Endzeit-Elegie

Valerie Fritsch beschreibt in „Winters Garten“ mit pathetisch schönen Bildern die Vergänglichkeit

fritschEr er­in­ner­te sich an die Som­mer bei den Groß­el­tern wie an ein Kö­nig­reich, aus dem man ver­trie­ben wor­den war. Er dach­te an die But­ter­blu­men und die Ma­ril­len­knö­del. Die hand­tel­ler­gro­ßen Hol­ler­blü­ten ein­ge­legt in Zu­cker. (…) Er rief die Bil­der der Wie­sen zu­rück, und ihm schien, als sä­he er, wie im Gar­ten glei­cher­ma­ßen die Köp­fe der Lö­wen­zäh­ne und die Häup­ter der Groß­el­tern erst weiß wur­den und dann kahl im Wind der Jah­re. Wie die­se ge­sun­den Men­schen mit den Ap­fel­ba­cken und den Zahn­lü­cken schrumpf­ten. Wie die led­ri­gen Bau­ern­hän­de auf­ris­sen und blaue Adern im Mar­mor der blei­chen Haut der Al­ten wuch­sen. Wie al­les alt wur­de. Wie vie­les verschwand.“

Bild­reich, wort­ge­wal­tig und poe­tisch klin­gen be­reits die ers­ten Sei­ten von Va­le­rie Frit­schs Ro­man Win­ters Gar­ten. Sie kon­fron­tie­ren den Men­schen mit sei­ner ei­ge­nen Ver­gäng­lich­keit, mit der sei­nes Kör­pers und mit der des Geis­tes, ge­spie­gelt in sei­ner Haut, was die Au­torin über­zeu­gend aus­zu­drü­cken weiß.

Das scheint er­staun­lich an­ge­sichts des Al­ters von Frit­sch, die als weit­ge­reis­te Fo­to­gra­fin auf un­ge­wöhn­li­che Er­fah­run­gen blickt. Auch ihr un­längst auf dem Bach­mann-Wett­be­werb vor­ge­stell­ter Text spie­gel­te dies.

Mit „Win­ters Gar­ten“ legt sie ei­nen End­zeit­ro­man vor, bei dem die Zi­vi­li­sa­ti­ons­flucht das „End­zeit-Ele­gie“ weiterlesen

Suche nach Frieden

Bernhard Schlinks Roman Die Frau auf der Treppe über Dinge, die nicht zu Ende gebracht wurden

Ich nei­de der Ju­gend nicht, dass sie das Le­ben noch vor sich hat; ich will es nicht noch mal vor mir ha­ben. Aber ich nei­de ihr, dass die Ver­gan­gen­heit, die hin­ter ihr liegt, kurz ist. Wenn wir jung sind, kön­nen wir un­se­re Ver­gan­gen­heit über­schau­en. Wir kön­nen ihr ei­nen Sinn ge­ben, auch wenn es im­mer wie­der ein an­de­rer ist. Wenn ich jetzt auf die Ver­gan­gen­heit zu­rück­schaue, weiß ich nicht, was Last ist und was Ge­schenk war, ob der Er­folg den Preis wert war und was sich in mei­nen Be­geg­nun­gen mit Frau­en er­füllt und was sich mir ver­sagt hat.“

Der Mo­tor die­ser Ge­schich­te ist ein Ge­mäl­de, der Akt ei­ner Frau, die „nackt, blass, blond vor grau­grü­nem Hin­ter­grund“ ei­ne Trep­pe her­ab schrei­tet. Ein mo­der­nes, En­de der Sech­zi­ger Jah­re ge­schaf­fe­nes Werk will ein Ge­gen­ent­wurf zu Mar­cel Duch­amps abs­trak­tem „Akt, ei­ne Trep­pe hin­ab­stei­gend“ sein. Ein Be­leg, daß auch in der mo­der­nen Kunst Ge­gen­ständ­lich­keit dar­stell­bar ist. Das Mo­tiv und „Su­che nach Frie­den“ weiterlesen

Mangelmann auf Schlingerkurs

In seinem neuen Roman „Bei Regen im Saal“ überwindet Genazino die Zumutungen des Alltags

Genazino_978-3-446-24596-9_MR1.inddVon Be­ruf war ich Re­zep­tio­nist, ge­le­gent­lich Bar­mi­xer, aber in letz­ter Zeit ar­bei­te­te ich über­wie­gend als Über­win­der. Ich half Men­schen, ih­re zu­wei­len auf­dring­li­chen oder dümm­li­chen Er­leb­nis­se schnel­ler als ge­wohnt zu ver­ges­sen. Ich ging mit den Leu­ten spa­zie­ren, wir be­such­ten Floh­märk­te, wir schau­ten uns Kunst­aus­stel­lun­gen an und re­de­ten über sie. Ich gab den Men­schen Tipps für Er­leb­nis­se, die ih­nen al­lein ge­hör­ten. (…) Das meis­te, was Men­schen heu­te zu­stieß, er­leb­ten sie als Teil ei­ner rie­si­gen Mas­se; des­we­gen konn­te man al­len­falls von Kon­fek­ti­ons­er­leb­nis­sen sprechen.“

Der Ich-Er­zäh­ler, des­sen Vor­na­men Rein­hard der Le­ser erst ge­gen En­de er­fährt, ist nicht der ein­zi­ge Mann im neu­en Ro­man Bei Re­gen im Saal von Wil­helm Gen­a­zi­no. Zwei wei­te­re männ­li­che Ne­ben­fi­gu­ren, oder bes­ser Ne­ben­buh­ler, be­ein­flus­sen das Schick­sal des Mit­te Vier­zig­jäh­ri­gen, der oft­mals schon viel äl­ter wirkt.

Rein­hard lebt in ei­ner Zwei­er-Be­zie­hung mit Son­ja ei­ner Fi­nanz­be­am­tin im ge­ho­be­nen Dienst. Trotz ge­trenn­ter Woh­nun­gen be­fin­det sich ihr Ver­hält­nis in ei­nem „Man­gel­mann auf Schlin­ger­kurs“ weiterlesen

Old and Dreamy

Judith Kuckart schreibt über die Wunschbedrängnis in der Lebensmitte

Wer sich der Le­bens­mit­te nä­hert, dem rü­cken Wün­sche und Sehn­süch­te auf die Pel­le. Sie ent­ste­hen in der Ju­gend, wenn man sich fort fan­ta­siert aus dem El­tern­haus, aus dem Städt­chen, aus der gan­zen mie­fi­gen pie­fi­gen Pro­vinz. Doch dann mo­dern die Träu­me un­ter dem Laub, das Jahr um Jahr grö­ße­re Hü­gel bil­det, bis die Er­kennt­nis der End­lich­keit sie ausgräbt.

Auch die Fi­gu­ren in Ju­dith Kuckarts neu­em Ro­man „Wün­sche“ be­sit­zen sol­che Sehn­suchts­zie­le, de­nen sie sich auf ver­schie­de­ne Wei­sen nä­hern. Ih­re Stim­men po­si­tio­niert die Au­torin im Mit­tel­teil ih­rer drei­tei­li­gen Kon­struk­ti­on, die vom ers­ten und letz­ten Tag der neun­mo­na­ti­gen Hand­lung um­fasst wird.

Es ist Sil­ves­ter in ei­ner Stadt im Ber­gi­schen, als Ve­ra Con­rad die Ge­le­gen­heit „Old and Dre­a­my“ weiterlesen

Skandinavisches Schweigen

Über einen Sommer des Abschieds schreibt Per Petterson in „Pferde stehlen

Ein­sa­me Spa­zier­gän­ge in der Na­tur be­för­dern oft den Ge­dan­ken­fluss und die dar­in auf­tau­chen­den Er­in­ne­run­gen. So auch bei Trond, des­sen Ta­ge durch re­gel­mä­ßi­ge Run­den mit dem Hund Ly­ra struk­tu­riert sind. Trond leb­te schon an vie­len Or­ten, nun hat er sich mit 67 Jah­ren in ei­ne al­te Hüt­te am See zu­rück­ge­zo­gen. Ein klei­ner Fluss, der manch­mal Fo­rel­len führt, mün­det in die­sen. Dort liegt ge­ra­de noch in Blick­wei­te die nächs­te Hüt­te die­ser ein­sa­men Ge­gend. Die bei­den Nach­barn ha­ben ei­ni­ges ge­mein, Al­ter, Hun­de, Na­tur und Ein­sam­keit. Und noch mehr.

Im Lauf der Ge­schich­te stellt sich her­aus, daß sie sich in ih­rer Kind­heit kann­ten. Som­me­r­erin­ne­run­gen an ein klei­nes nor­we­gi­sches Dorf an der schwe­di­schen Gren­ze und ih­re Be­zie­hun­gen zu den we­ni­gen Be­woh­ner ver­bin­den sie. Doch wol­len sie sich dar­an er­in­nern? Bis auf ei­ne knap­pe Ver­stän­di­gung über das ge­gen­sei­ti­ge Wie­der­erken­nen und dem Er­stau­nen aus­ge­rech­net in die­ser Ein­öde nun zu Nach­barn ge­wor­den zu sein, fin­det zu­nächst kei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on über das Ver­gan­ge­ne statt.

Trond bleibt mit sei­nen un­ge­such­ten Er­in­ne­run­gen al­lei­ne. Durch die­se er­lebt er noch ein­mal den Som­mer von einst, in dem sich so viel ver­än­der­te. Trond war fünf­zehn und ver­brach­te wie schon oft die Som­mer­fe­ri­en mit sei­nem Va­ter. Er streun­te mit dem Nach­bars­jun­gen durch die Ge­gend, half bei der Land­ar­beit und beim Holz­ma­chen. Doch es gibt auch schmerz­haf­te Er­in­ne­run­gen, zu de­nen be­son­ders das En­de der un­be­schwer­ten Kind­heit zählt.

Ver­lust und Ab­schied präg­ten den Som­mer des Fünf­zehn­jäh­ri­gen. Als Er­wach­se­ner lebt er ein er­folg­rei­ches Le­bens, nicht nur in wirt­schaft­li­cher und so­zia­ler Hin­sicht, son­dern auch er­folg­reich im Ver­such zu Ver­ges­sen. Erst die Be­geg­nung mit Lars führt ihn wie­der zu den un­ge­klär­ten Fragen.

Dem nor­we­gi­schen Au­tor Per Pet­ter­son ge­lin­gen bild­haf­te, ru­hi­ge Na­tur­dar­stel­lun­gen, die den Le­ser so­fort in den Som­mer Nor­we­gens ver­set­zen. Das Auf­ge­hen und die Be­frie­di­gung in land­wirt­schaft­li­cher Ar­bei­ten er­in­nert an ei­nes der schöns­ten Flow­er­leb­nis­se der Welt­li­te­ra­tur in „An­na Ka­re­ni­na”. Als wei­te­re li­te­ra­ri­sche Vor­bil­der, ne­ben Tol­stoi, führt Pet­ter­son Di­ckens und Rim­baud an.

Durch die Er­in­ne­run­gen, die sich im Wech­sel zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart ent­wi­ckeln, ent­steht ei­ne sich stän­dig stei­gern­de Span­nung. Aber ge­ra­de die­se Span­nung, die Pet­ter­son so sub­til auf­baut, löst der Au­tor nicht ein. So blei­ben vie­le Fra­gen of­fen. In­ne­re Vor­gän­ge wer­den kaum be­nannt, Mo­ti­ve und Ver­hält­nis­se blei­ben un­klar. Über al­lem liegt Schwei­gen, skan­di­na­vi­sches Schwei­gen. Stil­le, nach der Trond sich sein gan­zes Le­ben lang sehnte.

Per Pet­ter­son, Pfer­de steh­len,  über­setzt v. Ina Kro­nen­ber­ger, Fi­scher Ta­schen­buch Ver­lag, 6. Aufl. 2008

Die Alters-Sex-Lüge

In „Der letzte Geschlechtsverkehr” beklagt Helke Sander die ungerechte Rollenverteilung


„Für Leu­te in ih­rem Al­ter gab es den Aus­druck „Jen­seits von Gut und Bö­se“. Frü­her, vor noch nicht all­zu lan­ger Zeit, sag­te man das schon von Vierzigjährigen.“

Die Fil­me­ma­che­rin und Au­torin Hel­ke San­der,„ge­bil­de­te Mit­tel­eu­ro­päe­rin der Mit­tel­klas­se“ und „Teil­neh­me­rin am se­xu­el­len Auf­bruch“, hat ein Buch über den letz­ten Ge­schlechts­ver­kehr und an­de­re Aus­sich­ten aufs Al­tern ver­fasst. Ih­re je­wei­li­gen Ge­schich­ten sind eben­so ab­wechs­lungs­reich wie ih­re Prot­ago­nis­tin­nen. Die­se sind auf der Su­che nach Sex, lau­schen Tan­tra­tö­nen, sin­nie­ren über exis­ten­ti­el­le Ein­sam­keit und all­mäh­li­che Triebverflüchtigungen.

Die Hel­din der ers­ten Ge­schich­te ar­bei­tet als Bi­blio­the­ka­rin. Sie möch­te ger­ne ei­nen Mann ken­nen­ler­nen, was ihr im be­haup­tet män­ner­fer­nen Buch­mi­lieu kaum ge­lin­gen will. Da nüt­zen auch kei­ne Le­sun­gen über Schwarz­wald­sur­vi­val oder ähn­li­che ver­meint­lich män­ner­af­fi­ne The­men. Sie greift in ih­rer Not schließ­lich zum al­ler­letz­ten Mit­tel und ant­wor­tet gänz­lich un­ro­man­tisch auf ei­ne An­non­ce. Was dann ge­schieht, er­zählt San­der kurz­wei­lig und nicht oh­ne Selbst­iro­nie und zum Glück nicht ganz aus. Aber?

Wie es der Le­se­teu­fel will wur­de mir ei­ni­ge Ta­ge zu­vor der Ro­man „Al­te Lie­be“ von Hei­den­reich und Schroe­der zu­ge­steckt. Auch hier lei­tet die Prot­ago­nis­tin ei­ne Bü­che­rei und or­ga­ni­siert Le­sun­gen. Ei­nen Mann hat sie zwar zu Hau­se sit­zen, mit dem ist es aber nicht mehr sehr auf­re­gend. Als die bei­den ih­re al­te Lie­be neu ent­deck­ten,  war’s bam­bus­blü­ten­gleich dann auch bald voll­kom­men aus und vor­bei. Er­staunt hat mich die Häu­fung von Kli­schees in die­sen bei­den the­men­na­hen, aber in Stil und An­spruch doch sehr un­ter­schied­li­chen Werken.

San­der dringt tie­fer in das Su­jet ein. Ihr Haupt­an­lie­gen ist die Si­tua­ti­on der äl­te­ren, meist al­lein­ste­hen­den Frau, die ver­sucht ih­re nicht nur kör­per­li­che Ein­sam­keit zu be­wäl­ti­gen. Oft er­in­nern die neun Ge­schich­ten des 144 Sei­ten zäh­len­den Ban­des an die Fall­bei­spie­le der Rat­ge­ber­li­te­ra­tur. Ver­stärkt wird dies durch die meist nur mit In­itia­len be­zeich­ne­ten Fi­gu­ren. Die ti­tel­ge­ben­de Er­zäh­lung über­zeugt mit ei­ner dif­fe­ren­zier­ten Sicht auf die von den Me­di­en pro­pa­gier­te An­ti-Aging-Se­xua­li­tät und die Selbst­be­stim­mung des Ein­zel­nen. Doch nicht in al­len Ge­schich­ten ste­hen die­se Aspek­te im Vordergrund.

Wir le­sen auch von ei­ner cou­ra­gier­ten Al­ten, ‑so­fort er­scheint In­ge Mey­sel in der Rolle‑, die selbst­be­wusst und vol­ler Chuz­pe den Rol­la­tor-Ram­bo gibt. In ei­ner der letz­ten Ge­schich­ten ver­brin­gen zwei al­tern­de Hoch­schul­do­zen­ten ih­re Ers­te Klas­se Bahn­fahrt bei Wein und Schum­mer­licht und be­kla­gen die man­geln­de Or­tho­gra­fie­fes­tig­keit und se­xu­el­le Ab­ge­klärt­heit ih­rer Stu­den­ten. Frü­her war al­les besser.

Viel­leicht sind die­sem kul­tur­pes­si­mis­ti­schen Cre­do auch die üb­ri­gen Be­zie­hungs­ge­schich­ten ge­schul­det. Wie zu Zei­ten der Frau­en­li­te­ra­tur er­zäh­len sie von ge­schei­ter­ten Ehen und bin­dungs­un­fä­hi­gen Män­nern. Über­haupt die Män­ner, hier bleibt kein Kli­schee un­ge­nannt. Be­son­ders stört mich, die im­mer wie­der auf­tau­chen­de Un­ter­stel­lung al­le Män­ner über 50 wür­den sich von ih­ren gleich­alt­ri­gen Part­ne­rin­nen tren­nen und sich den schon be­gie­rig auf sie war­ten­den jun­gen Fri­schen zu­wen­den. Das hat we­der et­was mit Frau­en­be­we­gung und schon gar nichts mit Frau­en­so­li­da­ri­tät zu tun.

Nichts­des­to­trotz ha­be ich San­ders Buch nicht oh­ne Ver­gnü­gen ge­le­sen und dach­te an die gu­te al­te Zeit, als al­le Män­ner noch per na­turam un­zu­läng­lich waren.