„Jähe Enthüllung der wahren Natur des Monsieur de Charlus“ — Proust 4. Band, I.
„Zudem begriff ich jetzt, wieso ich vorhin, als ich Monsieur de Charlus von Madame de Villeparisis hatte herauskommen sehen, finden konnte, er sehe aus wie eine Frau: Er war eine! Er gehörte zu der Rasse jener Menschen (sie sind weniger widerspruchsvoll, als es den Anschein hat), deren Ideal männlich ist, gerade weil sie von weiblichem Temperament sind, und sie im Leben nur scheinbar den anderen Männern gleichen; (…) eine Rasse auf der ein Fluch liegt und die in Lüge und Meineid leben muß, da sie weiß, daß ihr Verlangen, das, was für jedes Geschöpf die höchste Beseeligung im Dasein ausmacht, für sträflich und schmachvoll, für ganz uneingestehbar gilt.“ (Keller 4, 26f., Suhrkamp)
Wer hätte gedacht, daß Proust diese Enthüllung, ‑für die endgülige Ausgabe verwarf er den obigen Titel des Kapitels, das auf den Essays „Über die Päderastie“ zurückgeht‑, mit der bekannten Metapher von Blüte und Bienchen bebildern würde? Beides spezifiziert er, aus der Blüte wird eine Orchidee, wenn nicht gar ein Knabenkraut, und aus der Biene eine Hummel. Es ist klar, worum es geht. Um die Befruchtung, oder um wieder vom Spezifischen ins Allgemeine zu kommen, um die Sexualität. Würden wir uns hier über die französische Originalausgabe unterhalten, wüssten wir, daß Proust ‑aber das wissen wir sowieso- auch im Allgemeinen das Besondere sieht. So müssen die Kommentare, den vierten Band der Recherche lese ich in der Reclam- und in der Suhrkamp-Ausgabe, helfen.
Marcel steht am Treppenhausfenster des Palais, weil er die herzögliche Ankunft abpassen will. Wir erinnern uns, er möchte die Einladung bei der Fürstin sondieren. Während er wartet, schweift sein Blick im Hof umher und fällt auf eine Orchidee, die ihrerseits auf eine Hummel wartet. Diese Boudon, das Wort bezeichnet im Französischen auch Penis, erscheint zunächst nicht, um ihren Rüssel in die Blütenöffnung zu stecken. Dafür taucht Baron de Charlus auf, dessen hintere Partie hummelartig ausragt. Marcel duckt sich, er möchte auf keinen Fall von Charlus aufgespürt werden, hatte der sich doch ihm gegenüber in der Vergangenheit mehrfach seltsam verhalten. Wie erinnern uns an seinen schon etwas länger zurückliegenden abendlichen Besuch in Marcels Zimmer im Grand-Hotel sowie an den kürzlich erfolgten Besuch Marcels bei Charlus.
Marcel späht erneut durchs Fenster und sieht, daß seine Vorsicht gar nicht von Nöten gewesen wäre. Charlus’ Aufmerksamkeit ist vollkommen von anderem gefangen. Es ist Jupien, der auf dem Weg ins Büro, vom Blick auf den Baron in einen balzähnlichen Zustand versetzt wurde. Die beiden, könnte man sagen, „Hummel und Orchidee“ weiterlesen