Proust – Sodom und Israel

Die Soiree der Prinzessin von Guermantes, Bd. 4, II. 1

Die An­ge­hö­ri­gen der Ge­sell­schaft stel­len sich Bü­cher gern als ei­ne Art Ku­bus vor, des­sen ei­ne Sei­te ent­fernt ist, so dass der Au­tor nichts Ei­li­ge­res zu tun hat, als die Per­so­nen, de­nen er be­geg­net, hineinzustecken.“

An die­sem Abend er­füllt sich ein lang ge­heg­ter Wunsch des jun­gen Mar­cel. Er ist Gast bei der Soi­ree der Prin­zes­sin von Guer­man­tes, auch wenn er sich nicht si­cher ist, tat­säch­lich ein­ge­la­den zu sein zu die­sem höchst an­ge­se­hen Sa­lon. Hö­her geht es kaum im Rang der Pa­ri­ser Er­eig­nis­se. Das abend­li­che Tref­fen beim Prin­zen und der Prin­zes­sin von Guer­man­tes wird nur durch die an­schlie­ßen­de Teil­nah­me am Sou­per über­trof­fen. Auch dies wird Mar­cel an­ge­bo­ten, doch er schlägt es aus Ge­fühls­grün­den aus.

Wäh­rend der Soi­ree trifft er vie­le Be­kann­te, al­len vor­an Ba­ron de Char­lus. Er führt län­ge­re Ge­sprä­che mit Swann, Saint-Loup und Bloch. Ne­ben den Be­geg­nun­gen amü­siert er sich beim Be­ob­ach­ten der an­de­ren Gäs­te, folgt ih­ren Ge­sprä­chen und ih­rem Ver­hal­ten. Be­son­ders das der ver­steckt Ho­mo­se­xu­el­len er­scheint ihm nun mehr als of­fen­sicht­lich. Auch wenn „der In­ver­tier­te glaubt, er sei der ein­zi­ge sei­ner Art“.  Er blickt nun hin­ter die Ku­lis­sen von So­dom. Die af­fek­tier­te Art des Ba­rons fällt ihm auch beim Mar­quis de Vau­gou­bert auf. Der Be­am­te in di­plo­ma­ti­schem Dienst, dem sei­ne Hei­rat ei­nem „Ein­tritt in ei­nen Mönchs­or­den“ gleich­kam, ist viel­leicht der Ein­zi­ge der ho­hen Ge­sell­schaft, mit dem Char­lus „ver­trau­lich stand“. Sonst sucht der Ba­ron sei­ne Blü­ten ja eher un­ter Schnei­dern und Kutschern.

Noch be­vor Mar­cel den Sa­lon be­tritt fällt sein Blick auf zwei Män­ner. Ei­nem jun­gen Her­zog und dem Tür­ste­her, die zu­vor an­onym in den Champs-Ély­sées auf­ein­an­der ge­sto­ßen wa­ren, be­schert die Soi­ree ein un­ver­hoff­tes Wie­der­se­hen. Dem Tür­ste­her scheint dies mehr zu ge­fal­len als dem jun­gen Ad­li­gen. Des­sen Iden­ti­tät liegt nun of­fen, der Be­diens­te­te hin­ge­gen fühlt sich ge­ehrt, da der Hö­her­ge­stell­te ihm vor kur­zem der­art zu Diens­ten stand.

Mar­cel wird von der Prin­zes­sin be­grüßt und spürt, daß sie ihm „ganz und gar nichts zu sa­gen hat­te“. Sie bie­tet ihm noch nicht ein­mal ein Glas an und ver­weist auf ih­ren Gat­ten, der im Gar­ten zu fin­den sei. Wäh­rend Mar­cel nun nach ei­nem Be­kann­ten Aus­schau hält, der ihn dem Prin­zen vor­stel­len könn­te, hört er das Ge­re­de Char­lus‘. Der spricht ge­gen ei­nen an­de­ren an, der eben­so ger­ne re­det. Für Mar­cel sind bei­de „Mo­no­lo­gis­ten“. Ein Sa­lon ist ein art­ge­rech­tes Ha­bi­tat für In­di­vi­du­en die­ser Spe­zi­es, die selbst er­schöpft, „sich dann aber in der Un­ter­hal­tung wie­der­be­le­ben wie ei­ne Blu­me im Was­ser und die über Stun­den hin­weg aus ih­ren ei­ge­nen Wor­ten Kräf­te schöp­fen kön­nen, die sie be­trüb­li­cher­wei­se nicht auf die­je­ni­gen über­tra­gen, die sie hö­ren und die all­mäh­lich in dem Ma­ße nie­der­ge­schla­gen wir­ken, in dem der Spre­cher sich er­frisch­ter fühlt“.

Char­lus hat­te al­so kei­ne Zeit, ihn dem Prin­zen vor­zu­stel­len. Mar­cel scheut sich oh­ne­hin, den Ba­ron zu bit­ten. Er könn­te es ihm noch nach­tra­gen, daß er ei­ne Ein­la­dung aus­ge­schla­gen hat­te. Ge­gen­über sei­nen El­tern hat­te Mar­cel dies mit den „eh­ren­rüh­ri­gen“ Ab­sich­ten des Ba­rons ge­recht­fer­tigt. Da­mals ei­ne Not­lü­ge, de­ren Wahr­heit er jetzt er­kannt hat.

Wie als Be­kräf­ti­gung ent­lar­ven Char­lus sei­ne be­gie­ri­gen Bli­cke auf die schö­nen Söh­ne der Ma­dame de Sur­gis und das Ta­xie­ren der hüb­scher Se­kre­tä­re. Din­ge, in de­nen ihm Mon­sieur de Vau­gou­bert in nichts nachsteht.

Mar­cels Blick hin­ge­gen fällt auf Pro­fes­sor E., den Arzt, der sei­ne Groß­mutter so schlecht wie falsch be­han­delt hat. „Die Irr­tü­mer der Ärz­te sind oh­ne Zahl“.

In­dem Mar­cel ver­folgt, wie Ma­dame d’Arpajon nach ei­nem ent­fal­le­nen Na­men sucht, zeigt Proust, wie müh­sam die Me­cha­nis­men „in die­sem gro­ßen Such-mich-doch, das sich im Ge­dächt­nis ab­spielt“ in Gang kom­men. „Plötz­lich er­scheint der ex­ak­te Na­me, und völ­lig an­ders, als man zu ah­nen glaubt.“

In je­dem Fal­le sind, falls es Über­gän­ge zwi­schen dem Ver­ges­sen und der Er­in­ne­rung ge­ben soll­te, die­se Über­gän­ge un­be­wusst.“ Proust ge­währt in die­ser so wich­ti­gen Pas­sa­ge so­gar dem Le­ser das Wort, um dem Au­tor wie sei­ner Haupt­fi­gur vor­zu­wer­fen, „dass es recht fa­tal ist, wenn Sie schon als der jun­ge Mann, der Sie wa­ren (oder der ihr Held war, falls Sie es nicht sel­ber sind), ein zu schlech­tes Ge­dächt­nis ge­habt ha­ben sollten.“

Die Be­geg­nung mit Mon­sieur de Bré­au­té reißt den jun­gen Mann aus sei­nen Über­le­gun­gen. End­lich er­gibt sich die Ge­le­gen­heit, dem Gast­ge­ber prä­sen­tiert zu wer­den. Der gro­ße Ge­gen­satz, den die Zu­rück­hal­tung des Prin­zen von Guer­man­tes ge­gen­über sei­nem Cou­sin Ba­sin dar­stellt, emp­fin­det Mar­cel zu­nächst als ab­wei­send und kalt. Doch schließ­lich er­kennt er dar­in die wah­re No­bles­se. Die auf­fäl­li­ge Herz­lich­keit des Her­zo­gen­paa­res ent­larvt er. Die­se ver­hiel­ten sich „in der net­tes­ten Wei­se, die man sich vor­stel­len kann, um ge­liebt und be­wun­dert zu wer­den, aber nicht, da­mit man ih­nen glaub­te; durch­schau­te man den schein­haf­ten Cha­rak­ter ih­rer Lie­bens­wür­dig­keit, so war man wohl­erzo­gen; die Lie­bens­wür­dig­keit für echt zu hal­ten, das war schlech­te Erziehung“.

Über­haupt gilt in den Sa­lons mehr Schein als Sein. Dies be­trifft nicht nur die Ho­mo­se­xu­el­len, die ih­re Iden­ti­tät zu ver­ber­gen ha­ben, auch wenn sie noch so of­fen­sicht­lich ist. So räumt Ma­dame de Guer­man­tes Fro­ber­ville ge­gen­über ein, „Ich ha­be mich kaum mit Ih­nen un­ter­hal­ten, aber so ist das in der Ge­sell­schaft, man trifft sich nicht, man sagt sich nicht die Din­ge, die man sich sa­gen möchte.“

Den­noch ge­lingt es ei­ni­gen, vor al­lem den „Mo­no­lo­gis­ten“ wie Char­lus. We­nig zu­rück­hal­tend re­det er sich um Kopf und Kra­gen, in­dem er „Ge­rüch­te de­men­tier­te, von de­nen man gar nicht ver­mu­te­te, dass sie um­lie­fen“ und „je­nen den letz­ten Zwei­fel nahm, die ei­nen sol­chen hat­ten, und de­nen den ers­ten ein­gab, die noch kei­nen hatten.“

Ge­rüch­te ran­ken sich auch um das gro­ße Ge­sell­schafts­the­ma der Af­fä­re Drey­fus. Wer ist ein Drey­fusard? Wer von der Schuld des Haupt­manns über­zeugt? Wer hofft auf ei­ne er­neu­te Re­vi­si­on des Ver­fah­rens? Wer un­ter­schreibt die Pe­ti­ti­on für Picquart?

Der von der Krank­heit ge­zeich­ne­te Swann dient als Mo­tor die­ses The­mas. Vom Prin­zen wird Swann „mit der Ge­walt ei­ner Saug­pum­pe“ in den Gar­ten ent­führt, um in Ru­he über die Sa­che zu spre­chen. Auch der Prinz von Guer­man­tes ist in­zwi­schen von der Un­schuld Drey­fus‘ über­zeugt, will sei­ne Mei­nung als ad­li­ger Ab­weich­ler je­doch nicht an die gro­ße Glo­cke hän­gen. Sein Cou­sin Ba­sin wä­re scho­ckiert, er nimmt es so­gar dem Ju­den Swann übel, daß er die Ma­chen­schaf­ten ge­gen Drey­fus als an­ti­se­mi­ti­sche Af­fä­re emp­fin­det. Doch schon bald wird auch der Her­zog sei­ne Mei­nung ändern.

Mar­cel Proust, Auf der Su­che nach der ver­lo­re­nen Zeit. Bd. 4 So­dom und Go­mor­rha, übers. v. Bernd-Jür­gen Fi­scher, Re­clam 2015

2 Gedanken zu „Proust – Sodom und Israel“

  1. Schö­ne und gut zu le­sen­de Zu­sam­men­fas­sung. Ich wer­de dem­nächst den zwei­ten Band der „Su­che nach der ver­lo­re­nen Zeit” be­gin­nen, auch in der Über­set­zung von Fi­scher, die bei Re­clam er­schie­nen ist. Ich ha­be mir fest vor­ge­nom­men, die ge­sam­te 7‑bändige „Re­cher­che” zu le­sen, egal wie lan­ge es dau­ern mag.

    1. Oh­l­a­la, ei­nen Proust-Le­ser be­grü­ße ich doch ger­ne auf mei­ner Sei­te! Du fin­dest viel­leicht noch ein paar An­ga­ben in mei­nen bis­he­ri­gen Beiträgen.
      Ich wün­sche Dir noch vie­le schö­ne Stun­den mit Proust!

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