Was Kunst vermag

Peter Stamm über Kunst in Nacht ist der Tag

Stamm, Nacht ist der TagNie wird es mir ge­lin­gen, in ein Por­trät die gan­ze Kraft zu le­gen, die in ei­nem Kopf ist.
Al­ber­to Giacometti

Der neue Ro­man von Pe­ter Stamm be­steht aus drei Tei­len, de­nen je­weils ein Zi­tat vor­an steht. Wäh­rend Shake­speare den Be­ginn und der Phi­lo­soph Ernst Bloch den Schluss ein­lei­ten, fin­det sich in der Mit­te der Schwei­zer Künst­ler Al­ber­to Gi­a­co­metti mit ei­ner Aus­sa­ge, die wie ein Schlüs­sel zur vor­lie­gen­den Ge­schich­te erscheint.

Ober­fläch­lich be­trach­tet er­zählt Nacht ist der Tag die Ge­schich­te ei­ner Frau, die durch ei­nen Un­fall ihr Ge­sicht ver­liert und in den Be­mü­hun­gen dies wie­der­her­zu­stel­len zu ei­ner neu­en Iden­ti­tät fin­det. Doch hin­ter die­ser Fas­sa­de steckt viel mehr, vor al­lem die Fra­ge, was Kunst vermag.

Der ers­te und mit 126 Sei­ten um­fang­reichs­te Teil des Ro­mans, dem Shake­speare die Dis­kre­panz zwi­schen Rea­li­tät und Ima­gi­na­ti­on vor­gibt, schil­dert die Aus­gangs­si­tua­ti­on. Gil­li­an, ei­ne „Was Kunst ver­mag“ weiterlesen

Psychologenprobleme

In „Der gute Psychologe“ erzählt Noam Shpancer von sich und anderen

Ei­ne jun­ge Kli­en­tin sitzt vor Ih­nen und er­zählt Ih­nen ih­re Ge­schich­te, und beim Spre­chen hält sie sich im­mer wie­der die Hand vor den Mund. Was be­deu­tet die­se Ges­te?“ (…) Die Freu­dia­ner wer­den sa­gen, sie hat auf ei­ner un­be­wuss­ten Ebe­ne Angst da­vor, in­kri­mi­nie­ren­de In­for­ma­tio­nen preis­zu­ge­ben,“ sagt Jen­ni­fer. „Sie leis­tet Wi­der­stand; sie ist am­bi­va­lent.“ „Ja; und was wer­den die Ko­gni­ti­vis­ten sa­gen?“ „Sie wer­den sie fra­gen, was sie sich selbst er­zählt, was sie denkt.“ „Ja, und die Be­ha­vio­ris­ten?“ „Ei­ne an­ge­lern­te Ge­wohn­heit,“ ant­wor­te­te Jen­ni­fer, „viel­leicht hat sie frü­her beim Spre­chen ge­spuckt und wur­de des­we­gen aus­ge­lacht und hat da­her ge­lernt, ih­ren Mund zu be­de­cken.“ „Wirk­lich ei­ne hüb­sche An­wen­dung des be­ha­vio­ris­ti­schen Cre­dos. Je­mand hier hört zu. Hal­le­lu­ja, Jen­ni­fer; Sie ha­ben mein mü­des, al­tes Herz er­wärmt. Und à pro­pos Herz, was wer­den die Hu­ma­nis­ten sa­gen?“ „Ah, da bin ich mir nicht si­cher; ich ver­ste­he sie nicht be­son­ders gut.“ „Nein, na­tür­lich nicht,“ sagt der Psy­cho­lo­ge lä­chelnd. „Nie­mand ver­steht die Hu­ma­nis­ten, und das schließt die Hu­ma­nis­ten selbst mit ein (…)“ S. 235f.

In die­sem fast schon flap­si­gen Lehr­dia­log zwi­schen Pro­fes­sor und Stu­den­tin zei­gen sich zwei Merk­ma­le des Ro­mans „Der gu­te Psy­cho­lo­ge“. Die Psy­cho­lo­gie ist, wie die viel­fäl­ti­gen In­ter­pre­ta­ti­ons­an­sät­ze von Ver­hal­ten zei­gen, kei­ne Leh­re der ein­deu­ti­gen Hand­lungs­an­wei­sun­gen. Dies sorgt für Ir­ri­ta­tio­nen und kon­fron­tiert ih­re Ver­tre­ter bis­wei­len mit in­ne­ren Kon­flik­ten. Die Psy­cho­lo­gie hat kei­ne Pa­tent­re­zep­te, die­se Bot­schaft ver­mit­telt der Au­tor mit­un­ter ver­ein­facht und trotz Kli­schees in un­ter­halt­sa­mer, selbst­iro­ni­scher Weise.

Noam Sh­pan­cer, selbst Psy­cho­lo­ge, lehrt in Ohio als „Psy­cho­lo­gen­pro­ble­me“ weiterlesen

Metaebenen in Liebe und Literatur

Peter Stamm erzählt in „Agnes“ über die Schwierigkeit von Nähe

Das Ma­nu­skript die­ses Ro­mans reich­te Pe­ter Stamm bei meh­re­ren Ver­la­gen ver­geb­lich ein, be­vor es im Zü­ri­cher Ar­che Ver­lag zum er­folg­rei­chen De­büt wur­de. Viel­leicht war es so lan­ge ver­kannt, weil Stamm auf den ers­ten Blick ei­ne alt­be­kann­te Ge­schich­te er­zählt, die ei­ner Be­zie­hung, auf die ein gleich und gleich eben­so zu­trifft wie die sich an­zie­hen­den Gegensätze.

Stamm sie­delt sein Paar in Chi­ca­go an, wo es im Le­se­saal der Pu­blic Li­bra­ry ein­an­der be­geg­net. Un­gleich im Al­ter sind die bei­den, sie 25, er, der fast ihr Va­ter sein könn­te, um die 40, auch in ih­ren In­ter­es­sen ver­schie­den. Agnes pro­mo­viert in Phy­sik, der Schwei­zer Sach­buch­au­tor schreibt über Lu­xus­wa­gons von Pull­mann. Bei­de agie­ren scheu in ih­ren An­nä­he­run­gen, doch ei­ni­ge Zi­ga­ret­ten und Kaf­fees spä­ter wer­den sie ein Paar. Das Schüch­ter­ne und die Schwie­rig­keit über Ge­füh­le zu spre­chen bleiben.

Ein un­spek­ta­ku­lä­res Su­jet, das al­ler­dings durch das Spiel mit der Me­ta­ebe­ne „Me­ta­ebe­nen in Lie­be und Li­te­ra­tur“ weiterlesen

Von Verlierern und Verkündern des wahren Denkens

Irgendwann ist Schluss“ – neue Erzählungen von Markus Orths über Wahn, Sehnsucht und Einsamkeit

Orths_Irgendwann_ist_SchlussUnd der Com­pu­ter bringt mir al­les ins Haus: Fil­me, In­for­ma­tio­nen, Neu­ig­kei­ten, Bü­cher, Thea­ter­stü­cke, al­les, was ich will. Ich muss nicht hin­aus in die Welt, die Welt kommt zu mir. Mein In­ter­es­se ist wie ein Schwamm. Es un­ter­schei­det nicht nach der Far­be des Was­sers, das es auf­saugt, oder ob es schmut­zig ist oder sauber.”

Span­nung, die an­fangs sub­til an­klingt und sich dann in un­ge­wöhn­li­chen Hand­lungs­ver­läu­fen ent­wi­ckelt, kenn­zeich­net das neue Buch von Mar­kus Orths. Nach dem Ro­man Die Tarn­kap­pe, der mir aus­ge­spro­chen gut ge­fal­len hat, liegt nun im Schöff­ling Ver­lag ein Band mit acht meist län­ge­ren Er­zäh­lun­gen vor, die in un­ge­heu­er­li­cher Art exis­ten­ti­el­le Fra­gen berühren.

In je­der sei­ner Ge­schich­ten wirft Orths sei­ne Le­ser zu­nächst ins Un­ge­wis­se. Die Mo­ti­ve der Fi­gu­ren er­schei­nen un­klar, erst nach und nach wer­den In­di­zi­en auf­ge­deckt, die Hand­lung schlägt un­er­war­te­te Vol­ten und en­det sel­ten mit ei­ner ein­deu­ti­gen Lö­sung. Der Aus­gang ist eher ei­ne Auf­for­de­rung wei­ter zu den­ken, be­greif­bar als Tür zwi­schen der Phan­ta­sie des Au­tors und der Vor­stel­lung des Lesers.

Dies ist schon in der ers­ten Er­zäh­lung, Erich, Erich, er­fahr­bar. Ihr Prot­ago­nist „Von Ver­lie­rern und Ver­kün­dern des wah­ren Den­kens“ weiterlesen

Über das Packen von Koffern, das Potential von Staubmäusen und das Sortieren von Büchern

Jens Sparschuh warnt „Im Kasten” vor den Gefahren der Ordnung

Die Welt des Han­nes Fe­lix, der für die op­ti­ma­le Ord­nung al­les Seins lebt, wird vom Cha­os be­droht. Sei­ne Frau Mo­ni­ka ist im Be­griff ihn zu ver­las­sen. Er steht vor ei­nem Scher­ben­hau­fen, doch fällt ihm nichts Bes­se­res ein als ih­re in Ra­ge in den Kof­fer ge­wor­fe­ne Klei­dung säu­ber­lich neu zu sor­tie­ren. Wäh­rend er ein Kof­fer­ver­zeich­nis plant, brät sich Mo­ni­ka noch ein Ei und ist weg. Wie war es nur so­weit ge­kom­men? Nicht nur pri­va­te Kon­flik­te löst Han­nes mit ei­nem Fens­ter­blick auf den ge­re­gel­ten Ver­kehr. Auch be­ruf­li­chen Be­dro­hun­gen schaut er lie­ber nicht ins Au­ge. Die­se er­war­ten ihn täg­lich in ei­ner Fir­ma, die sich um die Ein­la­ge­rung von vor­erst nicht Be­nö­tig­tem küm­mert. Schein­bar ein idea­les Ar­beits­mi­lieu für ei­nen pe­ni­blen Men­schen, doch Han­nes Fe­lix macht mit sei­nem Ord­nungs­wahn die an­de­ren und vor al­lem sich selbst verrückt.

Wenn von Ver­rückt­sein die Re­de ist hat man eher Cha­os als Ord­nung im Sinn. Jens Spar­schuh je­doch lässt sei­nen Han­nes Fe­lix an der Ord­nung zu Grun­de ge­hen. Für die­sen Hans im Glück „Über das Pa­cken von Kof­fern, das Po­ten­ti­al von Staub­mäu­sen und das Sor­tie­ren von Bü­chern“ weiterlesen

Halbgares Gericht

Viele Fragen bleiben offen in Hermann Kochs „Angerichtet

 Die­ses Buch be­grüßt sei­nen Le­ser mit ei­nem ap­pe­tit­li­chen ro­ten Hum­mer auf blau­em Grund und ver­weist auf den Hand­lungs­ort des Ro­mans. Es ist ein Re­stau­rant der ge­ho­be­nen Klas­se, in dem sich zwei Brü­der mit ih­ren Ehe­frau­en zum Din­ner tref­fen. Der An­lass ist ei­ne drin­gen­de An­ge­le­gen­heit, über die sie re­den müs­sen. Doch zu die­sem Ge­spräch, das letzt­end­lich im Ver­such ste­cken bleibt, kommt es erst ge­gen En­de. Bis da­hin er­fährt der Le­ser über die ver­schie­de­nen Gän­ge ei­nes Me­nüs ver­teilt die wich­tigs­ten Zu­ta­ten der Ge­schich­te. Ser­viert wer­den sie von Paul Loh­mann, dem Ich-Er­zäh­ler, auf­be­rei­tet in sei­nen Rück­blen­den, Ein­sich­ten und Mei­nun­gen. Kom­po­niert hat dies Her­mann Koch durch­aus mit Span­nung und in sar­kas­ti­schem Ton. Die­sen ver­leiht er sei­ner Fi­gur Paul, der „Halb­ga­res Ge­richt“ weiterlesen

Voyeuristisches Putzen I.

Die Suche nach Nähe in Markus Orths’ Roman „Das Zimmermädchen“ — Literaturkreis 1/2011

Wer kennt dies nicht? Vor dem Ver­las­sen des Ho­tel­zim­mers noch schnell das Nacht­hemd wie­der in den Kof­fer stop­fen, da­mit we­nigs­tens die­ses in­ti­me Klei­dungs­stück nicht von den Hän­den ei­ner Frem­den be­rührt wird? Dass die­se Frau, denn im­mer noch han­delt es sich in den sel­tens­ten Fäl­len um ei­nen Mann, daß al­so die­se für Rei­ni­gung und Ord­nung des an­ge­mie­te­ten Zim­mers zu­stän­di­ge Per­son auch an­de­re In­ti­mi­tä­ten, näm­lich den ganz per­sön­li­chen Schmutz be­sei­tigt und die zer­wühl­ten Bett­la­ken glatt­zieht, nimmt man hin. Noch mehr, es freut ei­nen, wenn die­se im Preis in­be­grif­fe­ne Putz­ak­ti­on be­son­ders sorg­fäl­tig durch­ge­führt wurde.

Un­über­treff­bar in die­ser Dis­zi­plin gibt sich Orths Zim­mer­mäd­chen im Ho­tel Eden sei­nen Auf­ga­ben hin. Sie putzt zu­erst das Bad, dann saugt sie die Bö­den, wischt mit ei­nem feuch­ten Tuch den kaum sicht­ba­ren Staub, wech­selt die Bett­wä­sche nach Tur­nus und die Hand­tü­cher nach Bedarf.

Doch Lynn ge­nügt dies nicht. „Wo an­de­re Zim­mer­mäd­chen nichts mehr se­hen, fängt es bei Lynn erst an.“ Mes­ser und Dau­men­nä­gel krat­zen den Schmutz aus Rit­zen und von Ar­ma­tu­ren, sie rei­nigt so­gar den Spalt zwi­schen Spie­gel und Ka­cheln. Sie putzt un­sicht­ba­re Fle­cken und wür­de am liebs­ten „Voy­eu­ris­ti­sches Put­zen I.“ weiterlesen

Lüge oder Wahrheit

Madalyn — ein Lügengespinst von Michael Köhlmeier

Zu Be­ginn die­ses klei­nen, fa­bel­haft for­mu­lier­ten und äu­ßerst span­nend kon­stru­ier­ten Ro­mans er­zählt uns sein Au­tor, Mi­cha­el Köhl­mei­er, wor­auf tie­fes Ver­trau­en grün­den kann. Auf ei­ner Le­bens­ret­tung zum Bei­spiel wie in die­ser Ge­schich­te, ver­übt durch den Er­zäh­ler Se­bas­ti­an Lu­kas­ser an dem Mäd­chen Ma­da­lyn. Die­ser Akt steht am An­fang ei­ner be­son­de­ren Be­zie­hung zwi­schen ei­nem er­wach­se­nen Mann und ei­nem Kind. Köhl­mei­er in­sze­niert dies mit ei­ner Blut­la­che aus der Un­ter­arm­wun­de au­gen­fäl­lig als Blutsbruderschaft .

Die­ser Ein­stieg in den Ro­man er­laubt dem Au­tor ei­ne ta­ge­buch­ar­ti­ge Schil­de­rung des an­schlie­ßen­den Ge­sche­hens, oh­ne daß die un­glei­che Freund­schaft zu ei­ner Rah­men­hand­lung ver­küm­mert. De­ren Mot­to of­fen­bart sich in dem zu­nächst ver­wor­fe­nen Satz „Ein Herz ist dem an­de­ren ein Spie­gel“, denn das Ver­trau­en liegt nicht nur auf der Sei­te der Ge­ret­te­ten. Auch Lu­kas­ser ver­spürt die „Lü­ge oder Wahr­heit“ weiterlesen