Suche nach Frieden

Bernhard Schlinks Roman Die Frau auf der Treppe über Dinge, die nicht zu Ende gebracht wurden

Ich nei­de der Ju­gend nicht, dass sie das Le­ben noch vor sich hat; ich will es nicht noch mal vor mir ha­ben. Aber ich nei­de ihr, dass die Ver­gan­gen­heit, die hin­ter ihr liegt, kurz ist. Wenn wir jung sind, kön­nen wir un­se­re Ver­gan­gen­heit über­schau­en. Wir kön­nen ihr ei­nen Sinn ge­ben, auch wenn es im­mer wie­der ein an­de­rer ist. Wenn ich jetzt auf die Ver­gan­gen­heit zu­rück­schaue, weiß ich nicht, was Last ist und was Ge­schenk war, ob der Er­folg den Preis wert war und was sich in mei­nen Be­geg­nun­gen mit Frau­en er­füllt und was sich mir ver­sagt hat.“

Der Mo­tor die­ser Ge­schich­te ist ein Ge­mäl­de, der Akt ei­ner Frau, die „nackt, blass, blond vor grau­grü­nem Hin­ter­grund“ ei­ne Trep­pe her­ab schrei­tet. Ein mo­der­nes, En­de der Sech­zi­ger Jah­re ge­schaf­fe­nes Werk will ein Ge­gen­ent­wurf zu Mar­cel Duch­amps abs­trak­tem „Akt, ei­ne Trep­pe hin­ab­stei­gend“ sein. Ein Be­leg, daß auch in der mo­der­nen Kunst Ge­gen­ständ­lich­keit dar­stell­bar ist. Das Mo­tiv und „Su­che nach Frie­den“ weiterlesen

Mangelmann auf Schlingerkurs

In seinem neuen Roman „Bei Regen im Saal“ überwindet Genazino die Zumutungen des Alltags

Genazino_978-3-446-24596-9_MR1.inddVon Be­ruf war ich Re­zep­tio­nist, ge­le­gent­lich Bar­mi­xer, aber in letz­ter Zeit ar­bei­te­te ich über­wie­gend als Über­win­der. Ich half Men­schen, ih­re zu­wei­len auf­dring­li­chen oder dümm­li­chen Er­leb­nis­se schnel­ler als ge­wohnt zu ver­ges­sen. Ich ging mit den Leu­ten spa­zie­ren, wir be­such­ten Floh­märk­te, wir schau­ten uns Kunst­aus­stel­lun­gen an und re­de­ten über sie. Ich gab den Men­schen Tipps für Er­leb­nis­se, die ih­nen al­lein ge­hör­ten. (…) Das meis­te, was Men­schen heu­te zu­stieß, er­leb­ten sie als Teil ei­ner rie­si­gen Mas­se; des­we­gen konn­te man al­len­falls von Kon­fek­ti­ons­er­leb­nis­sen sprechen.“

Der Ich-Er­zäh­ler, des­sen Vor­na­men Rein­hard der Le­ser erst ge­gen En­de er­fährt, ist nicht der ein­zi­ge Mann im neu­en Ro­man Bei Re­gen im Saal von Wil­helm Gen­a­zi­no. Zwei wei­te­re männ­li­che Ne­ben­fi­gu­ren, oder bes­ser Ne­ben­buh­ler, be­ein­flus­sen das Schick­sal des Mit­te Vier­zig­jäh­ri­gen, der oft­mals schon viel äl­ter wirkt.

Rein­hard lebt in ei­ner Zwei­er-Be­zie­hung mit Son­ja ei­ner Fi­nanz­be­am­tin im ge­ho­be­nen Dienst. Trotz ge­trenn­ter Woh­nun­gen be­fin­det sich ihr Ver­hält­nis in ei­nem „Man­gel­mann auf Schlin­ger­kurs“ weiterlesen

Empfindsamer Epigone

Enthüllungen und Anekdoten in Helene und Wolfgang Beltracchis Selbstporträt

U1_978-3-498-06063-3.inddDenn das ist die Wahr­heit: Ich hing an mei­nem Be­ruf, auch wenn er un­ter mo­ra­li­schen Ge­sichts­punk­ten kei­ner sein dürf­te. Auf der Lis­te der üb­li­chen Be­rufs­be­zeich­nun­gen sucht man ihn ver­geb­lich. Viel­leicht lag mein An­spruch ge­ra­de dar­in, mich künst­le­risch im­mer neu zu su­chen, mich in im­mer wie­der an­de­ren Sti­len und Dar­stel­lungs­wei­sen aus­zu­drü­cken, mich nicht auf den Wie­der­erken­nungs­wert be­schrän­ken zu müs­sen, den der nor­ma­le Kunst­be­trieb von mir ver­lan­gen würde.“

Wolf­gang Bel­trac­chi, den die Me­di­en als „Kunst­fäl­scher des Jahr­hun­derts“ be­zeich­nen, wur­de als sol­cher 2010 zu­sam­men mit sei­ner Frau und zwei wei­te­ren Per­so­nen ver­haf­tet. Ein Jahr spä­ter er­hielt das Ehe­paar nach ei­nem um­fas­sen­den Ge­ständ­nis Haft­stra­fen von sechs und vier Jah­ren. Wolf­gang Bel­trac­chi ver­büß­te sie im of­fe­nen Voll­zug, sei­ne Frau He­le­ne wur­de vor­zei­tig aus der Haft entlassen.

Das Be­son­de­re an dem Fäl­scher Bel­trac­chi ist, daß er die Ori­gi­na­le an­de­rer Ma­ler nicht ko­pier­te, al­so kei­ne Re­plik ei­nes be­reits exis­ten­ten Kunst­werks an­fer­tig­te. Mit gro­ßem Ta­lent glich er „Emp­find­sa­mer Epi­go­ne“ weiterlesen

Was Kunst vermag

Peter Stamm über Kunst in Nacht ist der Tag

Stamm, Nacht ist der TagNie wird es mir ge­lin­gen, in ein Por­trät die gan­ze Kraft zu le­gen, die in ei­nem Kopf ist.
Al­ber­to Giacometti

Der neue Ro­man von Pe­ter Stamm be­steht aus drei Tei­len, de­nen je­weils ein Zi­tat vor­an steht. Wäh­rend Shake­speare den Be­ginn und der Phi­lo­soph Ernst Bloch den Schluss ein­lei­ten, fin­det sich in der Mit­te der Schwei­zer Künst­ler Al­ber­to Gi­a­co­metti mit ei­ner Aus­sa­ge, die wie ein Schlüs­sel zur vor­lie­gen­den Ge­schich­te erscheint.

Ober­fläch­lich be­trach­tet er­zählt Nacht ist der Tag die Ge­schich­te ei­ner Frau, die durch ei­nen Un­fall ihr Ge­sicht ver­liert und in den Be­mü­hun­gen dies wie­der­her­zu­stel­len zu ei­ner neu­en Iden­ti­tät fin­det. Doch hin­ter die­ser Fas­sa­de steckt viel mehr, vor al­lem die Fra­ge, was Kunst vermag.

Der ers­te und mit 126 Sei­ten um­fang­reichs­te Teil des Ro­mans, dem Shake­speare die Dis­kre­panz zwi­schen Rea­li­tät und Ima­gi­na­ti­on vor­gibt, schil­dert die Aus­gangs­si­tua­ti­on. Gil­li­an, ei­ne „Was Kunst ver­mag“ weiterlesen

Von Jägern und Sammlern

Konrad O. Bernheimer gewährt in „Narwalzahn und Alte Meister“ private Einblicke in die Welt des Kunsthandels

NarwalzahnMit Mo­scher­abi­en, höl­zer­nen Git­tern, die einst in Nord­afri­ka nicht nur Ha­rems­fens­ter vor un­er­laub­ten Ein­bli­cken schütz­ten, stat­te­te der Kauf­mann Leh­mann Bern­hei­mer vor knapp 150 Jah­ren das Bad sei­ner Münch­ner Woh­nung aus. Heu­te zie­ren sie die Wän­de sei­ner Ur­ur­groß­enke­lin. Nicht nur die­ser Ge­gen­stand ver­bin­det die Bei­den auch ih­re Lei­den­schaft für Kunst und schö­ne Din­ge. Der Händ­ler aus­ge­such­ten In­te­ri­eurs und die Ga­le­ris­tin wähl­ten Kunst als Pro­fes­si­on. Auch die Fa­mi­li­en­mit­glie­der der zwi­schen ih­nen lie­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen ma­chen und mach­ten ih­re Ge­schäf­te auf die­sem Ge­biet, dar­un­ter Kon­rad Bern­hei­mer, der Ver­fas­ser der vor­lie­gen­den Fir­men- und Familiengeschichte.

Ihr Ti­tel „Nar­wal­zahn und al­te Meis­ter“ deu­tet auf die lan­ge und viel­fäl­ti­ge Tra­di­ti­on des Me­tiers. Einst wa­ren es die Kunst- und Wun­der­kam­mern, in de­nen kunst­sin­ni­ge Fürs­ten Ku­rio­sa sam­mel­ten, die von ih­rer Welt­läu­fig­keit kün­den soll­ten. Auch heu­te regt die Lie­be zur Kunst Samm­ler zum Er­werb an. Auch dient Kunst nach wie vor als Sta­tus­sym­bol der Di­stink­ti­on und nicht sel­ten der rei­nen In­ves­ti­ti­on. Zwi­schen Samm­ler und Ob­jekt steht der Händ­ler. Als sol­cher blickt „Von Jä­gern und Samm­lern“ weiterlesen

Unter vier Augen – Sprachen des Porträts in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe

Kreative Kunstverdoppelung

Ei­ner der be­rühm­tes­ten Tex­te der deut­schen Li­te­ra­tur, die durch ein nicht min­der be­rühm­tes Kunst­werk in­spi­riert wur­den, ist wohl Les­sings Lao­ko­on. In die­sem nä­hert sich der Schreib­künst­ler der deut­schen Klas­sik em­pha­tisch dem To­des­kampf des Apol­lon­pries­ters und sei­ner Söh­ne, den ein Bild­künst­ler des Hel­le­nis­mus im 2. Jh. v. Chr.  meis­ter­haft in Sze­ne ge­setzt hat. Heu­te be­geg­nen wir in den Va­ti­ka­ni­schen Mu­se­en die­ser Mar­mor­skulp­tur im di­rek­ten Ge­gen­über und kön­nen un­se­re Ein­drü­cke mit de­nen Les­sings vergleichen.

Ähn­li­che In­spi­ra­ti­ons­wel­ten öff­nen sich dem Be­su­cher in der ak­tu­el­len Aus­stel­lung „Un­ter vier Au­gen“. Noch bis zum 20. Ok­to­ber zeigt die Staat­li­che Kunst­hal­le Karls­ru­he 50 Por­träts und die ih­nen zu­ge­dach­ten Tex­te nam­haf­ter Sprach­kön­ner und Kunst­ken­ner. Die­se Kunst­be­geg­nung jen­seits ef­fekt­ha­schen­der Event­kul­tur ver­spricht Lust im dop­pel­ten Sin­ne. Se­hen und Hö­ren ste­hen gleich­be­rech­tigt ne­ben­ein­an­der und wol­len den Be­trach­ter, der zu­gleich auch Zu­hö­rer sein kann, in viel­fa­cher Wei­se anregen.

Ich war ge­spannt auf die­se Kunst­ver­dop­pe­lung, bei der mich die mit­wir­ken­den Schrift­stel­ler noch et­was mehr reiz­ten als die mir we­ni­ger be­kann­ten Kunst­wer­ke. Gut in­for­miert durch „Un­ter vier Au­gen – Spra­chen des Por­träts in der Staat­li­chen Kunst­hal­le Karls­ru­he“ weiterlesen