Fern voneinander fühlt man sich nah

Peter Stamm führt seine Leser „Weit über das Land“ und sehr schön in die Irre

u1_978-3-10-002227-1Sei­ne ab­ge­leg­ten So­cken wa­ren der ers­te Be­weis da­für, dass er sei­ne al­te Exis­tenz ab­ge­streift hat­te. Er wür­de nicht zu­rück­kom­men, er hat­te sich aus dem Le­ben ent­fernt und hat­te, nackt wie ein Neu­ge­bo­re­nes, ein an­de­res Le­ben begonnen.“

Die­ser Ge­dan­ke be­fällt As­trid als Tho­mas schon seit meh­re­ren Ta­gen ver­schwun­den ist. Voll­kom­men spur­los hat er sich je­doch nicht aus Ehe und Fa­mi­li­en­le­ben fort ge­macht. Da­von kün­den die Hin­ter­las­sen­schaf­ten, die As­trid von der Po­li­zei ent­ge­gen nimmt. Wie das ge­mein­sa­me On­line­kon­to ver­rät, hat Tho­mas sich für sei­nen Weg „Weit über das Land mit Wan­der­sa­chen ver­sorgt. Der neue Ro­man des be­kann­ten Schwei­zer Au­tors Pe­ter Stamm spielt in des­sen Hei­mat. Es ist aus ver­schie­de­nen Grün­den da­mit zu rech­nen, daß die­se li­te­r­a­ri­sier­te Flucht­be­we­gung bald in hö­he­re Ge­fil­de führt.

Die Grün­de für Tho­mas’ Ver­hal­ten lie­gen zu­nächst of­fen und sind für sei­ne Frau As­trid rät­sel­haft. Lang­jäh­ri­ge Be­zie­hung nei­gen nun mal da­zu, Kon­flikt­ma­te­ri­al im Hin­ter­grund zu sta­peln, wo es, falls ei­ne recht­zei­ti­ge Be­sei­ti­gung un­ter­bleibt, bald den höchs­ten Al­pen­gip­fel über­ragt. Ob dies auch auf die Ehe von Tho­mas und As­trid zu­trifft, dar­über darf der Le­ser spe­ku­lie­ren. Pe­ter Stamm lie­fert sub­ti­le Hin­wei­se in ei­ner Ge­schich­te, die zu­nächst ge­ra­de und bei­na­he harm­los ver­läuft, de­ren Er­zähl­fä­den mal aus Tho­mas, mal aus As­trids Er­le­ben sich zu ei­nem Ge­flecht ver­knüp­fen, den Le­ser fes­seln und am En­de fast wirr machen.

Al­les be­ginnt ganz ge­müt­lich auf ei­ner Bank vor dem Haus in der Abend­son­ne. Mit ei­nem Glas Rot­wein lässt das Ehe­paar den letz­ten Fe­ri­en­tag aus­klin­gen. Ge­ra­de sind sie aus dem Ur­laub zu­rück­ge­kehrt. Als ei­nes der Kin­der ruft, geht As­trid ins Haus und be­ru­higt es. Sie bleibt, ord­net Din­ge, die nach ei­ner Rei­se an­fal­len und geht bald zu Bett. Tho­mas wird wohl nach­kom­men, er wird die Zei­tung zu En­de le­sen, sein Glas lee­ren. Doch Tho­mas geht, zu­nächst vors Haus, dann durch die Stra­ße, aus dem Ort hin­aus, schließ­lich weit übers Land.

Sein Feh­len be­merkt As­trid erst am kom­men­den Tag. Sie deckt es ge­gen­über den Kin­dern und sei­nem Ar­beit­ge­ber. Erst ei­nen Tag spä­ter geht sie zur Po­li­zei und gibt ei­ne Ver­miss­ten­an­zei­ge auf.

Tho­mas setzt sei­nen Fuß­marsch fort. Un­ter­schlupf fin­det er, wo er sich bie­tet. Er über­nach­tet im Vor­zelt ei­nes ein­sa­men Cam­ping­wa­gens und ein star­ker Re­gen treibt ihn un­wis­send in ein Bor­dell, wo er beim Bier bleibt. Dies ver­mu­tet auch der jun­ge Kom­mis­sar als As­trid ihm die Ab­bu­chung zeigt. Die Po­li­zei setzt ei­nen Such­hund ein. Als die­ser die Spur ver­liert, ver­folgt As­trid die von Tho­mas be­wusst oder un­be­wusst ge­leg­te Fähr­te, die je­doch schließ­lich nicht wei­ter­führt. Es gibt zu vie­le mög­li­che Ab­zwei­gun­gen, in den Ber­gen wie im Le­ben. As­trid fragt sich, was ge­sche­hen wä­re, hät­te nicht sie son­dern Tho­mas nach Kon­rad geschaut.

Tho­mas ver­misst zu­nächst nichts auf sei­ner ein­sa­men Wan­de­rung. Seit je­her ein Ein­zel­gän­ger oh­ne Freun­de kommt er gut mit sich zu­recht. Ob­wohl er sich im­mer wei­ter von As­trid und den Kin­dern ent­fernt, spürt er „ein dif­fu­ses Ge­fühl der Ver­bun­den­heit, das ihn wärmt“. Ein­sam fühlt er sich erst, als er nach ei­ni­gen Ta­gen abends an ei­nem klei­nen Tisch in ei­ner Gast­stu­be sitzt und zu der gro­ßen Fa­mi­li­en­ta­fel der Wir­tin blickt. War­um ihn die­ser Mo­ment nicht ver­an­lasst zu­rück zu keh­ren, liegt wohl dar­an, daß ihm Ge­füh­le schwer fal­len. Nicht nur sich selbst ge­gen­über hält er sie zu­rück, auch ge­gen­über As­trid, wie die Er­in­ne­run­gen an ih­re ers­te Be­geg­nung zeigen.

Weit über das Land“ ist kei­nes­wegs nur ei­ne Be­zie­hungs­ge­schich­te. Pe­ter Stamm schil­dert ei­ne Ex­pe­di­ti­on ins Un­er­forsch­te. Schon zu Be­ginn sei­nes Aben­teu­ers ver­lässt sein Held „das Gra­vi­ta­ti­ons­feld“ und macht sich auf ei­ne Be­geg­nung mit „viel­köp­fi­gen We­sen“ ge­fasst. Dies klingt nach Ge­fahr, min­des­tens nach ei­nem Aben­teu­er, auf das sich auch der Le­ser ein­stel­len soll­te. Es wird ihn im letz­ten Drit­tel des Ro­mans aufs Bes­te durcheinanderwirbeln.

Kon­stru­iert ist der Ro­man klar. Wech­sel­wei­se wird vom Er­le­ben und Emp­fin­den der bei­den Prot­ago­nis­ten er­zählt. Die sich lang­sam ent­wi­ckeln­de Span­nung nimmt zu, als As­trid die Ver­fol­gung auf­nimmt, und stei­gert sich auf den letz­ten 70 Seiten.

Schon zu­vor fällt bei man­chem Mo­dus­wech­sel die Dop­pel­bö­dig­keit auf. Der Kon­junk­tiv ver­un­si­chert den Le­ser, ob er sich in der Rea­li­tät des Ro­mans be­fin­det oder in der Vor­stel­lungs­welt der Fi­gu­ren. Ein Ver­weis auf „Die grü­ne Wol­ke ver­stärkt den Ver­dacht. Die­ses Buch des Päd­ago­gen A. S. Neill, be­kannt als Be­grün­der der Sum­merhill-School, ist ei­nes der Lieb­lings­bü­cher von Tho­mas. In Neills eben­so aben­teu­er­li­cher wie ver­gnüg­li­cher Dys­to­pie be­ein­flus­sen die Fi­gu­ren, die zu­gleich in der Rah­men­hand­lung die Zu­hö­rer der Ge­schich­te sind, nach je­dem Ka­pi­tel die wei­te­re Hand­lung des Ro­mans. Ähn­li­ches scheint sich auch in Stamms Ro­man zuzutragen.

Wäh­rend er hö­her stieg, war es ihm, als ge­he er rück­wärts in der Zeit“. Vor­der­grün­dig be­schreibt die­ser Satz die Ver­än­de­rung der Ve­ge­ta­ti­ons­gren­zen im Ge­bir­ge, doch wer­den ab die­sem Punkt auch die Gren­zen der ur­sprüng­li­chen Er­zähl­ebe­ne nicht mehr ein­ge­hal­ten. Stamm und mit ihm sei­ne Le­ser sprin­gen von Fik­ti­on zu Fik­ti­on. Dies macht das Be­son­de­re des Ro­mans aus. Im Ver­we­ben ver­schie­de­ner Er­zähl­fä­den be­weist Stamm sein li­te­ra­ri­sches Kön­nen. Ähn­lich wie sich „Agnes“ als Spiel mit der Me­ta­ebe­ne aus­zeich­net, be­ein­druckt hier das Spiel mit Phan­ta­sie und Rea­li­tät. Aber was ist schon re­al in der fik­ti­ven Welt ei­nes Romans?

Fa­zit: Ein ein­ma­li­ges Le­sen lässt den Le­ser über­rascht zu­rück. Der wah­re Ge­nuss ent­steht beim ak­ku­ra­ten Fi­le­tie­ren des Endstücks.

Peter Stamm, Weit über das Land, S. Fischer Verlag, 1. Aufl. 2016

2 Gedanken zu „Fern voneinander fühlt man sich nah“

  1. Im Ro­man wird die al­te Fra­ge nach der Iden­ti­tät ge­stellt. Kann die bis­he­ri­ge Iden­ti­tät ab­ge­legt werden ?
    Kann man tat­säch­lich neu beginnen.
    Pe­ter Stamm lässt den Ro­man be­gin­nen, nach­dem die Ur­laubs­rei­se vor­bei ist. Nach Ur­laubs­er­leb­nis­sen stellt sich oft die Fra­ge, in­wie­weit sich die Le­bens­ver­hält­nis­se än­dern las­sen, nach­dem man oft auch ver­schie­de­ne Men­schen mit ganz an­de­ren Le­bens­ent­wür­fen ken­nen ge­lernt hat.
    Span­nend fin­de ich, wie Pe­ter Stamm dann schil­dert, wie Tho­mas in ähn­li­che Struk­tu­ren zurückkehrt.
    Mit sei­nem phi­lo­so­phi­schen Hin­ter­grund schil­dert er, mei­ne ich, dass je­der wie­der nach ge­wis­ser Zeit in ähn­li­che Ver­hält­nis­se zu­rück­kehrt und sich die wah­re Iden­ti­tät wie­der durchsetzt.

  2. Dan­ke für dei­ne An­mer­kung, Gerhard.

    Tho­mas lässt sei­ne bis­he­ri­ge „Exis­tenz”, wie es im Ro­man for­mu­liert ist, zu­rück. Sei­ne Iden­ti­tät nimmt er mit. Stamm ent­wi­ckelt für sei­nen Prot­ago­nis­ten neu­en Le­bens­ent­wür­fe. Ob sich da­durch auch sei­ne Per­sön­lich­keit ver­än­dern, sich sei­ne Iden­ti­tät entwickelt?

    Ich ver­mu­te, daß je­de Per­sön­lich­keit ein „viel­köp­fi­ges We­sen” ist, ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten, die je nach Le­bens­si­tua­ti­on zu Ta­ge tre­ten. Aber der Kern bleibt stabil.

    Ich se­he, ich muss den Ro­man bald ein­mal wie­der le­sen. Und das wer­de ich sehr ger­ne tun, denn er bie­tet auf we­ni­gen Sei­ten sehr viel mehr In­halt als so man­ches ver­schwa­fel­tes Schwer­ge­wicht. Da­mit mei­ne ich ak­tu­ell A. L. Ken­ne­dys „Sü­ßer Ernst”. Platz 1 der SWR-Bes­ten­lis­te Fe­bru­ar, ich weiß nicht warum.

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