In „Die Stille“ inszeniert Don DeLillo den Systemausfall als absurdes Theater
„Die aktuelle Lage macht uns klar, dass es nichts zu sagen gibt, außer was uns spontan in den Kopf kommt und nachher wissen wir das sowieso alle nicht.“
Die Lektüre von Don DeLillos „Die Stille“ konnte ich nicht unvoreingenommen beginnen. „Eine Katastrophe über eine Katastrophe, positiv: nur 100 Seiten und große Buchstaben“, so das knappe Statement eines Mitstreiters aus meinem Literaturkreis. Der tagt momentan höchstens im Chat. Der dieser Kommunikationsform immanente Telegrammstil passt in seiner kargen Unvollständigkeit gut zu DeLillos neuem Buch, das wohl kaum als Roman bezeichnet werden kann.
Ebenso gut passt dazu, daß die Aussage über eine Messenger-App zu mir fand, also mit einem Smartphone notiert, versendet, empfangen und gelesen wurde. Damit zähle ich zu den in diesem Buch angesprochenen Nutzern dieser Technik und sollte für DeLillos Zivilisationskritik empfänglich sein.
Die Geschichte beschreibt die Verhältnisse im Jahr 2022. DeLillo wählt die Dystopie, eine von mir geschätzte Literaturgattung. So finden sich unter den auf diesem Blog seit über einem Jahrzehnt rezensierten Büchern einige Dystopien, von denen ich nach wie vor Erwin Uhrmanns „Ich bin die Zukunft“ am besten finde. Uhrmanns Roman spielt in einer zerfallenden Natur, inmitten ihrer Schönheit und der nicht mehr zu behebenden Schäden folgen wir einer Handvoll Protagonisten. Don DeLillo hingegen inszeniert das Geschehen in begrenzten Innenräumen. Es begegnen sich sechs Personen an drei Spielorten, sofern man das Krankenhaus und eine Verwaltungsangestellte hinzuzählt.
Nachdem das Flugzeug, das Jim und Tessa nach New York brachte, wegen eines Systemausfalls unsanft gelandet ist, spielt die weitere Handlung vorwiegend im Wohnzimmer von Max und Diane. Das ältere Ehepaar will in Gesellschaft des jüngeren Martin, einem ehemaligen Studenten von Diane, mit den Freunden das Finale des Super-Bowl ansehen. Doch schon vor dem Eintreffen von Jim und Tessa bleiben zeitgleich mit dem Systemausfall im Flieger im Appartement die Bildschirme dunkel.
In diesem Wohnzimmer ergreifen angesichts der verstummten Quasselkiste die Anwesenden das Wort. Der Physiklehrer Martin schwadroniert, mehr aus psychischer denn professioneller Deformation, über Einstein, gerne auch mal im Original, was in der Übersetzung nicht so gut rauskommt. Die übrigen Figuren wirken nicht weniger skurril. Jim arbeitet als Schadenregulierer bei einer Versicherung, seine Frau Tessa ist Ratgeberautorin mit Hang zur Lyrik. Max setzt auf Football-Wetten, Diane steht auf ihren ehemaligen Studenten, Umstände halber platonisch.
Im ersten Teil seines Textes, er umfasst etwa Zweidrittel der Seiten, schildert DeLillo die sich langsam verstärkende Verstörung. In sechs Unterkapiteln mit so schönen Titeln wie „Verlorene Systeme im Dilemma des Alltags“ spekulieren seine Figuren über die Ursachen des Systemausfalls. Ist er die Auswirkung einer Naturkatastrophe, einer Invasion, einer ernsten Bedrohung? Bedeutet er den „Zusammenbruch der Weltzivilisation“,?
Der Ausfall der Systeme führt auch zu amüsanten Szenen. Im Stich gelassen von der funktionierenden Flimmerkiste beginnt Max, diese zu imitieren. Er moderiert und kommentiert den Super-Bowl, Werbeeinlagen inbegriffen. „W‑LAN – so wie DU es willst. Beruhigt und spendet Feuchtigkeit. Das Doppelte zum selben Sonderpreis. Reduziert das Risiko von Herz- und Geisteskrankheiten.“
Martin indessen gedenkt seinem Idol im Stichwort-Stakkato. „Einstein und die schwarzen Löcher im Weltraum. Er hat es gesagt, und dann haben wir es gesehen. Milliardenfach massereicher als unsere Sonne. Er hat es vor vielen Jahrzehnten gesagt. Sein Universum wurde unseres. Schwarze Löcher. Der Ereignishorizont. Die Atomuhren. Das Unsehbare sehen. Nordmittelchile. Sagte ich das schon?“
Im knapperen zweiten Textteil resümieren die Protagonisten monologartig das Erlebte. Jim erinnert sich an Notlandung des Flugzeugs, Max an seine Kindheit, Tessa an ihre blauen Notizbücher und Diane an „Finnegans Wake“.
Die Dialoge in „Die Stille“ wirken zum Teil ähnlich absurd wie in Stücken von Beckett oder Ionesco. Ohne Weiteres ließen sich die Gespräche zwischen den fünf Personen als Theaterstück inszenieren. Auch die kurzen Zwischentexte erinnern an Regieanweisungen. „Sie zogen die Mäntel aus und warfen sie aufs Sofa, und Diane zeigte auf Martin und sagte seinen Namen und Händeschütteln und halbe Umarmungen und Max mit einer gereckten Faust als Begrüßung. Er sah Jims verbundene Stirn und täuschte ein paar Boxhiebe an.“
Trotz kluger Beobachtungen zu Handyfixierung, langjährigen Ehen oder dem Shutdown, war auch ich froh, daß dieser Text nach gut 100 Seiten ein Ende hatte. „Die Stille“ schildert, wie „irgendwo Dinge stattfanden, die über das flache Fassungsvermögen der Anwesenden hinausgingen“. Diesem flachen Fassungsvermögen bleiben der Autor und seine Leser ausgeliefert.
Don DeLillo, Die Stille, übers. v. Frank Heibert, Kiepenheuer & Witsch 2020