Arrhythmien des Herzens an der Küste von Gomorrha, Bd. IV, 219–367
„Ich erinnerte mich an die letzte Zeit im Leben meiner Großmutter und an alles, was mit ihr zusammenhing, an die Treppenhaustür, die offen geblieben war, als wir zu ihrem letzten Spaziergang hinausgingen. Im Vergleich dazu erschien der Rest der Welt kaum wirklich, und mein Leiden vergiftete ihn gänzlich. Schließlich drängte meine Mutter mich, hinauszugehen. Doch bei jedem Schritt hinderte mich wie ein Wind, gegen den man nicht ankommen kann, irgendein vergessener Aspekt des Kasinos oder der Straße, in der ich sie am ersten Abend erwartet hatte und auf der ich bis zum Denkmal für Duguay-Trouin gegangen war, am Weitergehen; ich senkte die Augen, um nicht zu sehen.“
Beim zweiten Aufenthalt in Balbec ist für Marcel vieles ähnlich und doch alles anders. Als Stammgast von Rang holt ihn der Direktor des Grand-Hôtel persönlich am Bahnhof ab. Ort und Gepflogenheiten sind Marcel vertraut, er bezieht sogar dasselbe Zimmer wie beim Aufenthalt mit seiner Großmutter. Nur ihr beruhigendes Klopfen vom Nachbarraum wird er nicht mehr hören können. Die vom Ort ausgelöste, lebhafte Erinnerung an die Verstorbene macht ihm bewusst, „dass sie niemals wieder in meiner Nähe sein würde, (…) dass ich sie für immer verloren hatte.“ Die Trauer lähmt ihn.
Dabei ist er mit großen Erwartungen in die Normandie gereist. Einen Abend bei den Verdurins hat er sich vorgenommen. Nicht weil ihn die Gastgeber oder die Gäste dieses Salons reizten, in Paris hatte er ihn gemieden, eine erotische Verheißung, das Kammerkätzchen der Madame Putbus, die zum Kreis der Verdurins zählt, zieht ihn dort hin. Saint-Loup hatte derart von ihr geschwärmt, daß Marcel sich noch in Paris erkundigt hatte, ob die Dame samt ihrer Zofe auf La Raspelière, der Sommerresidenz der Verdurins, zu erwarten sei. Angekündigt hat sich auch Albertine, die ihre Ferien nur wenige Kilometer von Balbec entfernt verbringt. Zudem erwartet Marcel eine Matinee bei der Marquise de Cambremer, die in Féterne empfängt, ihrem prachtvollen Landsitz mit nicht minder prachtvollen Gärten. Allem sagt er ab und sehnt sich nach dem Eintreffen seiner Mutter, der er sich im Kummer um die Großmutter nahe fühlt.
Doch der Erzähler wäre nicht der Erzähler, wenn er wegen der Seelenpein seines jungen Protagonisten das Talent für die amüsierte Beobachtung verloren hätte. Diese erfolgt mal in subtiler Ironie, mal mit offenem Spott. Gleich zu Beginn muss die fehlerhafte Aussprache des Direktors herhalten, was die Ausgaben bei Suhrkamp und Reclam verschieden handhaben. So verzichtet Keller meist auf die Übersetzung der entsprechenden Wörter, Fischer allerdings bringt den Spaß auch auf Deutsch zum Klingen. Über die Ernennung des Gerichtspräsidenten zum Kommandanten der Ehrenlegion heißt es bei Keller: „Bombensicher hat er Fähigkeiten, aber es scheint, daß man sie ihm vor allem wegen seiner absoluten Intimität (Integrität) gegeben hat“. Fischer formuliert: „Bombensicher weil er Fähigkeiten hat, aber es scheint, dass man sie ihm vor allem wegen seiner großen Impotenz gegeben hat.“ Der Ohnmachtsanfall der Großmutter, den der Hoteldirektor anspricht, bleibt bei Keller nur leicht verändert eine „Sinekope“, während Fischer mit „Umnachtsanfall“ ein der Person, an die gedacht wird, angemessenes, liebevolles Schmunzeln hervorruft.
Marcel verlässt schließlich sein Hotelzimmer, um in den Dünen versteckt seinen Erinnerungen nachzuhängen. Dann kehrt durch die Sinnesreize Balbecs, das Kreischen der Kinder und der Möwen, der Anblick der Wellen, das Tosen der Brandung und die Vorahnung auf die Sommerhitze des Strands, das Leben in ihn zurück. Er wird sich mit Albertine treffen und mit ihren Freundinnen. „Apfelbäume (…) soweit das Aug reichte, in voller Blüte von unerhörtem Luxus, im Ballkleid und mit den Füßen im Schmutz gaben sie keinerlei Obacht, nicht den allerherrlichsten rosigen Satin zu verderben, den man je gesehen hatte und den die Sonne zum Glänzen brachte. (…) Es war ein Frühlingstag.“
Sie unternehmen Strandspaziergänge, Albertine besucht ihn auf seinem Zimmer. Trotz der vertraulichen Intimität misstraut Marcel Albertines Absichten. Seine Eifersucht wächst, als er sie zufällig in einem Lokal in der Gesellschaft ihrer Freundin Andrée entdeckt. Die beiden tanzen einen Walzer, viel zu eng umschlungen, wie sein Begleiter Dr. Cottard zu Bedenken gibt. Der Arzt sieht das Paar zwar ohne Brille nur verschwommen, konstatiert aber, die beiden befänden sich auf „dem Höhepunkt der Wollust“. Eifersucht verblendet auch Marcel. Cottards Kompetenz ist jedoch in Zweifel zu ziehen, wie die im Anschluss geschilderte Anekdote zeigt. Der Professor und Toxikologe diagnostizierte und behandelte ein geschwollenes, großherzogliches Auge als Vergiftung. Das Leiden des Großherzogs linderte erst ein Landarzt, der das Staubkorn aus dem Auge fischte. Marcel allerdings vertraut der ärztlichen Analyse und grollt Albertine bis eine Aussprache zur Aussöhnung führt. Im Nachhinein erkennt er, er „hätte noch am selben Abend abreisen sollen, ohne sie jemals wiederzusehen“. Sein Verdacht auf die sapphistischen Neigungen seiner Freundin quält ihn. Ist das Balbec’schen Treiben doch voller Gefahr. Der Saisonstart spült Frischfleisch an die Strände, neue Mädchen, die ihn zu „Besichtigungsgängen“ animieren, aber Albertine verführen könnten. Es scheint, er gestehe sich zu, was er Albertine missgönnt. Doch bald wünscht er, daß „überhaupt keine Frau mehr nach Balbec käme“, erst recht nicht die Kammerzofe der Madame Putbus.
Als Bekräftigung seiner Sorgen und als Beleg, daß Sodom und Gomorrha in Balbec nicht fern liegen, folgen zwei Geschichten. Gomorrha, die öffentlich zur Schau gestellte Liaison von Blochs Schwester mit einer Schauspielerin, löst im Grand-Hôtel einen Skandal aus. Sodom hingegen, die Beziehung von Blochs Onkel zu einem jungen Saaldiener, wirkt wie ein romantisches Geheimnis. Immerhin, „dieses Vergnügen war so groß, dass Monsieur Nissim Bernard alle Jahre wieder nach Balbec kam und sein Mittagessen außer Haus einnahm“.
Albertine bleibt unter Beobachtung. Marcel registriert jeden Blick, den sie auf sich zieht. Ihre Zurückhaltung gegenüber vermeintlichen Avancen deutet er als List. In seiner Eifersucht auf Albertines Interesse an Frauen geht er sogar soweit, daß er ihren Flirt mit Saint-Loup, den sie in Doncières besuchen, als Erleichterung wahrnimmt.
Die Lokalbahn, liebevoll auch „kleine Eisenbahn“ genannt, verbindet die Küstenorte und bringt Marcel und Albertine von Balbec nach Doncières. Leider erwischen sie keinen leeren Wagen, wo sie sich ungehindert küssen könnten, sondern müssen ihn mit einer unangenehmen Dame teilen. Wie Dr. Cottard, wird auch diese am nächsten Tag bei den Verdurins anzutreffen sein. Ein ebenso überraschender Gast dieser Gesellschaft wird Baron de Charlus werden, den Marcel am Bahnhof von Doncières entdeckt, „wie er da in seinem hellen Reiseanzug, der ihn dicker erscheinen ließ, herankam und sich in den Hüften wiegte, einen Schmerbauch und ein fast symbolisches Hinterteil schwingend, (zerlegte) die Grausamkeit des vollen Tageslichts all das, was im Lampenschein wie der frische Teint eines noch jugendlichen Menschen hätte wirken können, in Schminke auf den Lippen, in Reispuder, der mit Coldcream festgeklebt war, auf der Nasenspitze, in Schwärze auf dem gefärbten Schnurbart, dessen Ebenholzton nicht zu den ergrauten Haaren passte“. Durch Charlus begegnet Marcel dort auch Morel, dem Sohn des Kammerdieners seines Onkels, tagsüber spielt er im Musikzug seines Regiments und abends für Charlus. Auch ihn werden wir in La Raspelière antreffen.