Amerika und Europa — Eitelkeit und Leidenschaft

Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren“ — fünf Erzählungen von Henry James

Auf je­den Fall war sie für mich das fes­selnds­te; es ist nicht mei­ne Schuld, wenn ich nun ein­mal so ver­an­lagt bin, dass ich an Si­tua­tio­nen, die zwei­fel­haft sind und der In­ter­pre­ta­ti­on be­dür­fen, viel­fach mehr Le­ben aus­ma­chen kann als am of­fen­kun­di­gen Ge­klap­per im Vor­der­grund. Und es steck­ten al­le mög­li­chen Din­ge, an­rüh­ren­de, amü­san­te, rät­sel­haf­te Din­ge – und vor al­lem ei­ne sol­che Ge­le­gen­heit, wie sie sich mir zu­vor noch nie ge­bo­ten hat­te – in die­sem lus­ti­gen klei­nen Schicksal (…).“

War­um man gu­te Li­te­ra­tur — und da­zu zäh­len zwei­fel­los die Wer­ke Hen­ry Ja­mes’ — le­sen soll­te, zeigt die­ses Zi­tat des Au­tors, des­sen hun­derts­ter To­des­tag im ver­gan­ge­nen Jahr vie­le Ver­la­ge mit Neu­aus­ga­ben ehr­ten. So hat­te ich mit Dai­sy Mil­ler und Ei­ne Da­me von Welt zum ers­ten Mal das Ver­gnü­gen, die­sem Au­tor zu be­geg­nen. Vor al­lem sei­ne iro­ni­schen, schnel­len Dia­lo­ge ga­ran­tie­ren ei­ne kurz­wei­li­ge Lek­tü­re. Sein Haupt­the­ma, die kul­tu­rel­len Dif­fe­ren­zen zwi­schen den USA und Eu­ro­pa, scheint heu­te ak­tu­el­ler denn je. Die An­sich­ten des neun­jäh­ri­gen, neu­rei­chen Ame­ri­ka­ners über eu­ro­päi­sche Ver­hält­nis­se wür­de POTUS45 si­cher goutieren.

Der 1843 ge­bo­re­ne Ame­ri­ka­ner Hen­ry Ja­mes war ein aus­ge­zeich­ne­ter Eu­ro­pa-Ex­per­te. Seit sei­ner Ju­gend be­reis­te er den Kon­ti­nent, auf dem er bald sei­ne Wahl­hei­mat fand. Die ge­gen­sei­ti­gen Ste­reo­ty­pe und Vor­ur­tei­le wa­ren ihm wohl­ver­traut, ins­be­son­de­re als Ur­sa­chen von Wir­ren und Lie­bes­leid, wie sei­ne fein­füh­li­gen Be­ob­ach­tun­gen zeigen.

Die ti­tel­ge­ben­de Er­zäh­lung Das Ta­ge­buch ei­nes Man­nes von fünf­zig Jah­ren bie­tet schon durch die Form ei­nen tie­fen Blick in die In­nen­welt ih­res Prot­ago­nis­ten. Der 52jährige reist an den Ort sei­ner eins­ti­gen Lei­den­schaft zu­rück und er­lebt in Flo­renz ei­nen Früh­ling, des­sen Son­nen­strah­len — ähn­lich wie Prousts Made­lei­ne — ver­dräng­te Er­in­ne­run­gen we­cken. „Die Wär­me die­ser gel­ben Son­ne von Flo­renz ist es, die den Text mei­ner ei­ge­nen ju­gend­li­chen Ro­man­ze er­neut zum Vor­schein ge­bracht hat.“

Sei­ne Lie­be zur Cont­essa Sal­vi blieb vor 27 Jah­ren un­er­füllt. Noch heu­te ist er da­von über­zeugt, sie ha­be ihn nach ei­nem Flirt fal­len­ge­las­sen. Ver­ges­sen hat er sie nie, sei­ne Streif­zü­ge durch Flo­renz, sei­ne Be­su­che der Bo­bo­li-Gär­ten rei­chen „ei­ne be­gra­be­ne Epi­so­de von vor mehr als ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert wie­der zu ex­hu­mie­ren“. Ein Zu­fall führt ihn zum Sa­lon sei­ner da­ma­li­gen Cont­essa. Ein wei­te­rer Zu­fall macht ihn mit ei­nem jun­gen Eng­län­der be­kannt, der dort ein und aus geht. So wie er da­mals der Mut­ter ist sein Lands­mann ih­rer Toch­ter, der Cont­essa Sal­vi-Sca­ra­bel­li, ver­fal­len. So emp­fin­det es der Ta­ge­buch­schrei­ber, der den jun­gen Mr. Stan­mer mit al­len Mit­teln vor dem dro­hen­den Un­glück zu ret­ten sucht.

Ein Ta­ge­buch ist ei­ne ge­eig­ne­te Form die Ge­füh­le sei­nes Ver­fas­sers of­fen zu le­gen. Ja­mes nutzt dies ge­schickt und stellt gleich zu Be­ginn Fra­gen nach der Au­then­ti­zi­tät von Er­in­ne­rung und ih­rer Ver­än­de­rung im Lau­fe der Zeit. „Was wird in den lan­gen Zeit­span­nen des Be­wusst­seins aus sol­chen Din­gen? Wo hal­ten sie sich ver­steckt? In wel­chen un­be­ach­te­ten Ge­las­sen und ver­bor­ge­nen Win­keln un­se­res Seins über­dau­ern sie?“

Die Be­geg­nung mit dem jun­gen Ver­eh­rer der Cont­essa ge­rät dem Prot­ago­nis­ten zum Dé­jà-vu. Der Äl­te­re zieht den Jün­ge­ren ins Ver­trau­en und er­hält Zu­gang zum Sa­lon der Sal­vi. Schließ­lich of­fen­bart er sich der Cont­essa, die sich an den Gio­va­ne Ing­le­se aus den Er­zäh­lun­gen ih­rer Mut­ter er­in­nert. Der Dia­log zwi­schen Bei­den kommt trotz al­ler An­spie­lun­gen nicht zum Kern der Sa­che, so daß der Äl­te­re wei­ter­hin sei­nen ver­meint­li­chen Lei­dens­ge­nos­sen von sei­ner Lei­den­schaft ab­zu­brin­gen sucht. Erst Jah­re spä­ter of­fen­bart ihm ei­ne er­neu­te Be­geg­nung Einsicht.

Die 1879 ent­stan­de­ne Er­zäh­lung ist die äl­tes­te der ins­ge­samt fünf des Ban­des. Mit ih­ren 50 Sei­ten Um­fang liegt sie im mitt­le­ren Be­reich, aus dem die eben­falls als Ta­ge­buch ge­fass­te Er­zäh­lung „Die Ein­drü­cke ei­ner Cou­si­ne“ mit dop­pel­ter Län­ge her­aus­fällt. Das macht sie al­ler­dings auch et­was zäh. Mehr Spaß bie­ten die üb­ri­gen vier. In „Loui­sa Pal­lant“ va­ri­iert Ja­mes das The­ma der Ta­ge­buch-Ge­schich­te. Im „Der Bel­do­nald-Hol­bein“ stellt er ei­ne Ame­ri­ka­ne­rin, „gut er­hal­ten wie ein­ge­mach­tes Obst in spi­ri­tus“, zur Schau, auf die, „die Ei­tel­keit den selt­sa­men Ef­fekt ge­habt hat, sie ganz ge­sund und mun­ter zu hal­ten“. Wäh­rend er in „Der spe­zi­el­le Fall“ die in ver­wir­ren­der Wei­se auf­ge­stell­ten Per­so­nen „von ei­ner Lei­den­schaft (packt), durch­ge­schüt­telt wie ei­ne Rat­te im Ra­chen ei­nes Ter­ri­ers“.

Die kur­ze Form war, so Mai­ke Al­bath in ih­rem le­sens­wer­ten Nach­wort, meist von den Zeit­schrif­ten vor­ge­ge­ben, für die Ja­mes schrieb. Al­bath be­rich­tet auch von der wech­sel­wei­sen In­spi­ra­ti­on Hen­ry Ja­mes’ und sei­nes Bru­ders Wil­liam, der als ein­fluss­rei­cher Psy­cho­lo­ge in Har­vard lehr­te. Psy­cho­lo­gi­sches Ge­spür be­weist Ja­mes bei al­len Er­zäh­lun­gen, ob er sie der Ei­tel­keit, der Ei­fer­sucht oder dem gro­ßen The­ma der Zu­rück­wei­sung wid­met. Aus der tie­fen Me­lan­cho­lie, die „nicht ge­nug Her­zens­kraft (lässt), um ei­ne an­de­re Frau zu hei­ra­ten“ ret­tet der Au­tor sich und sei­ne Le­ser durch Ironie.

Die Er­zäh­lun­gen des schön ge­stal­te­ten Ma­nes­se-Ban­des lie­gen in der ak­tu­el­len Erst­über­set­zung von Fried­helm Ra­th­jen vor und sind durch An­mer­kun­gen er­gänzt so­wie durch ein aus­führ­li­ches Nach­wort von Mai­ke Albath.

Henry James, Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren, übers. v. Friedhelm Rathjen, 1. Aufl. 2015, Manesse Verlag

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