John Williams evoziert in „Stoner“ die Macht der Literatur
„Immer noch lächelnd, ironisch, böswillig, wandte er sich Stoner zu. ‚Du entkommst mir ebenso wenig, mein Freund. Nein, du nicht. Wer bist du? Ein schlichter Bauernsohn, wie du gern vorgibst? Keineswegs. Auch du gehörst zu den Unzulänglichen – du bist der Träumer, der Verrückte in einer noch verrückteren Welt, unser Don Quichote des Mittleren Westens, der, wenn auch ohne Sancho, unter blauem Himmel herumtollt. Du bist klug – jedenfalls klüger als unser gemeinsamer Freund. Doch trägst du den Makel der alten Unzulänglichkeit. Du glaubst, hier wäre etwas, das es zu finden gilt. Nun, draußen in der Welt würdest du bald eines Besseren belehrt, denn du bist gleichfalls zum Scheitern bestimmt, auch wenn du nicht gegen die Welt ankämpfst. Du lässt dich von ihr verschlingen und wieder ausspeien, und dann liegst du da und fragst dich verwundert, was falsch gelaufen ist.’ “
In diesem Worten, mit denen Dave Masters seinen Freund und Studienkollegen charakterisiert, liegt fast der ganze Roman oder doch wenigstens die Persönlichkeit von John Williams Stoner.
William Stoner wächst zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts als einziger Sohn armer Bauern auf einer Farm in Missouri auf. Seine Eltern schicken den guten Schüler zur nächstgelegenen Universität in Columbia. Er soll Agrarwissenschaften studieren, um der kargen Erde bessere Erträge abzupressen und den Besitz auf Vordermann zu bringen. Doch schon nach zwei Semestern entbrennt sein Herz für die Literatur, er wechselt das Studienfach, promoviert und bleibt als Dozent für Englische Literatur an der Universität von Missouri. Auch wenn er zu den introvertierten Menschen zählt und kaum Kontakte hat, wird ihm der Campus zur Heimat. Hier bleibt er als sich seine Kommilitonen 1917 zur Front melden. Die Geborgenheit eines Lebens für die Literatur möchte er nicht aufgeben.
Dabei liegen auf seinem Lebensweg fast ebenso viele Steine wie auf dem Acker seiner Eltern. Seine Ehe mit der schönen Edith entpuppt sich als besonders schwerer Brocken. Stoner erkennt nach kaum einem Monat, daß seine Frau ihn nicht lieben kann. Die Gründe bleiben ihm ebenso unverständlich wie der spätere Entzug der Tochter Grace. Ihr, die im Wesen dem Vater so ähnelt, ist er über die Kleinkindjahre hinweg innig verbunden und meist sogar die einzige Bezugsperson. Doch Edith, befreit und verändert durch den Tod ihres Vaters, reißt Grace an sich und formt sie um.
Auch in der Universität stellen sich ihm Hindernisse in den Weg. Als er in einem Seminar einen Blender entlarvt, gerät er mit seinem Kollegen Lomax aneinander. Lomax, kleinwüchsig, lahm und bucklig, verteidigt als Doktorvater seinen Studenten. Die schlechte Beurteilung Stoners interpretiert er als Vorurteil gegenüber dem in ähnlicher Weise versehrten Studenten Walker. Dabei ist es eher Lomax” Empathie, die ihn blind gegenüber den mangelnden Fähigkeiten seines Promovenden macht. Stoner hingegen gibt nicht nach, auch wenn er Lomax schätzt. Beide wurden durch die Literatur von ihren Unzulänglichkeiten befreit. Sie hatten „die gleiche Verwandlung erlebt, die Epiphanie, durch Worte etwas zu erkennen, was sich in Worte nicht fassen ließ“. Doch war es anfangs eine starke Scheu, die Stoner vor Lomax zurückschrecken ließ, so verhindert nun dieser Konflikt eine Annährung. Lomax, der bald darauf den Fachbereich leitet, beginnt Stoner systematisch durch schlechte Stundenpläne und niveaulose Lehrverpflichtungen zu schikanieren. Als Stoner zum ersten Mal die Liebe einer Frau erfährt, intrigiert Lomax und zerstört die Beziehung zu der jungen Studentin.
John Williams (1922–1994), der wie seine Figur in Missouri promovierte und dann in Denver Englische Literatur und Kreatives Schreiben lehrte, schildert das Campus-Milieu treffend als von Intrigen und Konkurrenz geprägte Gesellschaft von Verschrobenen. Es dient ihm als Folie für existenzielle Fragen, die seine Figur Stoner mehrmals an Scheidewege führen. Wie dieser dort meist starr in seinem Unglück verharrt, bringt der genaue psychologische Blick des Autors zum Ausdruck. Sein Held kämpft nur selten, er lässt sich „verschlingen und wieder ausspeien“, um erneut auf dem kargen Acker zu liegen. Nur zwei Mal leistet er Widerstand, beide Male zur Verteidigung der Literatur. Sie ist die Liebe seines Lebens, in dem sonst Einsamkeit herrscht. Sie prägt ihn von Beginn an. Das karge Elternhaus ist auch karg an Gefühlen, gesprochen wird kaum, geschweige denn gezeigt. Die Ehe, die zwei Zurückhaltende zusammenführt, bleibt gefühlskalt. Literatur ist das einzige Antidot gegen diese Zustände, durch sie erlebt Stoner Freiheit und Erfüllung in seinem Tun. Dies verbindet ihn ausgerechnet mit seinem Feind Lomax, ein Ausgegrenzter wie er, nur aus anderen Gründen.
Der Name der Hauptfigur Stoner – Stein zieht sich als Symbol für Kargheit, Hartnäckigkeit, Unbeugsamkeit und Verschlossenheit durch den Roman. Aber auch ein anderes Bild fällt auf, das des Lichts. Es leuchtet starke Gefühlsmomente aus und dient oft als Ersatz für Worte, die den Beteiligten fehlen. Zum Beispiel als die kleine Farmersfamilie am Abend um den gemeinsamen Tisch sitzt (S.9) oder als Stoner das Sonett durchdringt (S.20). Bei Shakespeare wird ihm die Macht der Literatur bewusst, durch ihn erkennt er die Vergänglichkeit des Lebens. Was sein Held trotz aller Widrigkeiten daraus macht, schildert Williams mit warmem Realismus. Am Ende ist Stoner nicht unzufrieden.
John Williams, Stoner, 1. Aufl. 2014, dtv
Diskussion im Literaturkreis
Warum erzielt dieser Roman einen so großen Publikumserfolg, da doch die üblichen verkaufsfördernden Ingredienzien fehlen? Diese Frage schwang in unserer Diskussion über „Stoner“ mit, der bis auf eine Ausnahme begeistert in unserer Runde gelesen wurde.
War Stoners Leben gelungen oder nicht, fragten wir uns zu Beginn. Lebte er gut oder schlecht, fühlte er sich trotz aller Widrigkeiten auch glücklich? Was macht ein glückliches Leben aus? Diese Fragen sind es vielleicht auch die viele andere Leser interessieren. Zudem stellt John Williams nicht nur seinen Protagonisten vor Scheidewege, sondern regt auch den Leser zum Nachdenken und Abwägen an.
Neben der psychologischen Spannung ist der Roman dank seines stringenten Aufbaus einfach zu lesen. Dies formulierte eine Diskussionsteilnehmerin als Pluspunkt. Wem diese Konstruktion zu gradlinig war, begab sich auf die Suche nach intertextuellen Hinweisen. Dabei stellte sich unter anderem die Frage, ob Ediths Zerstörung der väterlichen Geschenke auf einen Missbrauch hinweise. Das mag überinterpretiert sein und wird sich, wie so vieles nicht beantworten lassen.
Eine angeregte Diskussion lieferte der Roman um Liebe, Literatur und das Leben auf jeden Fall.
liebe atalante, danke für die erinnerung an diesen schönen roman, der auch in meinem lesekreis seinerzeit sehr gemocht wurde. auch das zweite, aktuell veröffentlichte buch „butcher´s crossing” kann ich dir nur empfehlen.
.. mit herzlichen grüßen
gerd
Danke für diese Empfehlung, Gerd. Dein Tipp kommt auf meine Liste. Sehr gespannt bin ich auch auf Stoners „Augustus”, der im Herbst erscheint. Als „Atalante” sozusagen ein Lese-Muss. 😉
Ich wünsche” Dir noch einen schönen ‑so wie das Wetter aussieht- Lesesonntag.