Diner bei Guermantes

Parsifal unter Blumenmädchen

GuermantesDa erst be­merk­te ich, daß rings um mich her, um mich, der ich bis zu die­sem Ta­ge – ab­ge­se­hen von mei­nem Prak­ti­kum im Sa­lon von Ma­dame Swann – bei mei­ner Mut­ter, in Com­bray und in Pa­ris, ein ganz an­de­res, ent­we­der gön­ner­haf­tes oder re­ser­vier­tes Ver­hal­ten von Sei­ten mür­ri­scher Da­men der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ge­wohnt war, die mich als Kind be­han­del­ten, ein Sze­nen­wech­sel sich voll­zo­gen hat­te, dem­je­ni­gen ver­gleich­bar, der Par­si­fal plötz­lich un­ter die Blu­men­mäd­chen ver­setzt. Die­je­ni­gen, die mich nun um­ga­ben, ganz de­kol­le­tiert (ih­re ent­blöß­ten Schul­tern zeig­ten sich zu bei­den Sei­ten ei­nes ge­wun­de­nen Mi­mo­sen­zwei­ges oder un­ter den wei­ten Blü­ten­blät­tern ei­ner Ro­se) be­grüß­ten mich mit lau­ter lan­gen, da­hin­schmel­zen­den und zärt­li­chen Bli­cken, als hin­de­re sie ein­zig ih­re Schüch­tern­heit, mich zu küssen.“

Mar­cels Traum von der Her­zo­gin wahr­ge­nom­men zu wer­den er­füllt sich mit der Ein­la­dung zum Di­ner bei den Guer­man­tes. Das Idol, dem er seit der Be­geg­nung in Com­bray und mehr noch wäh­rend sei­ner mor­gend­li­chen Ver­fol­gun­gen er­le­gen war, ist Mme de Guer­man­tes je­doch längst nicht mehr. Die Be­geg­nun­gen bei Mme de Vil­le­pa­ri­sis zeig­ten ihm, daß die von ihm ver­ehr­te Hei­li­ge ei­ne ober­fläch­li­che Frau ist. Ih­rer Ein­la­dung folgt er trotz­dem, schließ­lich ver­schafft sie ihm Zu­gang zu ei­nem der ex­klu­si­ven Sa­lons des Fau­bourg so­wie die Ge­le­gen­heit, end­lich die drei Elstirs be­trach­ten zu kön­nen.  Ver­sun­ken in den An­blick der Ge­mäl­de un­ter­läuft ihm ein Faux­pas. Er ver­gisst die Zeit und lässt die üb­ri­gen Gäs­ten ei­ne Drei­vier­tel­stun­de auf sich und auf den Be­ginn des Es­sens warten.

Mar­cel ist an die­sem Abend der Eh­ren­gast, als Künst­ler und bür­ger­li­cher Exot prä­sen­tiert ihn der Her­zog der ad­li­gen Tisch­ge­sell­schaft. Mar­cel ist nun nicht mehr das Kind un­ter äl­te­ren Herr­schaf­ten, son­dern wird von at­trak­ti­ven Da­men be­staunt. Die Gäs­te ent­stam­men dem hö­he­ren Adel, ih­re Ge­sprä­che krei­sen we­ni­ger als im durch­misch­ten Sa­lon Vil­le­pa­ri­sis um Po­li­tik und Kunst, son­dern viel­mehr um sich selbst. Fa­mi­liä­rer Klatsch un­ter Cou­sins und Cou­si­nen, ein Ver­wandt­schafts­grad, der er­staun­lich vie­le der An­we­sen­den verbindet.

Man­che, wie den Fürs­ten von Faf­fen­heim, hier sa­lopp mit Fürst Von an­ge­spro­chen, kennt Mar­cel be­reits. An­de­re Hö­her­ge­stell­te, Gri­gri, den Fürs­ten von Agri­gent, oder die Prin­zes­sin von Par­ma trifft er zum ers­ten Mal. Die Prin­zes­sin be­staunt nicht oh­ne Neid die „pri­vi­le­gier­te Stät­te“ und den heu­ti­gen Gast. Die Aus­le­se der Gäs­te ent­schei­det über den Rang des Sa­lons, je ex­klu­si­ver des­to exquisiter.

Viel­leicht be­deu­tet die über­trie­be­ne Freund­lich­keit ihm ge­gen­über nur gnä­di­ge Her­ab­las­sung, über­legt Mar­cel. Höf­li­che Heu­che­lei­en prä­gen den Abend wie die An­we­sen­den. Sie be­herr­schen die Ri­ten der Lie­bens­wür­dig­keit, hin­ter de­nen sie ih­re Mei­nung ver­ber­gen. Doch auch hier gibt es Aus­nah­men. Gri­gri -das kin­di­sche Kür­zel passt gut zum Fürs­ten von Agri­gent- „ging in ei­nem Ma­ße al­les Fürst­li­che und al­les, was an Agri­gent hät­te er­in­nern kön­nen, ab“. Ob­wohl ein Ver­wand­ter der Guer­man­tes scheint es ihm un­mög­lich „auch nur ein win­zi­ges Atom von Charme her­aus­zu­ho­len“. Ei­gent­lich passt er we­der zum Ge­schlecht der Guer­man­tes, das „von sel­te­ner und kost­ba­rer Sub­stanz“ sich vom üb­ri­gen Adel ab­hebt, noch ent­spricht Gri­gri den An­sprü­chen der Her­zo­gin. So wie man in ei­nem Sa­lon kei­ne häss­li­chen Mö­bel her­um ste­hen lässt, nur weil sie teu­er und re­prä­sen­ta­tiv sind, um­gibt man sich nicht mit Per­so­nen, de­ren „be­nö­tig­ter Ko­ef­fi­zi­ent an Geist und an Charme im­mer ge­rin­ger wur­de, je mehr der Rang der Per­son sich hob“.

So ist es nicht wei­ter ver­wun­der­lich, daß Mar­cel sich zu lang­wei­len be­ginnt. Ein­zig die Läs­te­rei­en Oria­nes lo­ckern die Ge­sell­schaft auf, auch wenn sie noch so oft wie­der­holt wer­den. „Die­ses Bon­mot wur­de noch am fol­gen­den Tag beim Es­sen un­ter in­ti­men Freun­den, die man ex­tra des­we­gen ein­lud, kalt ge­nos­sen und mit ver­schie­de­nen Sau­cen die ganz Wo­che hin­durch ser­viert.“ Die Her­zo­gin pflegt ihr pro­vo­kan­tes Ver­hal­ten. Was an­de­re schlecht fin­den, lobt sie et vice­ver­sa. Wäh­rend al­le dem Be­ginn der Ball­sai­son ent­ge­gen fie­bern, be­reist sie die Fjor­de Nor­we­gens. Sie ver­folgt ein Thea­ter­stück von Be­ginn an im Par­kett und sieht nicht wie Ih­res­glei­chen nur den letz­ten Akt in der Loge.

Die Wand­lun­gen im Ur­teil der Her­zo­gin mach­ten vor nie­man­dem halt, aus­ge­nom­men vor ih­rem Mann.“ Die­ser ‑im Üb­ri­gen auch ein Cou­sin Oria­nes- liebt sie nicht, ehrt sie aber als Ver­bün­de­te, „die er, Mon­sieur de Guer­man­tes, sich glück­lich schät­zen konn­te ge­fun­den zu ha­ben, die al­le sei­ne Un­re­gel­mä­ßig­kei­ten deck­te, wie nie­mand sonst zu emp­fan­gen ver­stand und ih­rem Sa­lon den Ruf er­hielt, der ers­te des Fau­bourg Saint-Ger­main zu sein“. Sei­ne zahl­rei­chen Ge­lieb­ten stö­ren nicht. Sie zäh­len zu den Gäs­ten des Sa­lons und su­chen viel­leicht nur aus die­sem Grund die Nä­he des Her­zogs. We­nigs­tens ge­hö­ren sie nicht zur Ver­wandt­schaft wie die kon­ser­va­ti­ven Cour­voi­sier oder die Cou­si­ne d’Heudicort. Als die Prin­zes­sin von Par­ma vor­sich­tig son­diert, ob sie die­se ein­la­den kön­ne, rät Oria­ne spot­tend ab. Der Gip­fel sei der Heudicort’sche Geiz bei Di­ners, „denn wenn es sie­ben Bou­chées, al­so Häpp­chen, gab, so hät­ten die ent­spre­chen­den Hap­per, wenn ich so sa­gen darf, ge­wiß das Dut­zend überschritten.“

Un­ter­des­sen lädt Ma­dame d’Arpanjon, ei­ne ehe­ma­li­ge Ge­lieb­te des Her­zogs, Mar­cel auf das Schloss ih­rer Tan­te ein. Ihr Hin­weis, dort be­fän­de sich ein Ar­chiv mit den Brie­fen be­rühm­ter Per­sön­lich­kei­ten, wel­che den jun­gen Schrift­stel­ler si­cher­lich in­ter­es­sier­ten, führt zu ei­nem Ge­spräch über Li­te­ra­tur und Kunst. Von bei­dem wis­sen die ho­hen Gäs­te nicht all­zu viel, Ver­fas­ser wer­den ge­sucht, Na­men ver­wech­selt. Der Vor­wurf Oria­nes an ih­re eins­ti­ge Ri­va­lin, sie ver­ste­he ab­so­lut nichts da­von, gilt auch für sie wie die an­schlie­ßen­de Dis­kus­si­on über Zo­la und Elstirs Spar­gel­bild beweist.

Der Reiz, den der Na­me Guer­man­tes einst in ihm aus­lös­te, ver­blasst, es bleibt nicht mehr als „ein pro­vin­zi­el­ler Rest “. Sei­ne Gast­ge­ber mo­kie­ren sich über Nicht­an­we­sen­de, sei es Mme de Vil­le­pa­ri­sis, de­ren schlech­te Kü­che und noch mehr die Be­zie­hung zu Nor­pois zu Kom­men­ta­ren reizt, oder die po­li­ti­sche Nie­der­la­ge von Ge­ne­ral Mon­ser­feuil. Mme de Guer­man­tes dü­piert durch ih­re Of­fen­heit. Das her­zog­li­che Paar ent­zau­bert sich vor den Au­gen Mar­cels. Sie wer­den zu nor­ma­len Be­woh­nern des Fau­bourg. Trotz­dem ist der Abend für den Le­ser sehr amü­sant, man lauscht den Läs­te­rei­en nicht min­der ent­zückt als die Prin­zes­sin von Par­ma und lässt sein Au­ge über die an­ti­ken Qua­dri­gen der Em­pire-Mö­bel schwei­fen, kos­tet vom Va­nil­le­eis und nimmt ei­ne Oran­gea­de. Bes­ser als bei Mme de Vil­le­pa­ri­sis ist das Din­ner al­le­mal, dort „hat es ei­ne Rau­ten­schol­le in Kar­bol­säu­re ge­ge­ben! Das war kein Ge­richt mehr für den Tisch, son­dern für ei­ne Isolierstation.“

Mar­cel hin­ge­gen ist vie­les zu fad „da­mit mein in­ne­res Le­ben in die­sen mon­dä­nen Stun­den hät­te er­wa­chen kön­nen, in de­nen ich nur mei­ne Epi­der­mis, mein wohl­fri­sier­tes Haar und mei­ne Hem­den­brust be­wohn­te, das heißt nichts von dem emp­fin­den konn­te, was mir im Le­ben Freu­de gab.“

Die Ad­li­gen des Di­ners, die ihm un­er­reich­bar schie­nen, wer­den zu ge­wöhn­li­chen Zeit­ge­nos­sen. „In­dem je­der der Tisch­gäs­te den ge­heim­nis­vol­len Na­men, un­ter dem ich ihn von fer­ne nur ge­kannt und mir vor­ge­stellt hat­te, mit ei­nem Kör­per und ei­ner In­tel­li­genz aus­staf­fier­te, die nicht an­ders oder dann min­der­wer­ti­ger als bei al­len mei­nen Be­kann­ten war, hat­te er mir den Ein­druck ba­na­ler Ge­wöhn­lich­keit ge­macht, wie ihn die Ein­fahrt in den dä­ni­schen Ha­fen Hel­sin­gör je­dem ma­chen muß, der fie­bernd Ham­let ge­le­sen hat.“

Be­vor Mar­cel sich schließ­lich die ame­ri­ka­ni­schen Snow­boots über­zieht und durch den Schnee­matsch zur Kut­sche wa­tet, um Ba­ron Char­lus zu be­su­chen, zieht er fol­gen­des Resümee:

War es wirk­lich nur sol­cher Di­ners we­gen, wie das heu­ti­ge ei­nes war, daß al­le die­se Per­so­nen Toi­let­te mach­ten und es ab­lehn­ten, bür­ger­li­chen Da­men den Zu­tritt zu ih­ren Sa­lons zu ge­wäh­ren? We­gen sol­cher Di­ners, wie die­ses hier eins war? Di­ners, die ge­nau­so ver­lie­fen, auch oh­ne mei­ne An­we­sen­heit? Ich heg­te ei­nen Au­gen­blick die­sen Ver­dacht, aber er war doch zu ab­surd. Der ein­fa­che ge­sun­de Men­schen­ver­stand hieß mich ihn von mir wei­sen. Hät­te ich ihm aber in mir Ein­gang ge­währt, was wä­re dann von dem seit Com­bray in mei­ner Vor­stel­lungs­welt schon stark an Leucht­kraft ver­min­der­ten Na­men Guer­man­tes noch übriggeblieben?”

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