brise Salz. Den Caffè gibt es erst später in der Bar Gallo Cedrone. Am Abend versammelt sich dort im Auerhahn fast das ganze Dorf zum Austausch der neuesten Nachrichten oder auf eine Partie Scopa.
Bei einem Caffè oder einer Grappa sitzen dort Emilio Coniglio, Kaninchenzüchter und Felices bester Freund, Kevin, Mister Contadino Ticinese, mit seiner neusten Eroberung, Orazio Picasso, der Ansichten vom Dorf und den Bergen malt, aber auch Sabina, die Lehrerin, mit ihren Zwillingen Priska und Duska. Andere hingegen, besonders die alten Damen des Dorfes bleiben abends in ihren Häusern. Der Erzähler kommt auch ihnen in Begleitung Felices näher und lernt ihre Eigenheiten kennen. Die Nachbarin Vittorina, Witwe von Osvaldo, oder La Muta, deren Wortkargheit das Gegenteil von La Radio ist.
Nicht weniger schöne Namen gibt Andina den im Wortsinne ungebundenen Hunden Leonticas. Wir begegnen dem Bernhadiner-Bastard Furia, den Hunden des Milchbauern, Subaru und Ford und dem Kläffer Bobi.
Alle haben ihren Platz in Andinas Alpenidyll und allen steht, wenn es nach Felice geht, das gleiche Ende bevor. „Quando crepiamo diventiam tutti del compostaggio, tutti uguale, che il sangue è rosso per tutti, servi e padroni, belli e brutti, cretini dottori contadini e preti, tutti dentro un buco, due metri sotto terra e amen, e questa qui è una gran bella verità che è sempre esistita e mai cambierà.“ – Wenn wir krepieren werden wir alle zu Kompost, alle gleichermaßen, das Blut ist bei allen rot, bei Dienern und Herren, Schönen und Hässlichen, Dummköpfen, Gelehrten, Bauern und Priestern, alle landen in einem Loch, zwei Meter tief und Amen, das ist die schöne und einzige Wahrheit, so war es schon immer und daran wird sich nichts ändern.
Mit der Kirche hat Felice nichts am Hut, nicht erst seit seinen Monaten in Moskau. Dort beobachtete er einst zwei Männer, die in der Moskwa ihr Morgenbad nahmen. Wie dieser ferne, lange und ruhige Fluss, so sieht Felice sein Leben im Alter. Wie der Erzähler bin ich ihm gerne gefolgt und habe mich an der Ruhe, der Natur, aber auch an den humorvollen Weisheiten Felices erfreut. Anders als viele Alte kennt er kein Früherwarallesbesser. Im Gegenteil, als sein Begleiter ihn zu einem Besuch Bellinzonas einlädt, antwortet Felice auf die Frage, wie es früher dort war. „Era come adesso. Una bottega piena die cretini che si fan mungere come dei merluzzi.” – Es war wie jetzt. Ein Laden voller Dummköpfe, die sich wie die Dorsche melken lassen.
Andinas Leontica hingegen wird durch die Bindung seiner Bewohner an die Natur ein mystischer Ort der Besinnung, des Träumens und der Sehnsucht.