Geschichte ist etwas Angeborenes“

Anne Webers „Ahnen“ führt die Autorin durchs Riesengebirge zu sich selbst

ahnenIch den­ke mir die Zeit, die zwi­schen uns bei­den liegt, als ei­nen Weg. Wir sind zwei Wan­de­rer, die auf der­sel­ben Stre­cke un­ter­wegs sind, oh­ne ein­an­der je zu be­geg­nen. Der Weg, der sich zwi­schen uns hin­zieht und den kei­ner von uns je be­tre­ten wird, ver­bin­det uns und trennt uns zu­gleich voneinander.“

 „Seit ich auf­ge­bro­chen bin zu die­ser Rei­se in die Frem­de, zu mei­nen Vor­fah­ren hin, ha­be ich ein Bild vor Au­gen: Ich se­he ein un­über­wind­bar schei­nen­des Ge­bir­ge, das sich zwi­schen mir und dem hun­dert Jah­re vor mir Ge­bo­re­nen auf­rich­tet. Ein ge­wal­ti­ges Mas­siv, ein Rie­sen­ge­bir­ge; an­ge­häuft aus Toten.“ 

His­to­ri­kern ist das Vor­ge­hen von An­ne We­bers in ih­rem neu­em Buch „Ah­nen ver­traut. Die Re­cher­che prägt die Struk­tur ih­res Zeit­rei­se­ta­ge­buchs, das über­dies, wie es je­dem Ta­ge­buch zu ei­gen ist, Emp­fin­dun­gen ge­nau­so be­schreibt wie es Ab­schwei­fun­gen zu­lässt. Und so wie die Au­torin sich wäh­rend ih­rer Ar­beit fragt, ob ein Stö­bern im Nach­lass ih­rer Ah­nen zu­läs­sig sei, mag sich auch ein Le­ser fra­gen, ob das Le­sen die­ser von Ver­let­zun­gen nicht frei­en per­sön­li­chen Ge­schich­te, in­dis­kret sei.

An­ne We­ber ge­währt Ein­blick und die­ser ragt im Gan­zen ge­se­hen über das rein Per­sön­li­che hin­aus. Ihr Ur­groß­va­ter Flo­rens Chris­ti­an Rang bil­det die Kern­fi­gur ih­res Be­richts. Als Ahn des vä­ter­li­chen Fa­mi­li­en­zweigs schien er der un­ehe­lich ge­bo­re­nen Au­torin lan­ge ta­bu, be­schlos­sen von sei­nem Sohn, dem Groß­va­ter An­ne We­bers. In­ter­es­se an die­sem ver­schlos­se­nen Fa­mi­li­en­zweig weck­te in der Schrift­stel­le­rin ein Werk des eben­falls schrei­ben­den Ur­groß­va­ters mit dem Ti­tel „Ab­rech­nung mit Gott“.

Der 1864 ge­bo­re­ne Flo­rens Chris­ti­an Rang wirk­te in sei­nem nur sech­zig­jäh­ri­gen Le­ben als Be­am­ter und Ju­rist, als Pfar­rer und Phi­lo­soph. Er war mit In­tel­lek­tu­el­len sei­ner Zeit be­freun­det, dar­un­ter Ben­ja­min, Hof­manns­thal und Bu­ber. An­ne We­ber ver­leiht ihm in ih­rem Buch den Na­men San­der­ling, da sie sei­ne Um­trie­big­keit an je­nen stän­dig hin und her hüp­fen­den Vo­gel er­in­nert. Ob die As­so­zia­ti­on Son­der­ling auch statt­haft ist?

Fas­zi­niert von dem er­wähn­ten re­bel­li­schen Ti­tel ver­blüfft die Re­cher­cheu­rin je­de neue Er­kennt­nis über den fa­cet­ten­rei­chen Mann. We­ber ist ver­wun­dert, Rang als preu­ßi­schem Pfar­rer in Po­sen zu be­geg­nen. Sie ist scho­ckiert, als sie sei­ne Äu­ße­run­gen zum un­wer­ten Le­ben der In­sas­sen ei­ner Ir­ren­an­stalt liest. Sie scheint ver­söhnt, als er in sei­nem letz­ten Werk „Deut­sche Bau­hüt­te –es er­scheint in sei­nem Ster­be­jahr 1924- die deut­schen Mit­bür­ger auf­for­dert, sich am Wie­der­auf­bau Frank­reichs und Bel­gi­ens zu beteiligen.

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit der schil­lern­den Fi­gur des Ur­groß­va­ters for­dert es aber auch von ihr ab, dem Groß­va­ter zu be­geg­nen. Dem Ahn, des­sen Ver­dikt sie zur Au­ßen­sei­te­rin der Fa­mi­lie stem­pel­te. Er war von den vier Söh­nen San­der­lings der ein­zi­ge, der als Kul­tur­be­auf­trag­ter mit dem na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Re­gime kol­la­bo­rier­te. Auch über ihn spricht sie mit ih­rem Va­ter, der trotz sei­nes Wunschs das Schwei­gen end­lich auf­zu­ge­ben nur Bruch­stü­cke erzählt.

We­ber schil­dert die Sta­tio­nen ih­res Ver­suchs, das Rie­sen­ge­bir­ge zu über­win­den. Ne­ben den münd­li­chen Zeug­nis­sen, stu­diert sie die Schrift­quel­len, die er­hal­te­nen Wer­ke Rangs so­wie sei­ne per­sön­li­chen Auf­zeich­nun­gen im Wal­ter-Ben­ja­min-Ar­chiv. Lek­tü­re er­gänzt ihr Wis­sen, so­wohl die wis­sen­schaft­lich his­to­ri­sche als auch die li­te­ra­ri­sche. Zu ei­ner gu­ten For­schung ge­hört es da­zu, auch schein­bar Ne­ben­säch­li­ches zu hin­ter­fra­gen. Dies führt mit­un­ter zur neu­en Be­trach­tung von Wor­ten, ih­rer Be­deu­tung, der As­so­zia­tio­nen, ih­rer his­to­ri­schen Bür­de, ja so­gar ih­rer Aus­spra­che. We­ber zeigt hier ih­re ho­he sprach­li­che Sen­si­bi­li­tät. Wie der Vo­gel San­der­ling und der so be­zeich­ne­te Vor­fahr voll­führt auch sie ein Hier­hin und Dort­hin, dem man ger­ne folgt.

Sen­si­bi­li­tät zeigt sie auch im Um­gang mit dem Stoff. Ih­re Un­si­cher­heit, wie sie mit dem Ge­fun­de­nen um­ge­hen sol­le, be­nennt sie klar. Ist es rich­tig, in dem Nach­ge­las­se­nen ih­rer Ah­nen zu sto­chern? Wird sie den To­ten, von de­nen sie nur Bruch­stü­cke si­cher weiß, ge­recht? Trifft ihr Va­ter den Kern, daß ihr Aus­schluss aus der Fa­mi­lie ihr un­be­wäl­tig­tes Pro­blem sei?

Das Ge­fühl der Scham scheint in der­ar­ti­gen Fra­gen auf. Mit Scham be­setzt ist für An­ne We­ber, die seit über 30 Jah­ren in Frank­reich lebt, ih­re deut­sche Iden­ti­tät. Selbst heu­te noch, wie sie in ih­rer Be­geg­nung mit der deutsch-jü­di­schen, eben­falls in Frank­reich le­ben­den Schrift­stel­ler­kol­le­gin Gi­la schildert.

Ich kann das sehr gut nach­zu­voll­zie­hen und ich ge­be An­ne We­ber recht in ih­rer Ver­mu­tung, daß dies ein Ge­ne­ra­tio­nen­phä­no­men sei. Ich kann mich noch gut an Aus­gra­bun­gen in Bor­deaux er­in­nern, wo die deutsch-fran­zö­si­sche Ju­gend­grup­pe an man­chen Aben­den lie­ber über Hit­ler als über die Rö­mer sprach. Und ob­wohl es in un­se­rem Li­te­ra­tur­kreis, wo wir über „Ah­nen“ dis­ku­tier­ten, ei­ne Stim­me gab, der der­ar­ti­ges voll­kom­men fremd war, be­rich­te­ten un­se­re bei­den pol­ni­schen Teil­neh­mer Fol­gen­des. „Ei­nen Ita­lie­ner fragt man in Po­len viel­leicht nach ei­nem Re­zept für Piz­za oder Pas­ta, von ei­nen Fran­zo­sen möch­te man et­was über die Lie­be er­fah­ren, aber von ei­nem Deut­schen will man wis­sen, wie er zu Hit­ler steht.“

An­ne We­ber las­sen Her­kunfts-Na­ti­on und Va­ter-Fa­mi­lie in dop­pel­ter Wei­se das Au­ßen er­fah­ren. Wenn sie am En­de ih­res Buch im pol­ni­schen Poz­nan der Ah­nen ge­denkt, scheint sie ei­nen be­geh­ba­ren Weg durch das Rie­sen­ge­bir­ge ein­ge­schla­gen zu ha­ben. In „Ah­nen“ ge­lingt ihr die For­schungs­rei­se zu den frem­den Vor­fah­ren und zum Frem­den in sich selbst. Dar­auf deu­tet auch der deut­sche Ti­tel, der von ihr über­setz­ten fran­zö­si­schen Aus­ga­be, „Va­ter­land“.

An­ne We­ber, Ah­nen, Fi­scher Ver­la­ge, 1. Aufl. 2015

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