Valerie Fritsch beschreibt in „Winters Garten“ mit pathetisch schönen Bildern die Vergänglichkeit
„Er erinnerte sich an die Sommer bei den Großeltern wie an ein Königreich, aus dem man vertrieben worden war. Er dachte an die Butterblumen und die Marillenknödel. Die handtellergroßen Hollerblüten eingelegt in Zucker. (…) Er rief die Bilder der Wiesen zurück, und ihm schien, als sähe er, wie im Garten gleichermaßen die Köpfe der Löwenzähne und die Häupter der Großeltern erst weiß wurden und dann kahl im Wind der Jahre. Wie diese gesunden Menschen mit den Apfelbacken und den Zahnlücken schrumpften. Wie die ledrigen Bauernhände aufrissen und blaue Adern im Marmor der bleichen Haut der Alten wuchsen. Wie alles alt wurde. Wie vieles verschwand.“
Bildreich, wortgewaltig und poetisch klingen bereits die ersten Seiten von Valerie Fritschs Roman „Winters Garten“. Sie konfrontieren den Menschen mit seiner eigenen Vergänglichkeit, mit der seines Körpers und mit der des Geistes, gespiegelt in seiner Haut, was die Autorin überzeugend auszudrücken weiß.
Das scheint erstaunlich angesichts des Alters von Fritsch, die als weitgereiste Fotografin auf ungewöhnliche Erfahrungen blickt. Auch ihr unlängst auf dem Bachmann-Wettbewerb vorgestellter Text spiegelte dies.
Mit „Winters Garten“ legt sie einen Endzeitroman vor, bei dem die Zivilisationsflucht das Idyll des Anfangs bildet. Ganz anders als bei der Dystopie Erwin Uhrmanns. Beide Romane erzählen vom drohenden Untergang, eindrücklich und meisterhaft, aber grundverschieden. Valerie Fritschs Elegie der Endzeit besticht durch ihre Pathosformel.
Die Geschichte beginnt in einer Mehrgenerationen-Gartenkommune aus Familie und Freunden. An seine Kindheit unter diesen Stadtflüchtlingen erinnert sich Anton Winter im ersten Kapitel des Romans, „Die Gartenkolonie“. Die folgenden sieben, „Die Stadt“, „Die Frau“, „Die Sprache“, „Das Gebärhaus“, „Der Herbst“, „Die Zeit“, „Der Winter“, geben die Stationen des Protagonisten wieder, inhaltlich und nominell umklammert vom ersten und letzten Kapitel.
In legendemhaften Erzählton fädelt die Autorin Beschreibungen aneinander, die das Lebensgefühl der Gartenbewohner von der Außenwelt abgrenzen. Viele ihrer Bilder, wie das des Lebenskraft bergenden Haars, deuten auf die Vergänglichkeit hin.
Der Tod, das Werden und Vergehen in der Natur, ist allgegenwärtig. Er ist vielfach variiertes Thema der Alten und Kranken, die im Garten die Kinder großziehen während die Jungen und Kräftigen in der Stadt am Meer arbeiten. Anton beschert dieser Umgang mit dem Tod eine geradezu heilige Gelassenheit. „Dass die Menschen um ihn herum starben, machte ihn nie unsicher. Die Familie war groß genug, um all das Sterben zu tilgen und jeden Tod mit einer Geburt, einer Hochzeit oder bloß einem unerwarteten Besuch auszusöhnen. Alles, was war, teilte sich die Welt mit all jenem, was sein würde.“
Trotzdem sammelt er die verletzten Tiere vom Waldboden und bringt sie seinem Bruder Leander zur Pflege. Die beiden Buben, Abkömmlinge einer Apothekerfamilie, bestaunen Naturalien, die als Memento Mori wirken. „Ausgekochte Schädel von kleinen Wildtieren“ liegen in ihrem Zimmer, Ketten aus Milchzähnen um ihren Hals und die Fehlgeburten der Großmutter in der Speisekammer. Diese Ingredienzien aus der Höhle einer unheilverkündenden Sybille mögen abschrecken, aber man liest sehr gerne, wie Anton eine schwärmende Sehnsucht nach ihnen befällt. Und bangt, daß es nicht gut gehen wird mit ihm und der Welt.
Den Erinnerungen an Winters Kindheit im Garten folgt ein skurriles Stadtsetting. Auf der Terrasse eines gläsernen Penthouses züchtet Anton Vögel, „obwohl er vielleicht besser Dichter oder Totengräber geworden wäre“. Der Einsiedler nimmt via Fernglas am Leben der Anderen teil. Vögel sind ihm näher, die in den Volieren und die der Stadt, „Kanarienvogelschwärme, die mit auf den Karosserien kreischenden Krallen heiser singend über die Blechdächer stelzen“. In derartig überbordenden Sprachbildern schwingt das Pathos des Endzeitgefühls, das den Menschen Alpträume beschert und das Getier seufzen und weinen lässt. Nur am Rande erfährt der Leser Ursachen und Folgen des „lang angekündigte(n) Ende(s) der Welt“, Klimawandel, Hunger und Massenselbstmord. Demgegenüber steht nicht weniger drastisch ausgemalt die Hoffnung auf neues Leben. Bilder, die der Fotografin Fritsch vielleicht real vor Augen standen. Die Darstellungen von ertrunkenen Flüchtlingen und im Krankenhaus kampierenden Großfamilien lesen sich nicht wie eine Dystopie sondern wie aktuelles Elend.
Der Reichtum an Bildern und Beschreibungen ist das beherrschende Element in Fritschs Roman und verleihen ihm einen außergewöhnlichen Ton. Manches Motiv taucht zwar in zahlreichen Variationen auf, manches scheint inhaltlich überzogen, wie das großhändige Analphabetentums des Vaters, manches auch Klischee. Doch ich kann mit dem Lob vom Beginn schließen. „Winters Garten“ ist ein poetisches Sprachkunstwerk voll kluger Gedanken. Die Wartezeit auf den nächsten Roman von Valerie Fritsch kann man getrost verkürzen indem man den aktuellen nochmals liest.
Valerie Fritsch, Winters Garten, Suhrkamp Verlag, 1. Aufl. 2015