Erinnern ist Licht“

In „Ein junger Herr in Neapel“ erzählt Andrea Giovene vom Erwachen eines jungen Schriftstellers

Zur Spit­ze hin hat­ten Feuch­tig­keits­fle­cken gan­ze Ge­ne­ra­tio­nen über­wäl­tigt, sie gli­chen gan­zen Schwär­men mit ei­nem Schrot­schuss durch­sieb­ter Spat­zen. Der Baum kräu­sel­te sich, er trüb­te sich ein und schlug Wel­len. Die jüngs­ten Ge­ne­ra­tio­nen wa­ren am un­le­ser­lichs­ten. Und ich? Wie soll­te ich mich da auf sei­ner Spit­ze ein­nis­ten, die nur in die Zim­mer­de­cke hin­ein hö­her wach­sen konn­te, im Leeren?“

Dies sind die Ge­dan­ken des zu Be­ginn des Ge­sche­hens 9‑jährigen Ich-Er­zäh­lers in An­drea Gio­ve­nes (1904–1995) „Ein jun­ger Herr in Nea­pel“, dem ers­ten Teil sei­ner Ro­man­fol­ge „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, wel­che in den Jah­ren 1903–1957 spielt. Als Giu­lia­no und sei­ne klei­ne Schwes­ter Chec­chi­na durch die zer­fal­len­den Fluch­ten des Fa­mi­li­en­pa­laz­zos strei­fen, ge­lan­gen sie zum Stamm­baum, „dem muf­fi­gen To­tem“, das die kom­plet­te Wand ei­nes Sa­lons ein­nimmt. Die Be­schrei­bung der ent­le­ge­nen, ver­staub­ten Räu­me er­in­nert an die Ent­de­ckungs­tour von Tancre­di und An­ge­li­ca im Som­mer­sitz der Sa­li­na. Zwar spielt Lam­pe­du­sas „Il Gat­to­par­do“ ein hal­bes Jahr­hun­dert vor „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, doch steht in bei­den Ro­man­wer­ken der Zer­fall ei­nes Adels­ge­schlechts im Vor­der­grund. Ei­ne wei­te­re Par­al­le­le be­steht in der per­sön­li­chen Ver­bin­dung der Schrift­stel­ler zu ih­rem Su­jet. Giu­sep­pe To­ma­si di Lam­pe­du­sa ent­stammt ei­nem si­zi­lia­ni­schen Adels­ge­schlechts, An­drea Gio­ve­ne di Gi­ra­so­le ei­nem nea­po­li­ta­ni­schen. Die Trans­for­ma­ti­on, die Lam­pe­du­sa mit dem be­rühm­ten Satz, „Wenn al­les blei­ben soll, wie es ist, muß sich al­les än­dern“, an­deu­tet, zeigt Gio­ve­ne durch die Eman­zi­pa­ti­on sei­nes Er­zäh­lers. Bei­de Au­toren be­rich­ten vom Schick­sal ei­ner Fa­mi­lie nach ein­schnei­den­den Er­in­nern ist Licht““ weiterlesen

Vier Arten, den Leser zu langweilen

In „Vier Arten, die Liebe zu vergessen“ besingt Thommie Bayer die Macht der Musik

Thommie BayerWas ist ei­gent­lich gu­te Li­te­ra­tur? Ne­ben Schön­heit in Spra­che und Stil, er­war­te ich ei­ne stim­mi­ge Kon­struk­ti­on und das Feh­len von Kli­schees. Der Au­tor muss mich mit sei­nen Ideen be­geis­tern, mir Neu­es zei­gen, mich bes­ten­falls in­spi­rie­ren, nur ei­nes darf er nicht, mich lang­wei­len. Dies ge­schah mir mit Thom­mie Bay­ers Ro­man Vier Ar­ten, die Lie­be zu ver­ges­sen. Ei­ne Lek­tü­re, die mir un­ser seit nun mehr 10 Jah­ren be­stehen­der bunt­ge­misch­ter Li­te­ra­tur­kreis auferlegte.

So wie der Ro­man vier Ver­su­che der Lie­bes­über­win­dung schil­dert, wer­de ich vier Fak­to­ren auf­zei­gen, die mich am meis­ten an ihm stö­ren. Glaubt mir, es gibt noch mehr.

Wie so oft, um nicht zu sa­gen wie im­mer, fängt al­les am An­fang an, auch wenn in die­sem Fall der An­fang ein En­de ist. Es ist ei­ne Be­er­di­gung, die Tho­mas, Bernd, Wag­ner und Mi­cha­el, ehe­ma­li­ge Schul- und San­ges­freun­de, zusammenführt.

Zu­vor be­glei­tet der Le­ser sie auf der Fahrt, die sich je­der der Re­cken al­lei­ne durch „Vier Ar­ten, den Le­ser zu lang­wei­len“ weiterlesen

Pickel, Priester, Partydrogen

Skippy stirbt, eine Internats- und Gesellschaftskritik von Paul Murray


Zu die­sem Buch, wel­ches der Kunst­mann-Ver­lag in ei­ner bi­blio­gra­phisch auf­wen­dig ge­stal­te­ten Aus­ga­be edi­tiert hat, ha­be ich mich von ei­nem be­geis­ter­ten Bü­cher­vo­gel über­re­den las­sen, denn Er­leb­nis­se pu­ber­tä­rer In­ter­nats­in­sas­sen sind nicht un­be­dingt mein Me­tier. Das fiel mir schon bei Tschick auf, der sich ge­ra­de­zu lo­cker run­ter le­sen lässt, was man von dem 780 Sei­ten star­ken Schwer­ge­wicht Paul Mur­rays, der die Träu­me und Alb­träu­me sei­ner Prot­ago­nis­ten auf dras­ti­sche Wei­se schil­dert, schwer­lich sa­gen kann. Der Ro­man wird zwar man­cher­or­ten als äu­ßerst kurz­wei­lig ge­lobt, für mei­nen Ge­schmack weist er je­doch deut­li­che Län­gen auf.

Die Ge­schich­te spielt in ei­nem ka­tho­li­schen In­ter­nat Dub­lins zu Zei­ten der Fi­nanz­kri­se. Die Schü­ler­schaft spie­gelt das üb­li­che Bild männ­li­cher Ju­gend­li­cher wäh­rend das Leh­rer­kol­le­gi­um äl­te­re Pries­tern und halb­her­zi­ges Per­so­nal auf­weist. Ei­ner sei­ner jün­ge­ren, welt­li­chen Mit­glie­der ist der ehe­ma­li­ge Ban­ker Ho­ward. Aus sei­nem al­ten Job ge­feu­ert, un­ter­rich­tet er nun an sei­ner eins­ti­gen Schu­le Ge­schich­te. Es ge­lingt ihm kaum sich und sei­ne The­men durch­zu­set­zen, wor­an nicht nur der ver­meint­lich drö­ge Stoff und sei­ne un­in­spi­rier­te Ver­mitt­lung, son­dern auch sein Ruf als „Ho­ward the Co­ward“, Ho­ward Ha­sen­herz, zählt. Wie er zu die­sem Spott­na­men kam, er­schließt sich im Lauf des Ro­mans. Erst als Ho­ward von ei­ner schö­nen Fee, ei­ner eben­falls aus dem Ban­ken­milieu in die Schu­le ge­ra­te­nen at­trak­ti­ven Aus­hilfs­kraft, ei­nen ent­schei­den­den Lek­tü­re­tipp er­hält, er­fah­ren so­wohl er wie die Schü­ler ei­nen Motivationsschub.

Von den Schü­ler, die al­le von Pu­ber­täts­nö­ten ge­plagt wer­den, lei­det der trau­ri­ge Skip­py be­son­ders. Trau­ma­ti­siert durch die schwe­re Krank­heit sei­ner Mut­ter herr­schen zwi­schen ihm und sei­nem Va­ter Sprach­lo­sig­keit. Nö­te, die die Leh­rer nicht er­ken­nen kön­nen, weil sie zu sehr mit ih­ren ei­ge­nen Pro­ble­men be­schäf­tigt sind. So sind auch all die an­de­ren Jungs auf sich al­lei­ne ge­stellt, das di­cke Ge­nie, der Mi­ni­ma­cho ita­lie­ni­scher Ab­stam­mung, die rital­in­ver­seuch­ten Un­ter­stu­fen­schü­ler, die so­zi­al be­nach­tei­lig­ten Pau­sen­hof­dea­ler. Ih­re weib­li­chen Al­ters­ge­nos­sen in der vis-à-vis ge­le­ge­nen Non­nen­schu­le ha­ben es nicht leich­ter. Sie ha­dern mit ih­rem Äu­ße­ren bis zur Ma­ger­sucht, sind se­xu­el­lem Druck aus­ge­setzt, in­tri­gie­ren ge­gen­ein­an­der. Auch sie fin­den bei den Er­wach­se­nen kei­nen Halt.

Paul Mur­ray, des­sen Ro­man mit dem Tod sei­nes Hel­den ein­setzt, er­zählt nicht nur des­sen Mar­ty­ri­en, zu de­nen auch ei­ne Love­sto­ry ge­hört, son­dern  er schil­dert vor al­lem ein Dra­ma von Grup­pen­zwang, Schuld und Heu­che­lei. Aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven er­fährt der Le­ser von Ver­nach­läs­si­gung und Er­pres­sung, von de­bi­len Di­rek­to­ren, de­nen der Ruf der Schu­le über al­les geht, von Müt­tern, die ih­re Töch­ter an­statt mit Zu­wen­dung mit ei­nem Fri­seur­be­such trös­ten, von dum­men Sport­leh­rern und ver­meint­lich fei­gen, aber ei­gent­lich ganz schön mu­tig schlau­en Ge­schichts­leh­rern, von pä­do­phi­len Pries­tern, kurz von per­sön­li­cher und ge­sell­schaft­li­cher Krise.

Das geht, wie die Auf­zäh­lung zeigt, nicht oh­ne die üb­li­chen Kli­schees zu be­mü­hen. Viel­leicht liegt es dar­an, viel­leicht auch an der Län­ge des Bu­ches, ganz be­stimmt aber liegt es an mir, daß er mir nicht ganz so gut ge­fal­len hat. Der Ro­man war mir zu lang und mir fehl­te die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur. Al­lei­ne Ho­ward fühl­te ich mich manch­mal na­he, be­son­ders bei sei­ner Lek­tü­re von Ro­bert Ran­ke-Gra­ves, Good­bye to All That , über des­sen Er­leb­nis­se im 1. Welt­krieg. Mit Die Wei­ße Göt­tin zi­tiert Mur­ray noch ein wei­te­res emp­feh­lens­wer­tes Buch die­ses Schriftstellers.

Für Ju­gend­li­che und al­len an­de­ren, die noch mit der Schu­le le­ben, kann die­ser Ro­man ei­ne loh­nen­de Lek­tü­re sein. Den­je­ni­gen, die da­von nichts mehr wis­sen wol­len, sei­en die Bü­cher von Ro­bert Ran­ke-Gra­ves ans Herz gelegt.