In seinem neuen Erzählungsband „Wenn es dunkel wird“ dreht Peter Stamm seine Figuren „nur um eine Seltsamkeit mehr“ ins Surreale
„Es fühlt sich an wie jener Moment, wenn man auf der Schaukel nach oben geschwungen ist und für einen Moment lang schwerelos ist und glaubt, davonfliegen zu können, bevor die Schwerkraft wieder überhandnimmt und einen zurückzieht ins Leben.“
Wenn ein Träumender sich bewusst wird, daß er sich in einem Traum und nicht in der Realität befindet, nennt man dies luzide. Wenn die Figur einer erfundenen Geschichte durch die ihr zugeschriebene Fantasie in eine weitere Fiktion rutscht, wurde sie höchstwahrscheinlich von Peter Stamm erschaffen. Spätestens seit seinem zur Schullektüre erkorenem Roman „Agnes“ ist der Schweizer Schriftsteller ein ausgewiesener Spezialist für das Spiel mit den Ebenen. Realität und Fantasie, Fiktion und Metafiktion, zahlreich sind die Volten, denen die Figuren seiner Werke ausgesetzt sind. Auf der Suche nach sich selbst manövrieren sie durch das Dickicht ihrer Beziehungen und finden nicht selten keinen Ausgang, nicht nur, „Wenn es dunkel wird“ .
Schon die erste der elf Erzählungen mit dem vermeintlich orthographisch auffälligen Titel „Nahtigall“ hat es in sich. Der junge David fühlt sich verkannt. Er sucht eine Alternative zu seinem langweiligen Leben als Lehrling und Sohn. Allen will er es zeigen, doch ob ihm ausgerechnet ein Bankraub die Unabhängigkeit bringt, zweifelt der Leser von Anfang an. Der Autor hingegen schickt seinen Protagonisten auf Beobachtungsposten, er lässt ihn Notizen verfassen, die weniger technische Akribie als Einfühlsamkeit und literarisches Gespür zeigen. „Wolken, schrieb er in sein Notizbuch, alle Geräusche scheinen verstärkt zu werden von den nassen Oberflächen, das Rauschen der Autos, der Lärm der Vögel, die Kirchenglocken.“ So wundert es nicht, als der Junge vor lauter ungelebtem Abenteuer im Kopf die Haltestelle verpasst und in einer unbekannten Gegend landet. Dort entdeckt er vor einem Mietshaus eine Frau, die ihn anzieht und zum Objekt seiner Fantasien wird. Nahtigall, ein Name auf dem Klingelschild, wird sicherlich der ihre sein, vermutet er, Renata erfindet er hinzu. Wie Peter Stamm seinen Helden beschreibt, nimmt man diesen nicht ernst, weder dessen jugendliche Fantasien, noch dessen kriminelles Potential. Ein verträumter Junge scheint er zu sein, wäre da nicht das Ende der Geschichte, mit dem Stamm alle überrascht.
Auch die Protagonisten der weiteren Erzählungen, nicht selten ein Ich-Erzähler und nicht selten eine Frau, hadern mit der Realität. Sie planen Unerhörtes oder entfliehen ihrer Situation, bewusst oder unbewusst. Sie stranden und finden dann in einer zufälligen Begegnung, wenn nicht ihr Glück, so doch Trost.
Da fantasiert sich eine junge Frau, die sich auf einer Feier fehl am Platz fühlt, in die Rolle einer Steinzeit-Venus. In einer anderen Erzählung löst ein Mann an seinem letzten Arbeitstag die Frage, wie er seine restlichen Lebensjahre verbringen möchte, indem er sich gleich ganz in Luft auflöst.
Bisweilen begegnet man Figuren, die einem bekannt vorkommen. Der an einer Raststätte vergessene Mann, der erst wütend losläuft, sich dann aber über seine Einsamkeit freut, erinnert an den Protagonisten von „Weit über das Land“. Ebenfalls an diesen Roman erinnert mich die Berghüttenszene in der titelgebenden Erzählung.
Alle Erzählungen dieses Bandes überraschen und fordern heraus. Besonders beeindruckend finde ich „Sabrina, 2019“. Darin verwandelt sich ein „unscheinbares Mädchen, das verängstigt in die Welt schaut“ vom Künstlermodell in das Kunstwerk selbst, eine Umkehr des Pygmalionmythos. So habe ich das Gelesene interpretiert.
Das ist das Schöne an Peter Stamms Literatur. Sie bietet keine Eindeutigkeit. Ihre Sprünge zwischen den verschiedenen Ebenen der Fiktionen öffnen Möglichkeiten und machen die Lektüre zu einem anregenden Spiel mit der eigenen Fantasie.