In „Die Unglückseligen“ stellt Thea Dorn die Frage nach der Machbarkeit des Möglichen
„Wie sagt man hierzulande? It takes one to know one. Offensichtlich hatte sich der Verrückte da draußen für sein Wahn-Ich treffsicher einen der verrücktesten Physiker herausgesucht, der sich in der deutschen Geschichte finden ließ.
Während sie sich selbst noch lachen hörte, durchfuhr es Johanna wie ein Stich. Wie kam sie dazu, auf einen Wissenschaftler, der kühne Gedanken wagte, ebenso borniert und selbstgefällig zu reagieren, wie es das Pack der – wie hatte er sie genannt?-, das Pack der Philister tat? Litt sie selbst nicht immer noch unter jenem Brief, mit dem die deutsche Ethikkommission vor wenigen Wochen ihr wissenschaftliches Projekt, ihr Lebensprojekt, abgekanzelt hatte? Die wenigen – in ihrer Knappheit doppelt verletzenden – Sätze hatten sich ihr so tief ins Gedächtnis eingeprägt, dass sie den unsäglichen Schrieb gar nicht mehr brauchte, um ihn Wort für Wort vor sich zu sehen: „ (…) Ihr Projekt, die physiologische Regeneration weit über das gattungsspezifische Maß hinaus zu aktivieren und gleichzeitig die Zellseneszenz zu retardieren bzw. vollständig zu unterbinden, stellt kein ethisch vertretbares Forschungsziel dar. Altern gehört zu den Grundgegebenheiten menschlicher Existenz und ist in diesem Sinne nicht als Krankheit zu betrachten…“
Dieses Buch ist vieles zugleich, ein Fauststoff in seiner Suche nach Unsterblichkeit und eine Zeitreise, die einen Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts ins Hier und Heute versetzt, ein Historischer Roman, der mit Erinnerungen und Schriftquellen in die Vergangenheit führt, und ein Wissenschaftsthriller, der seine Leser mit Theorien und Experimenten konfrontiert. Angereichert mit Fragen nach Sinn und Sein, mit Religionskritik und voll subtiler Ironie komponiert Thea Dorn diese Zutaten zu ihrem neuen Roman „Die Unglückseligen“.
Spannend ist bereits der Beginn, wo der Zufall die beiden Hauptfiguren zweimal zusammen bringt. An der Kasse eines Supermarkts und am Seitenstreifen einer Autobahn trifft Johanna Mawet, eine deutsche Molekularbiologin, die in einem Institut an der amerikanischen Ostküste forscht, auf einen komischen Kautz im Hawaiihemd, der sich bald als der 1776 geborene Physiker Johann Wilhelm Ritter entpuppt.
Diese überraschende Identität des noch nicht Verstorbenen wäre der Forscherin verborgen geblieben, käme ihr nicht abermals der Zufall zur Hilfe. Sie vermisst ihren Pass und kehrt zu der Hütte im Wald zurück, wo sie Ritter am Vortag absetzte. Dort findet sie ihn von einem Schuss schwer verletzt und beschließt Ritter, der sich jeder ärztlichen Hilfe verweigert, zu pflegen. In den folgenden Tagen fallen ihr nicht nur die wunderliche Ausdrucksweise ihres Patienten auf, sondern auch andere ungewöhnliche Merkmale, wie fehlende Altersflecken und der Gegensatz von weißer Körperbehaarung und schwarzem Haupthaar. Beweisen sie tatsächlich sein Geständnis, er sei über 200 Jahre alt?
Das Forscherinteresse von Johanna Mawet ist geweckt. Es gilt dem Verzögern von Alterungsprozessen, was sie bisher mit biotechnologischen Manipulationen am Erbgut von Mäusen und Fischen untersucht hatte. Wenn dieser Physiker aus dem 18. Jahrhundert tatsächlich regenerative Zellen besäße, würde Johanna dann bald Ritter-Mäuse anstatt Zebrafisch-Mäuse züchten? Oder könnte gar sie selbst davon profitieren? Auf der Suche nach der Unsterblichkeitssubstanz lässt sie Ritters Genom analysieren und löst dadurch unvorhersehbare Ereignisse aus.
Soweit der spannende Plot, der dem 550 Seiten umfassenden Roman zugrunde liegt. Dieser besteht aus zwei Teilen, und wird von einem Vorspiel, Zwischenspiel und Nachspiel umfasst, die dem Teufel als Bühne dienen. In direkter Ansprache wendet er sich dort an die Leser wie an die Hauptfiguren, deren Treiben er auch in der eigentlichen Romanhandlung gerne kommentierend unterbricht. Ergänzt wird dies zudem durch Texte verschiedenster Art. Darunter finden sich Liedtexte und Verse, ein Lehrbuch der Militärchirurgie, ein utopisches Drama und eine Kindergeschichte, das Protokoll eines Experiments und ein Exorzismus-Bericht. Beim letztgenannten Text, dem Brief des Justinus Kerner an Pfarrer Blumhardt handelt es sich um eine authentische Quelle, ebenso wie die von Ritter verfassten „Fragmente aus dem Nachlass eines jungen Physikers“. Beide hat Thea Dorn in Auszügen in ihren Roman übernommen. Zudem verweist sie mit Zitaten und Zeichen auf Autoren wie Goethe, Tennessee Williams, Lewitscharoff oder den Comic-Helden Werner.
Zwischen dieser auch sprachlichen Vielfalt setzt die Autorin ihre beiden Helden Johanna Mawet und Johann Wilhelm Ritter. Ein Paar, das bald mehr eint als unterscheidet. Unerschrocken forschen sie nach der Essenz der Unsterblichkeit, wobei Mawet, die nach dem jüdischen Todesengel benannt ist, sie erlangen und der unsterbliche Ritter sie überwinden möchte. An den Geschicken der Beiden diskutiert Dorn nicht nur diese gegensätzliche Position, sondern zugleich das Dilemma der Wissenschaft zwischen Forschung und Verantwortung. Soll alles, was möglich ist, auch machbar sein?
Das historische Vorbild ihrer Figur, jener Johann Wilhelm Ritter wurde 1776 in Schlesien geboren und starb 1810. Als angesehener Naturforscher seiner Zeit war er mit Goethe, Schlegel und Herder bekannt. Thea Dorn entdeckte ihn, laut einem Interview in ihrer „alten“ Literatursendung „Lesenswert“, durch den Hinweis eines Archivars. Sie studierte Ritters Schrift und ließ sich von seinen Thesen und seiner Sprache inspirieren.
Wie in den authentischen Quellen, bleibt diese auch im größten Teil der fiktiven Texte dem 18. Jahrhundert verhaftet. Auch die Sprache der Figur Ritter klingt altertümlich und daher ungewohnt. Daneben stehen in Bayrisch, Schwäbisch und Schlesisch gehaltene Passagen. Doch man liest sich ein und freut sich dann an Dorns schönen Wortschöpfungen, wie Laborratenrudel für die kleine Forschergruppe des Instituts oder Schoßauf für einen Laptop, der auch gerne als Apfelkasten betitelt wird.
Auch aktuelle Bezüge greift die Autorin auf. Mit Ironie führt sie die Auswüchse von Selbstoptimierung und Fitnesswahn beim Kongress der Immortalisten vor. Wie Kirche und Religion sich Tod und Teufel zu Diensten machen, davon liest man ebenfalls in diesem Roman, der in seiner schönsten Szene den Teufel selbst als Whistleblower zeigt.
Es lohnt sich also dran zu bleiben, auch wenn die Spannung der handlungsstarken Passagen bisweilen durch die Ergründung tiefsinniger Fragen verzögert wird. Doch wer behauptet, daß eine Lektüre, zumal eine gewinnbringende, nicht herausfordern darf?