Unter vier Augen – Sprachen des Porträts in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe

Kreative Kunstverdoppelung

Ei­ner der be­rühm­tes­ten Tex­te der deut­schen Li­te­ra­tur, die durch ein nicht min­der be­rühm­tes Kunst­werk in­spi­riert wur­den, ist wohl Les­sings Lao­ko­on. In die­sem nä­hert sich der Schreib­künst­ler der deut­schen Klas­sik em­pha­tisch dem To­des­kampf des Apol­lon­pries­ters und sei­ner Söh­ne, den ein Bild­künst­ler des Hel­le­nis­mus im 2. Jh. v. Chr.  meis­ter­haft in Sze­ne ge­setzt hat. Heu­te be­geg­nen wir in den Va­ti­ka­ni­schen Mu­se­en die­ser Mar­mor­skulp­tur im di­rek­ten Ge­gen­über und kön­nen un­se­re Ein­drü­cke mit de­nen Les­sings vergleichen.

Ähn­li­che In­spi­ra­ti­ons­wel­ten öff­nen sich dem Be­su­cher in der ak­tu­el­len Aus­stel­lung „Un­ter vier Au­gen“. Noch bis zum 20. Ok­to­ber zeigt die Staat­li­che Kunst­hal­le Karls­ru­he 50 Por­träts und die ih­nen zu­ge­dach­ten Tex­te nam­haf­ter Sprach­kön­ner und Kunst­ken­ner. Die­se Kunst­be­geg­nung jen­seits ef­fekt­ha­schen­der Event­kul­tur ver­spricht Lust im dop­pel­ten Sin­ne. Se­hen und Hö­ren ste­hen gleich­be­rech­tigt ne­ben­ein­an­der und wol­len den Be­trach­ter, der zu­gleich auch Zu­hö­rer sein kann, in viel­fa­cher Wei­se anregen.

Ich war ge­spannt auf die­se Kunst­ver­dop­pe­lung, bei der mich die mit­wir­ken­den Schrift­stel­ler noch et­was mehr reiz­ten als die mir we­ni­ger be­kann­ten Kunst­wer­ke. Gut in­for­miert durch „Un­ter vier Au­gen – Spra­chen des Por­träts in der Staat­li­chen Kunst­hal­le Karls­ru­he“ weiterlesen

Ein Coffee-Table voller Madeleines

Marcel Proust in Bildern und Dokumenten

Im Herbst des letz­ten Jah­res leg­te die Edi­ti­on Olms mit Mar­cel Proust in Bil­dern & Do­ku­men­ten ei­nen opu­len­ten Bild­band zu Eh­ren des be­rühm­ten Schrift­stel­lers auf recht­zei­tig zu sei­nem 90. To­des­tag am 18. No­vem­ber und vor dem Jah­res­tag des Erst­aus­ga­be des ers­ten Ban­des der Re­cher­che im Jah­re 1913. Die­ser groß­for­ma­ti­ge mit Bild­ma­te­ri­al reich aus­ge­stat­te­te Band kann als Cof­fee-Ta­ble-Book ne­ben ei­ner Eta­ge­re vol­ler Made­lei­nes Bel­la Fi­gu­ra ma­chen und die Emp­find­sam­keit sei­nes Be­sit­zers zur Schau stel­len. Er kann aber noch viel bes­ser die Welt der Re­cher­che ver­an­schau­li­chen, je­nes Le­bens­werks in sie­ben Bän­den mit den vie­len Sei­ten schö­ner Sät­ze. Die­ses zu il­lus­trie­ren, so­weit über­haupt mög­lich, ver­sam­melt der Band Fo­to­gra­fien, Do­ku­men­te, Kunst und De­kor. Es fin­den sich Por­träts von Proust, sei­ner Fa­mi­lie und den Freun­den. Wir kön­nen Brie­fe, Ur­kun­den und die be­rühm­ten Fra­ge­bö­gen stu­die­ren, Ab­bil­dun­gen der in der Re­cher­che er­wähn­ten Kunst­wer­ke be­trach­ten. Gra­phik und Ge­gen­stän­de des Fin de Siè­cle ver­voll­stän­di­gen das Zeit­ko­lo­rit und Made­lei­ne Le­mai­re, ei­ne Freun­din Prousts, die sich in Mme de Vil­le­pa­ri­sis und Mme Ver­du­rin wie­der­fin­det, streut ih­re Aqua­rell­blü­ten über vie­le Seiten.

Als Her­aus­ge­be­rin die­ser Il­lus­tra­ti­on fun­giert Pa­tri­zia Man­te-Proust, die Ur­groß­nich­te des Dich­ters. Vol­ler Fa­mi­li­en­stolz be­rich­tet sie über den be­rühm­ten On­kel ih­rer Groß­mutter Su­zy, der ein­zi­gen Toch­ter von Mar­cels Bru­der Ro­bert. Pa­tri­zia Man­te-Proust war elf Jah­re alt als die­se starb, und die stärks­te ih­rer Er­in­ne­run­gen gilt ne­ben dem Por­trät Prousts von Jac­ques-Èmi­le Blan­che, das im Sa­lon der Groß­mutter hing be­vor es in die Samm­lung des Mu­sée d’Orsay über­ging, der Ent­de­ckung des Ty­po­skripts von „Al­ber­ti­ne disparue“ im Jahr 1986. Auch wenn sie al­le Er­war­tun­gen hin­sicht­lich er­erb­ter li­te­ra­ri­scher Tief­grün­dig­keit be­schei­den ab­lehnt, äu­ßert sie doch das Bon­mot „Proust ist kei­ne Fra­ge des Le­sens, son­dern des Wie­der­le­sens!“. Zum Ab­schluss des Vor­worts er­weist sie ihm auch phä­no­ty­pisch Re­ve­renz auf ei­nem Por­trät mit künst­lich ver­han­ge­nem Blick und auf ei­nem Aqua­rell, das Ahn und Er­bin als Rad­fah­rer auf der Pro­me­na­de von Ca­bourg zeigt.

Der Haupt­teil des Ban­des teilt sich in Ka­pi­tel, de­ren Tex­te die Proust-For­sche­rin Mi­reil­le Na­tu­rel ver­fass­te. Sie lehrt an der Pa­ri­ser Uni­ver­si­tät Sor­bon­ne Nou­vel­le und ist Ge­ne­ral­se­kre­tä­rin der So­cié­té des Amis de Mar­cel Proust. Ein wei­te­res Ele­ment bil­den Pas­sa­gen der Re­cher­che, die mit aus­ge­wähl­ten Ab­bil­dun­gen kor­re­spon­die­ren. In sechs Ka­pi­teln wirft Na­tu­rel Schlag­lich­te auf die Be­deu­tung die­ses Ge­sell­schafts­ro­mans und er­in­nert zu­gleich an den ak­ti­ven, viel­sei­tig in­ter­es­sier­ten Proust.

Das ers­te Ka­pi­tel taucht ein in das Idyll der Kind­heit in Il­liers-Com­bray. Fa­mi­li­en­mit­glie­der, Aus­schnit­te aus Schul- und Stu­di­en­zeit, das frei­wil­li­ge Jahr beim Mi­li­tär, aber auch die frü­hen Fe­ri­en­auf­ent­hal­te in Ca­bourg ent­fal­ten ein „Ka­lei­do­skop des Le­bens“. Im zwei­ten Ka­pi­tel er­fah­ren wir von Prousts Be­geg­nun­gen und Be­zie­hun­gen zu an­de­ren Künst­lern, wie Jac­ques-Èmi­le Blan­che und Jean Coc­teau, aber auch von sei­nem Zu­sam­men­tref­fen mit dem Ver­le­ger Gas­ton Gal­li­mard. Das mon­dä­ne Le­ben des jun­gen Prousts in den Sa­lons be­ein­flusst un­mit­tel­bar das Ent­ste­hen sei­nes ers­ten li­te­ra­ri­schen Werks, Freu­den und Ta­ge. Die bei­den fol­gen­den Ka­pi­tel wid­men sich zwei ganz we­sent­li­chen Ele­men­ten, dem Le­sen und der Kunst. Zeigt das ei­ne, wie in Prousts Vor­wort zu sei­ner Über­set­zung von Rus­kins Sé­sam et les Lys, Grund­ge­dan­ken der Re­cher­che be­reits an­ge­legt sind, so be­rich­tet Na­tu­rel im fol­gen­den Ka­pi­tel von Prousts Kunst­ver­ständ­nis und sei­nem syn­äs­the­ti­schen Er­le­ben der Ein­drü­cke. Das Schluss­ka­pi­tel wid­met sich dem Ent­ste­hen des Ro­man­werks. Mit vie­len Ab­bil­dun­gen ver­folgt es die Aus­ar­bei­tung von No­ti­zen zum Ma­nu­skript. Die Über­ar­bei­tung des Ty­po­skripts mit den vie­len ein­ge­füg­ten Pa­pe­ro­les für die zahl­rei­chen Zu­sät­ze und Kor­rek­tu­ren könn­te fast als Kunst­werk für sich be­trach­tet wer­den. Ein kur­zer Ab­riss der Proust-Re­zep­ti­on be­en­det das Ka­pi­tel und Buch. Es schlie­ßen sich Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis wie Ab­bil­dungs­nach­weis und ei­ne Tran­skrip­ti­on und Über­set­zung der Text­do­ku­men­te an so­wie, was an­schei­nend nie feh­len darf, ein Re­zept für Madeleines.

Ins Deut­sche über­setzt wur­de die­ser ins­ge­samt sehr schö­ne Bild­band von Ste­fa­nie Ku­bal­la-Cot­to­ne. Er bie­tet ei­ne gu­te Er­gän­zung zu Mar­cel Proust, sei­nem Werk und sei­ner Welt, der je­doch zwei klei­ne Aber hin­zu­fügt wer­den müs­sen. Nicht im­mer wirkt die Zu­sam­men­stel­lung der un­ter­schied­li­chen Ab­bil­dungs­for­ma­te ge­glückt. Klei­ne Fo­tos mit ab­ge­run­de­ten Ecken ne­ben ei­nem groß­for­ma­ti­gen Recht­eck oder al­te und neue Auf­nah­men auf ei­ner Blü­ten­ta­pis­se­rie er­in­nern an selbst­ge­mach­tes Fo­to­buch­sty­ling. Das mag Ge­schmacks­sa­che sein. Kei­ne Fra­ge des Ge­schmacks sind je­doch die ab­fär­ben­den Dru­cke, die auf den wei­ßen Flä­chen un­schö­ne Fle­cken hin­ter­las­sen. Das hät­te durch Sorg­falt bei der Her­stel­lung ver­mie­den wer­den können.

Nicht nur we­gen des Ti­tels darf die Re­zen­si­on von An­dre­as Platt­haus in der F.A.Z. nicht un­er­wähnt blei­ben, Im Schat­ten spä­ter Nicht­en­blü­ten.

Man­te-Proust, Pa­tri­cia; Na­tu­rel, Mi­reil­le (Hg.), Mar­cel Proust in Bil­dern & Do­ku­men­ten, übers. v. Ste­fa­nie Ku­bal­la-Cot­to­ne, Edi­ti­on Olms Zü­rich 2012.