Walser zeigt in „Ein sterbender Mann“ viele Facetten seiner Literatur
„Ich schrieb ehrgeizlos. Ich schrieb, wie mir zumute war. Die Leute lesen’s gern. Immer noch. Literatur, Dichtung, keine Spur. Mich versteht jeder.“
Auf dem Vorsatzblatt seines neuen Romans dankt Martin Walser seiner Unterstützerin Thekla Chabbi. Ob man sie kennen muss, beantwortet rasch eine Suche im Internet. Sie offenbart, daß sich beide 2014 auf einem Kongress in Heidelberg kennenlernten und wie es zur Kooperation kam.
„Ein sterbender Mann“, so der Titel des neuesten Werks, widmet Walser dem Tod, auch und vor allem dem selbstbestimmten. Diesem sieht sein Held, Theo Schadt, nicht wegen seiner 72 läppischen Lenze ‑wie man angesichts des 89-jährigen Verfasser sagen darf- entgegen. Ein Verrat durch den besten Freund zerstörte seine Existenz, die geschäftliche und die männliche, wie er später gesteht. „Ich kann nicht leben, wenn das, was mir passiert ist, möglich ist“, entscheidet Schadt. Dann sitzt er im Tangoladen seiner Frau und recherchiert zwischen Boleros und hochhackigen Schuhen nach effektiven Tötungstechniken. Hilfe findet Theo Schadt in einem Suizidforum. Von dem virtuellen Treffpunkt all’ derer, denen „nichts mehr grünen kann“ –hier klärt sich die Rolle der zu Beginn Genannten- erfuhr Walser durch Chabbi. Mehr noch, im privaten Mail-Verkehr schlüpft sie in die Rolle einer Protagonistin und antwortet so dem Autor wie seiner Figur.
Walser schiebt das Metakarussell seines Briefromans gehörig an. Schon im ersten Kapitel, in dem Schadt den Verrat ausführlich und mit sieben Postscripta schildert, wendet er sich an den „Werten Schriftsteller“. Der Autor Martin Walser erfindet also die Figur Theo Schadt, die sich wiederrum einem Schriftsteller erklärt. Begründet wird dies mit Distanzgewinn: „Jetzt zu Theo Schadt. Ich hoffe, er helfe mir, Unerträgliches zu ertragen. Alles sollte ihm zugemutet werden, nicht mir!“ Die Volten bilden allerdings auch das ab, was im Hirn des Lesers entstehen mag, der zwar einen Roman liest und natürlich niemals den Autor mit seinem Erzähler verwechseln würde, sich in diesem speziellen Fall aber mehr als einmal fragt, ob nun Walser, Schadt oder der Schriftsteller zu ihm spricht.
Nach der Lektüre des ersten Kapitels sind wir über Schadts Schaden in Kenntnis gesetzt. Wir erfahren, wie er von seinem besten Freund Carlos verraten wurde, wo er ihn einst kennenlernte, was die beiden verbindet und welche politische Gesinnung sie trennt. Am Ende lesen wir den ersten Forumsbeitrag von Theo Schadt bei den Suizidalen, den er aus dem Forum „wieder herauskopiert“ hat.
Theo Schadt ist oder besser war nicht nur erfolgreicher Leiter seiner Firma Patente&Mehr, sondern wie sein Freund Carlos Kroll Schriftsteller. Allerdings widmet er sich nicht wie dieser der Lyrik, sondern verfasst nebenbei Ratgeber. Es war die Schriftstellerei, die sie zusammenführte, besser der gemeinsame Verlag. Dessen Leiterin, Melanie Sugg war einst mit Porno-Poesie erfolgreich. Walser weiß auch in diesem Werk mit sprechenden Namen zu amüsieren. Neben Schadt und Sugg treten Schumm auf, Theos ärgster Konkurrent, der ihm dank Carlos das lukrative Geschäft mit dem amerikanischen Pharmakonzern ruinierte, und Sina Baldauf. Ihr schreibt er, nachdem sie im Tangoladen „die grellste Helle“ entfachte. Von ihr träumt er vielleicht, sie möge bald auf seinem Schoß sitzen, und doch ist sie bald auf und davon. Zuvor jedoch sorgt sie für handlungsreiche Szenen in dem sonst eher reflektierenden Roman. Sina tanzt, Tango natürlich, in München, in Rom und in Algier. Sina begegnet anderen Männer, Tangotänzern, und einem verführerischen Schweizer. Als sie dies Schadt schreibt, empfindet er Eifersucht. Grund dafür hat er eigentlich nicht, denn auch Sina trägt sich mit Todesgedanken. Auch sie besucht das Selbstmordforum, hat dort Kontakt mit Schadt, man könnte es auch Flirt nennen, doch dies erkennt er und mit ihm der Leser erst gegen Ende.
Um Liebe und Tod kreisen die meisten Gedanken dieses Romans. Doch Walser zeigt auch andere Themen. Mit ironischem Blick entlarvt er Eitelkeiten, wenn er in den gesellschaftlichen Mikrokosmos des Literaturbetriebs eintaucht und eine Preisverleihung zur veritablen Real-Satire hochschraubt. Theo und seine Frau bestaunen das Publikum, dessen Frisuren „Am häufigsten waren die steilen Seiten der Köpfe glattrasiert, und obendrauf lag ein Haarpolster, immer irgendwie ausdruckssüchtig“, genau so wie Kleider und Krawatten. Sie verfolgen, wie der betagte Vereinspräsident stolpert und von jungen Herren aufs Podium gehievt wird, wie ein eitler Professor als Laudator dummes Zeug redet, anschließend vom Dichter beleidigt wird und sich beim Diner mit doppelt und dreifachen Portionen tröstet. Den Preis erlangten übrigens Gedichte, wie „Gestorbene Vögel sitzen auf gedachten Zweigen“.
Doch auch der politische Autor scheint auf, historisch rückblickend auf die Deutsche Vergangenheit und aktuell mit einem privaten Konzept zur Flüchtlingskrise. Seine Szenen bevölkert Walser mit in ihrer Skurrilität schrecklich normalen Figuren. Zum Beispiel Schadts Tochter Mafalda, die als Meeresbiologin bei Greenpeace arbeitet und mit Axel verheiratet ist. Der entwickelt das Projekt WeltLicht, ist aber eine undurchsichtige Gestalt, die sich selbst des Mordes bezichtigt. Ein Trick, vermutet Schadt, der „Höchststapler“ wolle sich so Ergebenheit erschleichen.
Dazwischen finden sich liebende Männer in allen Aggregatzuständen sowie Gedanken über die Endlichkeit des Lebens. Sie finden sich im Text gestreut und als Aphorismen gebündelt im Unterkapitel „Ums Altsein“. Sie beweisen, das Ich altert nicht. Es bleibt mit allen Eigenheiten und mit all’ seinen Obsessionen. Liebe, Eifersucht, Leidenschaft, auch sexuelle zeigen auch die Traumsequenzen des Romans. Da wird im Bundestag geredet, im Schrank kopuliert, in schmutzigen Unterhosen geklettert und ein Jodel-Diplom absolviert.
Dies alles lesen wir im typischen Sound Walsers. Mit „so und so“, „das und das“, „und so weiter“ spart er lange Ausführungen. Man hört seine Stimme und den Wortwitz in Sätzen wie „Eigentlich müsstest du nicht Teilnehmer heißen, sondern Ganznehmer“. Dieses Zitat führt wieder zu Thekla Chabbi, denn es findet sich in einer der Passagen, die sie als Briefpartnerin mitgestaltet hat. In einem Interview in der Welt und noch stärker im Spiegel, äußert sie, ihr Anteil liege mit knapp einem Drittel weit über dem einer „Suizidal-Referentin“. Martin Walser kann sich daran nicht erinnern.
Diskussion im Literaturkreis
Zu acht haben wir in unserer Neuerscheinungs-Runde über diesen Roman diskutiert. Darunter Walser-Leser der verschiedensten Stadien, sogar ein ausgesprochener Walser-Fan, natürlich ein Mann. Die meisten konnten in ihrer literarischen Vergangenheit auf Walser-Erfahrungen zurück blicken. Ich persönlich kenne ihn durch die Regale meiner Mutter, auch ein großer Walser-Fan, diesmal wie unschwer zu erkennen ein weiblicher. Meinen ersten Walserroman erhielt ich von einem Vorgesetzten als Abschiedsgeschenk. Passenderweise trug er den Titel „Ohne einander“, da ich die Geste merkwürdig fand, ging ich ebenso an das Buch heran, was natürlich nicht gut gehen konnte. Jahre danach habe ich „Ehen in Philippsburg
“ vollständig und mit großem Vergnügen gelesen. Es folgten andere bis zu „Das Dreizehnte Kapitel“.
Die meisten unserer Gruppe zählen zu den gelegentlichen Walser-Lesern und den meisten hat der neue Roman gut gefallen. Einwände gab es zu den Frauenfiguren im Roman. Besonders Iris, die Frau Theo Schadts, sei doch bedauernswert von ihrem Gatten behandelt worden. Manchen fiel der Einstieg schwer, aber auch sie waren nach den ersten 50 Seiten vollkommen gefangen. Es gefiel die Konstruktion aus E‑Mails, Briefen und Rückschauen, die das Lesen abwechslungsreich und kurzweilig machten. Besonders interessant schien uns das Spiel mit der Metaebene. In der Sprache amüsierte Walsers Wortakrobatik und seine anspielungsreichen Namen. Auf manches „das und das“ oder „und so weiter“ hätte allerdings verzichtet werden können. Eine unserer Teilnehmerinnen hatte es mit der Hörbuchversion versucht und ist daran gescheitert, was sie aber auch dem Thema zugeschrieben hat.
Natürlich beschäftigte uns die Rolle Chabbis. Wir konnten keinen unterschiedlichen Sprachduktus der einzelnen Figuren bemerken, ein Merkmal, das auch als Kritik angeführt wurde. Die verschiedenen Auffassungen der beiden Romangestalter im Spiegelinterview fanden wir folglich sehr interessant.
Ein sterbender Mann stellt existenzielle Fragen über das Leben, die Liebe und das Ende von allem. Wir hatten mit dem lesenswerten Roman einen sehr angeregten Diskussionsabend. Walser offenbart in ihm, so schien es uns, viele Facetten seines Lebens und seiner Literatur.
Ich bin sehr neugierig auf den Roman, den ich sicher auch bald lesen werde. Sehr interessant, hier auch die gebündelten Meinungen des Lesekreises wiederzufinden. Danke für die aufschlussreiche Vorstellung, die schon einen Einblick in das gibt, was mich da erwarten mag…
Danke für Deinen Kommentar, Anne.
Es ist schön zu hören, daß auch für Außenstehende unsere Diskussion interessant ist. Seit kurzen ergänze ich die Besprechung unserer Lektüren mit diesem Überblick, was gar nicht so einfach ist, wenn man selbst an der Diskussion beteiligt war.
Dir wünsche ich eine gute Lektüre!