Delphine de Vigan manipuliert in ihrem neuen Roman „Nach einer wahren Geschichte“ den Leser mit Phantasie
Wahr, was ist das? Darüber wird nicht nur vor Gericht gestritten, denn jede erinnerte Wahrheit besteht mehr aus Zusammengereimten als aus unumstößlichen Fakten. Was also kann an einer Geschichte wahr sein? Oder an einem Roman nach einer wahren Geschichte? Darf ein Roman überhaupt wahr sein? Delphine de Vigan macht diese spannenden Metafragen zum Gegenstand ihres neuen nicht minder spannenden Romans mit dem suggestiven Titel Nach einer wahren Geschichte.
Die Schwierigkeit über Privates zu schreiben thematisierte die Autorin bereits in Das Lächeln meiner Mutter. Die Last des Erfolgs, den ihr dieser biographische Roman bescherte, schildert Vigan zu Beginn ihres neuen. Dessen Protagonistin Delphine trägt nicht nur den gleichen Vornamen wie die Autorin, sie lebt wie diese mit zwei fast erwachsenen Kindern in Paris, hat einen Partner, der im Buchbetrieb tätig ist, und arbeitet als Schriftstellerin. Alleine wieviel von der Geschichte, die dieses Grundgerüst trägt, aus Fiktion oder Fakten konstruiert ist, bleibt offen. Wir wissen also nicht, ob Delphine de Vigan wie ihre Figur Delphine tatsächlich eines Abends auf einer Party einer Frau begegnete, die bald zur Freundin und schließlich zur unentbehrlichen Beraterin wird. Auch wenn dies genau die Frage ist, die der Leser laut Vigan, so dringend zu wissen wünsche.
Diese Andere, in der Geschichte nur mit der Initiale L. bezeichnete, diese Elle bleibt jedoch mysteriös. Im Laufe des Romans lockt sie den Leser zu verschiedenen Interpretationen. Mal scheint sie pure Fantasie, mal eine schizophrene Ausgeburt, dann ein Geist oder eine Traumgestalt. In der Art wie sie sich in Delphines Leben drängt, erweist sie sich sogar als Stalking-Albtraum. Er beginnt als Delphine erschöpft von den unzähligen Lesereisen, Diskussionsrunden und Interviews einen anonymen Brief erhält. Kaum hat sie ihn gelesen, ruft ausgerechnet ihre Partybekanntschaft L. an, der sie erleichtert von den Drohungen des Briefeschreibers berichtet. Erst viel später fragt sich Delphine, woher L. ihre Handynummer hatte.
Die beiden Frauen kommen sich näher, erzählen sich von ihrem Leben. Anders als Delphine lebt L. alleine, sie hat keine Kinder und keinen festen Partner. Auch sie ist Autorin, eine Ghostwriterin für Schauspieler und andere Stars. Sie ist geübt durch Fragen in das Innere eines Anderen zu dringen, fast wie eine Psychoanalytikerin, denkt Delphine. „Es dauerte nie lange, bis L. die richtige Frage stellte oder die Bemerkung machte, an der ihr Gesprächspartner merkte, dass nur sie imstande war, ihn zu verstehen und zu trösten. L. wusste nicht nur auf den ersten Blick den Grund der Verstörung herauszufinden, vor allem fand sie den Riss, der, so tief er auch vergraben sein mag, in jedem von uns steckt.“ Delphines Verstörung ist die Schreibhemmung, die der überbordende Erfolg ihres letzten Romans ausgelöst hat. Es fällt ihr schwer, die Kraft für ein neues Projekt aufzubringen, trotz Unterstützung der neuen Freundin. Doch als sie dieser endlich ihre neue Idee präsentiert, ein Roman über die Manipulation von Darstellern in Reality-Shows, rät L. ihr vehement ab. Schriftsteller sollten sich dem Autobiographischen widmen und alle anderen Themen den Drehbuchschreibern überlassen. Literatur sollte vom wahren Leben erzählen, nicht davon ablenken. Doch L.s Forderung nach einer „wahren Geschichte“ treibt Delphine von der Schreibhemmung in die totale Schreibphobie. In ihrer Depression ist sie keines einzigen geschriebenen Worts mehr fähig, sei es eine noch so banale Notiz. L. wird zu ihrer rechten Hand, sie übernimmt die Beantwortung aller Anfragen, auch die Briefe von Delphines Freunden, die sie so von ihr fernhalten kann. L. isoliert sie, sie führen eine exklusive Freundschaft, weder Delphines Kinder noch ihr Freund François bekommen L. zu Gesicht. Je länger ihre Freundschaft dauert um so mehr schöpft Delphine Verdacht, daß etwas mit L. nicht stimmt. Dabei erschien sie ihr anfangs als Idol. „L. war vollkommen.“ „L. war genau die Sorte Frau, die mich fasziniert.“ „Wie lange braucht man, um so eine Frau zu werden?“ Doch anstatt sich L. anzugleichen, ist es L. die Delphine immer ähnlicher zu werden scheint. Ihr Aussehen, die Art sich zu bewegen und zu sprechen. Delphine bezeichnet es in der Rückschau, aus der sie diese ganze Geschichte erzählt, als „Behexung“. L. scheint die Symbiose anzustreben. Als sie jedoch bemerkt, daß Delphine sie allmählich durchschaut und ihr Verhalten für einen neuen Roman dokumentiert, versucht sie die Identität der Freundin vollkommen zu okkupieren, bis zur letzten Konsequenz.
Vigans hochreflektiver Roman über Identität und Täuschung ist gleichzeitig eine kluge Auseinandersetzung mit dem Schreiben und dem Lesen. Sie zeigt, aus welchen inneren wie äußeren Quellen sich Literatur speist. Stets ist es die Kombination aus Erlebtem und Erfundenem und sei die Geschichte noch so wahr. Ihr Roman übt auf augenzwinkernde Weise Medien- und Literaturkritik. Die spannende psychologische Handlung unterbricht sie mit Überlegungen zur Manipulationsmacht von Literatur. Sie kritisiert die inflationäre Mode der Memoirs und ermutigt die Leser zur kritischen Rezeption sogenannter authentischer Stories. Anders als ihre Figur L. verlangt Vigan für die Literatur Phantasie und erweist ihr durch die Details aus fremden Büchern und Filmen in diesem Roman die größte Reverenz.
Da mir dieser Roman in seiner Hörversion vorlag, sind mir ohne die Möglichkeit des Nachschlagens, vor allem Sie von Stephen King, David Vanns Im Schatten meines Vaters und Bryan Singers Film Die üblichen Verdächtigen in Erinnerung geblieben. Das Hörbuch ist trotzdem empfehlenswert. Nie war es schöner, die Geschichte zweier Frauen von einer einzigen vortragen zu lassen. Martina Gedeck verleiht der Erzählerin wie ihrer Gegenspielerin einen individuellen, stimmigen Ton. Es gelingt ihr die zeitweise fast bis zur Verschmelzung vollzogene Annäherung hörbar zu machen.