Erri de Lucas antike Tragödie „Il giorno prima della felicità”
„I vecchi palazzi contenevano botole murate, passaggi segreti, delitti e amori. I vecchi palazzi erano nidi di fantasmi. (…) Mi figuravo da bambino di essere un pezzo di questo palazzo, mio padre era l’edificio, mia madre il cortile.“
In einem alten Palazzo voller Geheimnisse lebt der Ich-Erzähler aus Erri de Lucas Roman „Il giorno prima della felicità/ Der Tag vor dem Glück“. Das Wohnhaus steht in einer Gasse Neapels, der Stadt am Vesuv, die 700 v. Chr. während der Griechischen Kolonisation gegründet wurde. Relikte ihrer altgriechischen Wurzeln lassen sich in archäologischen Funden fassen und ebenso in der Sprache der Stadt, dem Napoletano.
Der aus Neapel stammenden Autor Erri de Luca tradiert dieses Erbe. Napoletano prägt die Dialoge seines Roman, der in Inhalt und Form einem antiken Stoff gleicht. Wie im Mythos trifft ein Held auf seinen Gegenspieler, beschützt von einer Figur mit übernatürlichen Fähigkeiten. Die Begleitumstände werden wie im antiken Drama als Nebengeschichten kommentiert. Im vorliegenden Roman sind dies die historischen Ereignisse der Vierziger und Fünfziger Jahre, die Quattro Giornate di Napoli als die Bevölkerung sich in den letzten Septembertagen des Jahres 1943 gegen die Deutsche Besatzung zur Wehr setzte und die Errichtung des US-Flottenstützpunkts in der Hafenstadt, wodurch die Contrabanden der Camorra zu neuer Macht kamen.
Doch es ist kein Chor, der davon berichtet. Erri de Luca überlässt diesen Part Don Gaetano, dem Portier des Palazzos. Er erzieht und ernährt den Jungen und gibt ihm mit kleinen Aufgaben das Gefühl, gebraucht zu werden. Er ist eine Vaterfigur mit dem Namen eines christlichen Heiligen. Noch heute wird San Gaetano in Neapel als Schutzpatron der Arbeit und der Nahrung verehrt.
Unter dem wachsamen Blick des Portiers wächst der elternlose Junge auf. Eine anonyme Adoptivmutter finanziert seine Schlafkammer und das Schulgeld. Durch Bücher, die er in einem Versteck entdeckt, wird er zum Leser, unterstützt von einem großherzigen Antiquar. Doch er bleibt auf sich gestellt und erkundet mit dieser Freiheit die Stadt. Er durchdringt die Geheimnisse Neapels, je älter er wird und je mehr er durch Gaetano erfährt. Dieser schickt ihn zum Fischfang aufs Meer und erklimmt mit ihm den Krater des Vesuvs. Il Guaglió, der Junge, findet so seine Identität. Er wird ein Sohn Neapels, bereit für seine Freiheit zu kämpfen, wie die Menschen im September 43, oder beim Ausbruch des Vulkans zu fliehen. Wie die Juden sind die Menschen dieser Stadt stets bereit dem Unglück zu entrinnen. „Gli ebrei sono allenati a scappare, come noi che teniamo il terremoto sotto i piedi e il vulcano pronto.“
Kurz vor seinem 18. Geburtstag offenbart Don Gaetano dem Jungen, sein Wissen über den Vater. Dieser hatte seine Frau, die ihn mit einem Amerikaner betrogen hatte, erschossen und floh dann übers Meer. Den Sohn ließ er in der Obhut Gaetanos zurück.
Als kurz darauf Anna auftaucht, in die er seit seiner Kindheit verliebt ist, scheint sich für den Jungen ein ähnlicher Weg anzudeuten. Anna ist die Verlobte eines Camorrista, sobald dieser seine Gefängnisstrafe abgesessen hat, findet die Hochzeit statt.
Es droht zum Kitsch zu werden, wenn eine seit Jahren sehnsüchtig erwartete Liebe sich unter solch dramatischen Umständen erfüllt. Doch in dieser Geschichte ist Anna eine notwendige Figur. Sie führt die unlösbare Situation herbei und den Helden zu seiner Bestimmung. Er wird einen Anderen töten, um sein eigenes Leben zu retten. Der Weg wird ihm durch die Tat seiner Eltern bestimmt. Die schicksalhafte Verstrickung macht ihn wie in der antiken Tragödie schuldlos schuldig. Doch sie verleiht ihm auch eine neue Chance. Wie sein Vater lässt er Neapel hinter sich und damit Armut und Camorra, um auf einem anderen Kontinent die Freiheit zu finden.
Auch Erri de Luca verließ mit 18 Jahren seine Heimat Neapel. In dem ihm vorlegten Proust-Fragebogen verweigerte er auf die Frage, ob er einen anderen Menschen töten könne, die Antwort.