Stephen Fry legt mit „Helden“ den zweiten Band seiner Trilogie antiker Mythen vor
„Die Götter in den griechischen Mythen stehen für menschliche Motive und Antriebe, die uns immer noch rätselhaft vorkommen.“
Als Kind bin ich mit Gustav Schwab in die Welt der antiken Mythen eingetaucht. Sie haben mich seitdem nicht mehr losgelassen, wie sich unschwer am Titel meines Blogs erkennen lässt. Atalante, die arkadische Jägerin, fehlt auch nicht bei Fry, doch dazu später mehr.
Die literarischen, aber auch die bildlichen Darstellungen antiker Mythen, bieten immer wieder Anlass, sich mit ihnen zu beschäftigen. Seien es die Spielszene zwischen Ajax und Achill auf der schwarzfigurigen Exekias-Amphore, der Sarkophag aus Perge mit den Taten des Herakles oder auch Tizians berühmtes Gemälde „Bacchus und Ariadne“. Wer die Geschichten kennt, die eine Vielzahl von Bildwerken erzählen, ist gut gerüstet. Das gilt nicht weniger für die Literatur. Und es sind auch Schriftsteller, die sich immer wieder in der Erzählung antiker Stoffe versuchen. Es sei hier nur auf Michael Köhlmeyer und Raoul Schrott verwiesen. Zuletzt war ich von Daniel Mendelsohn sehr beeindruckt, der die Erinnerungen an seinen Vater mit seiner Version von Homers Odyssee verwob. Nun liegen mit „Helden“, der zweite Teilband, der von Stephen Fry erzählten antiken Mythen vor.
Zusammen mit dem Vorgänger „Mythos“, den Fry den Titanen und der Erschaffung des Menschengeschlechts widmet, und einem noch nicht erschienenen Band, in dem er vom Trojanischen Krieg und dessen Folgen erzählen will, bildet „Helden“ eine Trilogie der Klassischen Mythen der Griechen. Erstmals verwirklicht hat Fry die Idee seiner Mythenversion als Theaterstück, aufgeführt 2018 im Shaw Theatre in Niagara-on-the-Lake.
Das vorliegende Buch hat er um weitere Heroen und Heroinnen, z.B. die unvergessliche Atalante, erweitert. Dabei folgt er einer Chronologie, die sich quellenbedingt schon bei Schwab findet. Wir hören nach einer kurzen Einführung von den Heldentaten des Perseus, der die Gorgo Medusa einen Kopf kürzen machte und damit passend für Athenes Brustpanzer, wo sie zudringliche Gaffer bestraft. Es folgt der wohl berühmteste Held der Antike, Herakles, und dessen zwölf Taten, deren Vollendung seinen Auftraggeber Eurystheus meist panisch in den Pittos jagten. Das Flügelpferd Bellerophon, Orpheus, der Sänger mit Hang zur Unterwelt, der Jäger Jason und die Jägerin Atalante, der verzweifelt verwirrte Ödipus und schließlich Theseus, der ohne Ariadne nie aus dem Labyrinth gefunden hätte, schließen sich an. All” diese Gestalten befreiten die antike Welt von Ungemach und bereiteten, wenn man Frys „Schlussstrophe“ folgt, die Basis für das aufgeklärte Bewusstsein des modernen Menschen.
Stephen Fry wählt einen lockeren Ton für seine Nachschöpfung, die den schon in den Urfassungen angelegten Witz deutlich spüren lässt. Und wie sollte man auch nicht witzig erzählen von den durchaus schwierigen, aber stets amüsanten Abenteuern der Helden und Heldinnen. Die Taten des Herakles wurden nicht nur in der Moderne unterhaltsam interpretiert — ich erinnere mich lebhaft an eine Zeichentrickfolge im Deutschen Fernsehen -, sie dienten auch in der Antike dem Amüsement, wie vor allem Malereien auf Vasen und Wänden zeigen. Auf meinem Schreibtisch steht eine Postkarte mit dem Ausschnitt einer Wandmalerei aus dem Haus der Vettier in Pompeji. Sie zeigt Herakles als bärenstarkes Baby laokoongleich von Schlangen umschlungen. Wie die Geschichte ausgeht, zeigt der Titel der Postkarte, deren deutsche Übersetzung der Überraschung, die natürlich auch bei Fry nicht fehlt, in nichts nachsteht, „Knabe Ercole was gurgel Schlangen“.
Mythologie macht also Spaß und eignet sich ganz hervorragend zur Unterhaltung. Sogar als Vorlesestoff für Vorschulkinder bietet sie wie Grimms Märchen mehr Phantasie als Ninja Turtles, auch wenn sich auch darüber lachen lässt. Es ist einfach lustig zu lesen oder mit anzuhören, wie Herakles das überwältigte Monster oder die Reste davon zu dem gemeinen Eurystheus bringt, der sich bibbernd in einem riesigen Vorratsgefäß verbirgt. Eine schöne Darstellung dieser Szene findet man auf einer schwarzfigurigen Hydra im Louvre.
Anders als Schwab gelingt es Fry nicht nur treffend den Witz herauszuarbeiten, er versucht auch, die teilweise widersprüchlichen oder bruchstückhaften Quellen zu einer konsistenten Geschichte zu gestalten. Dabei wird manches vermischt oder zusammengezogen, dieser Eklektizismus liegt jedoch in der Natur der Sache oder besser in ihrer mythischen Vergangenheit. Auch bei Atalante, mein besonders Augenmerk ist verständlich, liegen verschiedene Angaben zugrunde. Apollodor, Hesiod und Ovid schreiben ihr verschiedene Väter zu, Schoineus und Iasos, und verschiedene Herkunftsgegenden, Arkadien und Böotien. Mal ist sie eine Jägerin, die ihre Pfeile zielsicher auf Schweine und Männer abschießt, mal eine Jungfrau, die den letzteren am liebsten davonläuft. Vielleicht war sie auch beides zugleich, wie Fry phantasievoll vermutet. Wer dem auf den Grund gehen möchte, findet in Frys Anhängen, in seinem Nachwort und dem Verzeichnis der mythologischen Gestalten einige Hinweise. Material bietet auch „Der Kleine Pauly“, um nicht direkt auf die RE zu verweisen, oder auf das weitaus handlichere, unübertreffliche „Lexikon der griechischen und römischen Mythologie“ von Herbert Hunger, das mich seit 40 Jahren als Rowohlt Taschenbuchausgabe begleitet und leider nur noch antiquarisch erhältlich ist.
Was alle diese Handbücher und die älteren Übersetzungen wie Schwab nicht bieten, ist die Lebendigkeit mit der Fry in die Welt der Antike entführt. Farbig schildert er in bildhafter Sprache wie es beispielsweise hätte zugehen können in der ruppigen Jagdgesellschaft des Meleager und wir verfolgen, wie blutig fast alle Pfeile danebengehen bevor der Eber endlich am Boden liegt. In seiner handlungsstarken Drastik hat mich das wiederum an Schrotts Ilias und an Mendelsohns Odyssee erinnert.
Fry scheut sich nicht moderne Redeweisen zu verwenden oder die Leserin mit anachronistischen Vergleichen zu erfreuen. Da brennt „in den Ohren von Zeus (…) die Nennung (s)eines Namens wie Zitronensaft in der Wunde“, eine Nacht mit Zeus und mit Amphytrion beschert Alkmene eine „Superfekundation“, als deren eine Frucht Herakles entspringt, der „weit davon entfernt ist, das hellste Pixel auf dem Bildschirm zu sein“. Vielleicht gibt Fry diesem Helden bei der schier unerfüllbar scheinenden Aufgabe, den Augiasstall auszumisten, deshalb den Rat, „Wie Yoda es schon vor langer Zeit in einer sehr, sehr weit entfernten Galaxie formuliert hatte: Tu es. Oder tu es nicht. Es ist ein Versuch.“.
Frys Versuch mit „Helden“ die antiken Mythen zu entstauben und bei Lesern, die nicht mit dem Schwab auf den Knien großgeworden sind, Interesse für die Geschichten der Antike zu wecken, ist geglückt. Die Deutung von Mythologie ist, so Fry in seinem Nachwort, „ein weites Feld, auf dem jedermann säen und ernten kann“. In diesem Sinne ist Stephen Fry eine äußerst saftige Lesefrucht gelungen.
Stephen Fry, Helden, übers. v. Matthias Frings, Aufbau Verlag 2020