Wie man schreibt, daß man träumt, daß man schreibt

Jan Peter Bremer sucht in „Der amerikanische Investor“ nach dem perfekten ersten Satz

Ein Au­tor sitzt am Schreib­tisch und ima­gi­niert den ers­ten Satz. Auf den war­tet er schon lan­ge ver­geb­lich. Ein ty­pi­scher Fall von Schreib­hem­mung, so scheint es, die sich we­der durch den treu­en Blick ei­nes Hun­des noch durch Ab­len­kung durch­bre­chen lässt. Der ers­te Satz, des­sen ein­falls­rei­che Wort­ge­wandt­heit zum Mo­ti­va­tor für die rest­li­chen Sät­ze und Sei­ten des Ro­mans wer­den soll, kommt dem Dich­ter nicht in den Sinn. Viel­leicht weil der Sinn die­ses Er­zäh­lers, der wie Bre­mer nicht nur Bü­cher schreibt, son­dern mit Frau, Kin­dern und Hund in ei­ner Ber­li­ner Woh­nung lebt, von pri­va­ten Pro­ble­men be­setzt ist. Am dring­lichs­ten von dem Pro­blem mit sei­ner Woh­nung, die durch die Sa­nie­rungs­maß­nah­men ei­nes Im­mo­bi­li­en­in­ves­tors we­nigs­tens in Tei­len von Ein­sturz ge­fähr­det ist. Dies ist die wich­tigs­te Sa­che, um die sich der Krea­ti­ve auf Drän­gen sei­ner Frau zu küm­mern hat. Be­su­che bei der Mie­ter­be­ra­tung, Ge­sprä­che mit Ar­bei­tern und Haus­meis­tern, Er­wä­gung ei­nes Um­zu­ges, Aus­kund­schaf­ten even­tu­el­ler Wohn­op­tio­nen, dies al­les führt zu kei­nem Ziel. Es führt al­ler­dings zu der Idee, die­sem In­ves­tor ei­nen un­miss­ver­ständ­li­chen, al­les klä­ren­den Brief zu schrei­ben. Der Er­zäh­ler sitzt al­so wie­der mit sei­nem Hund am Schreib­tisch und war­tet auf den gu­ten ers­ten Satz.

Dies ist in al­ler Kür­ze der Plot des Ro­mans und er ist nicht son­der­lich auf­re­gend, wenn man nicht eben­falls in Ber­lin von ei­nem Miet­hai be­droht wird. In­ter­es­sant ist aber die Mach­art der Ge­schich­te. Die Su­che nach dem ers­ten Satz führt zu Re­flek­tio­nen, die nach kunst­vol­len Vol­ten stets zu ih­rem Aus­gangs­punkt zu­rück­keh­ren. Zu Hund und Herrn am Schreib­tisch und dem gro­ßen „Was wä­re wenn“. Was wä­re zum Bei­spiel, wenn der In­ves­tor, der der Le­se­rin als welt­fer­ner Be­woh­ner sei­nes Pri­vat­jets dar­ge­stellt wird und ihr als ro­ter Plas­tik­kopf im ro­ten Plas­tik­flie­ger vom Co­ver ent­ge­gen leuch­tet, dem Er­zäh­ler höchst­selbst  ei­nen Brief schrei­ben wür­de? Der In­ves­tor ent­wi­ckelt sich zur Be­dro­hung, die die Kin­der ver­führt und das Fa­mi­li­en­glück ge­fähr­det. Aber die­ses oder eher das Ehe­glück scheint so­wie­so so ei­ne Sa­che zu sein. Jan Pe­ter Bre­mer lässt sei­nen Schrift­stel­ler viel über des­sen Le­bens­um­stän­de grü­beln. Ge­schieht dies in zu­nächst sehr un­ter­halt­sa­mer Ma­nier, so dreht er sich da­bei doch auch im Kreis. Zum Glück dau­ert die­se Do­ku­men­ta­ti­on des Pro­kras­ti­nie­rens nur voll­kom­men aus­rei­chen­de 156 Seiten.

Für ei­nen Aus­zug aus die­sem im Ber­lin Ver­lag er­schie­ne­nen Ro­man er­hielt Bre­mer den Al­fred-Dö­b­lin-Preis 2011. In ei­nem Aspek­te-In­ter­view, das von der er­staun­li­chen Par­al­le­li­tät des wah­ren Le­bens zu die­sem Bu­ches zeugt, er­zählt der Schrift­stel­ler von sei­nem Woh­nen in Berlin.

Geschichten aus der Wirklichkeit

Unsere Geschichte beginnt” — neue Shortstories von Tobias Wolff

Wer noch nie ein in­tri­gan­tes Be­ru­fungs­ver­fah­ren er­lebt hat, wer noch nie voll Be­trof­fen­heit und Hilf­lo­sig­keit nach­bar­schaft­li­chen Ge­walt­tä­tig­kei­ten zu­hö­ren muss­te und wer sich noch nie von ei­nem Hund bes­ser ver­stan­den fühl­te als von ei­nem Mensch, der grei­fe zu den neu­en Short Sto­ries von To­bi­as Wolff.

Der Ti­tel „Un­se­re Ge­schich­te be­ginnt“ hat­te in mir ganz an­de­re Er­war­tun­gen er­weckt, die scho­nungs­lo­se Dar­stel­lung har­ter Rea­li­tät riss mich je­doch schnell dar­aus her­aus. Auf we­ni­gen Sei­ten er­zählt Wolff eher All­täg­li­ches als Groß­ar­ti­ges. Sei­ne Prot­ago­nis­ten er­le­ben vie­les, was we­der leicht zu er­tra­gen noch zu er­zäh­len ist. Man möch­te das Buch aus der Hand le­gen und doch bleibt man dran. Man­che Din­ge sind sehr bru­tal. Au­ßer­dem scheint Wolff un­ter ei­nem aus­ge­präg­ten Hun­de­trau­ma zu lei­den. In ei­ni­gen Ge­schich­ten wer­den die ar­men Krea­tu­ren miss­han­delt, in an­de­ren lie­ben die Ehe­frau­en ih­re Hun­de mehr als ih­re Män­ner und die Hun­de lie­ben die Ehe­frau­en mehr als de­ren Män­ner dies tun soll­ten. Un­ter­schied­li­che The­men fin­den sich in sei­nen Sto­ries, die Re­inte­gra­ti­on von Kriegs­heim­keh­rern, Mi­gra­ti­on, Bil­dungs­be­nach­tei­li­gung, aber auch Nächs­ten­lie­be und un­er­füll­te Lie­be. Schuld­fra­gen wer­den dis­ku­tiert, doch die Un­ter­schei­dung zwi­schen Op­fer und Tä­ter ist nie ein­deu­tig. Wolff lässt uns an den Ge­dan­ken sei­ner Per­so­nen teil­ha­ben, wäh­rend wir ei­nem kur­zen Aus­schnitt ih­res Le­bens fol­gen. Auf­fäl­lig sind häu­fig wie­der­keh­ren­de Mo­ti­ve wie der Tod des Va­ters und die ver­spä­tet ein­set­zen­de Trau­er. Man­che wir­ken al­ler­dings im wie­der­hol­ten Ge­brauch wie Ver­satz­stü­cke, so taucht mehr­mals ein Mut­ter­mal am Frau­en­hals auf, eben­so Per­so­nen mit platt­fü­ßi­gem Gang. Man­che Wort­wahl fin­de ich schwie­rig, denn was soll ich mir un­ter fip­si­gen Slip­pern, ei­nem ver­fitz­ten Busch­knäu­el oder ei­ner ga­ke­li­gen Bund­nes­sel vorstellen?

Den­noch, der kla­re und tem­po­rei­che Er­zähl­stil zieht den Le­ser so­fort in das Ge­sche­hen hin­ein. An­spie­lun­gen er­gän­zen das Un­ge­sag­te und re­gen zum Wei­ter­den­ken an, so daß es nie­mals lang­wei­lig wird. Span­nung trägt die Ge­schich­ten bis zum Schluss, wo den Le­ser meist ein über­ra­schen­des En­de er­war­tet. Wolff voll­zieht er­neu­te Vol­ten, lässt vie­les of­fen und manch­mal die Le­se­rin rat­los zu­rück. Schil­dert uns der Er­zäh­ler in „Ne­ben­an“ ei­ne Sui­zid­phan­ta­sie, ist er im Dro­gen­rausch, gläu­big, ver­rückt oder al­les zusammen?

Der Ber­lin-Ver­lag hat die­sen Band mit neu­en und äl­te­ren Er­zäh­lun­gen des ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­lers To­bi­as Wolff in der Über­set­zung von Frank Hei­bert vor­ge­legt. Die An­ga­ben der Ent­ste­hungs­da­ten der ein­zel­nen Er­zäh­lun­gen feh­len lei­der. Eben­so hat es die auf der Ver­lags­sei­te an­ge­kün­dig­te Ein­füh­rung Ja­kob Ar­jounis lei­der nicht bis in das Buch geschafft.

To­bi­as Wolff un­ter­rich­tet seit 1997 an der Stan­ford Uni­ver­si­ty Crea­ti­ve Wri­ting. Ne­ben sei­nen Short Sto­ries sind die Ro­ma­ne „This Boy’s Life“ und „Al­te Schu­le“ ei­nem grö­ße­ren Pu­bli­kum bekannt.

Povero Patatone — Hunde und Bücher in Mailand

In ihrem Debüt „Italienisch für Liebhaber” erzählt Hilary Belle Walker vom Leben einer amerikanischen Buchhändlerin in Italien

Was bringt mich da­zu ein Buch le­sen zu wol­len, des­sen Co­ver ei­nen Aus­schnitt aus ei­nem Film mit Do­ris Day ent­nom­men zu sein scheint, das den Ti­tel „Ita­lie­nisch für Lieb­ha­ber“ trägt, und zu­dem von ei­ner in Mai­land le­ben­den Ame­ri­ka­ne­rin ver­fasst wur­de? Es muss wohl tat­säch­lich so sein, daß ich mich von al­lem Ita­lie­ni­schem ger­ne ver­füh­ren las­se, we­nigs­tens was Li­te­ra­ri­sches und Ku­li­na­ri­sches angeht.

Das Buch schmeckt zu­nächst wie ei­ne Piz­za. Ein schnel­ler Hap­pen, der et­was von al­lem hat, was man in Ita­li­en ger­ne vor­fin­den möch­te. Doch es ent­wi­ckelt sich ganz an­ders. Hi­la­ry Wal­ker schreibt ih­rer Prot­ago­nis­tin, die wie die Par­al­le­li­tät von Le­bens­da­ten und Um­stän­den ver­ra­ten stark au­to­bio­gra­phisch an­ge­legt ist, nicht den Weg ei­ner ita­lie­ni­schen So­zia­li­sa­ti­on auf den at­trak­ti­ven Leib. Sie ser­viert uns we­sent­li­che Sta­tio­nen in ei­ner Vi­ta al­la Mi­la­ne­se, stück­wei­se an­ge­rich­tet, die zum Glück nicht mit ei­ner durch­gän­gi­gen Chro­no­lo­gie lang­wei­len. Man be­tritt das Le­ben die­ser jun­gen, im teu­ren Mai­land fast mit­tel­lo­sen Buch­händ­le­rin, die sich und ih­ren Hund mit Tor­tel­li­ni und Ten­nis­bäl­len ganz gut über die Run­den bringt. In den ver­schie­de­nen Ge­schich­ten ge­sel­len sich wei­te­re Haupt­per­so­nen zu die­sen bei­den, mal ist es ein blau­es Fahr­rad, mal ein jun­ger Er­folgs­au­tor, mal ei­ne un­wi­der­steh­li­che Stadt­vil­la. Un­se­re Hel­din schwankt zwi­schen Do­ris-Day-Nai­vi­tät und Sin­gle-Selbst­be­wusst­sein und schil­dert all’ die Fall­stri­cke und Fett­näpf­chen, die die Mai­län­der Di­stin­gu­iert­heit für ih­ren ame­ri­ka­ni­schen Über­schwang be­reit hält.

Wal­ker ge­lingt es das manch­mal slaps­tik­ar­ti­ge Ver­hal­ten ent­spre­chend mit Iro­nie zu un­ter­le­gen. Ih­re Ge­schich­ten wer­de so zu ei­nem amü­san­ten, leich­ten, aber nicht ober­fläch­li­chen Le­se­ge­nuss, der al­ler­dings auch trau­ri­ge Mo­men­te be­reit hält. Ei­nen Kri­tik­punkt gibt es den­noch. Die Ge­schich­ten, vor al­lem die ers­ten, wir­ken wie ver­schie­de­ne zu un­ter­schied­li­chen Zeit­punk­ten ver­fass­te Im­pres­sio­nen. Dem­entspre­chend fin­det sich auf der Rück­sei­te des Co­vers auch die Be­zeich­nung Epi­so­den­ro­man. Das Ori­gi­nal er­schien 2009 in Ita­li­en un­ter dem Ti­tel „Ca­se al­trui“. Der Kunst­mann-Ver­lag hat es in der Über­set­zung von Ant­je Hö­fer un­ter dem an­schei­nend nichts sa­gen­den, aber wie oben ge­schil­dert sei­ne Wir­kung nicht ver­feh­len­den Ti­tel „Ita­lie­nisch  für An­fän­ger“ herausgebracht.

Ich emp­feh­le das Buch je­dem Ita­li­en­lieb­ha­ber. Es ist nicht nur un­ter­halt­sam und lin­dert die Nost­al­gie, son­dern es lehrt auch, wie man am nächs­ten Se­ma­fo­ro mit ei­nem treubli­cken­den Pa­ta­to­ne ins Ge­spräch kom­men kann.

Würgende Tauben und anderes Getier

Wenn wir Tiere wären”– ein neuer Fluchtroman von Wilhelm Genazino

Wenn wir flug­fä­hi­ge Tie­re ge­we­sen wä­ren, hät­ten wir dann und wann mit den Flü­geln schla­gen kön­nen. Aber wir wa­ren Men­schen und ver­hiel­ten uns, trotz al­ler Of­fen­heit, verhüllend.“(S. 74)

Der Er­zäh­ler des neu­en Ro­mans von Wil­helm Gen­a­zi­no ver­dient sein Geld we­der mit dem Test ed­len Schuh­werks noch als Do­zent für Apo­ka­lyp­tik. Er ar­bei­tet als frei­er Ar­chi­tekt, sein Spe­zi­al­ge­biet ist die Sta­tik von Hän­ge­brü­cken. So wie die­se hängt auch er in der Land­schaft des Le­bens her­um. Be­hin­dert von sei­nem „heim­li­chen Grund­ge­fühl“ spürt er „nur man­geln­des Ta­lent zum so­ge­nann­ten nor­ma­len Le­ben“. Schon als Kind fühl­te er sich „er­schöpft und von der Welt an­ge­wi­dert“. Sei­nem Le­bens­ge­fühl, ei­nem Ge­misch aus Gleich­gül­tig­keit, Über­druss, Ekel, Me­lan­cho­lie und Angst, ver­sucht er zu ent­flie­hen. Meist ver­ge­bens, im Schei­tern sei­ner Flucht­ver­su­che trifft er höchs­tens auf an­de­re Ge­schei­ter­te. Zu die­sen zählt auch Ma­ria, sei­ne Le­bens­ge­fähr­tin, die ei­ne ei­ge­ne Woh­nung und ein Rot­wein­pro­blem be­sitzt. Sie scheint ihn we­nigs­tens zum Teil zu ver­ste­hen und ver­sorgt ihn mit Un­ter­wä­sche und Sex. Als sein bes­ter Freund, Ar­chi­tekt und Auf­trags­ver­mitt­ler Autz, dem zum Kau­tz nur der ers­te Buch­sta­be des Vor­na­mens sei­ner Frau fehlt, ver­stirbt, tritt ei­ne Ver­än­de­rung ein. Der noch Le­ben­de rutscht sach­te in das Le­bens­ar­ran­ge­ment des To­ten hin­ein bis er schließ­lich dar­in zu ver­sin­ken droht wie in ei­nem al­ten durch­ge­ses­se­nen So­fa. „Ich hat­te jetzt zwei Ge­braucht­frau­en, ei­nen Ge­braucht­job, ei­nen Ge­braucht­wa­gen und jetzt auch noch ei­nen Ge­braucht­schreib­tisch.“ Als An­ge­stell­ter des Ar­chi­tek­tur­bü­ros be­schwich­tigt er zwar sei­ne Exis­tenz­angst, fühlt sich aber von der Un­frei­heit ge­lähmt. Er über­nimmt schließ­lich noch die Ge­braucht­be­trü­ge­rei­en sei­nes Vor­gän­gers. Durch die selbst in­sze­nier­te Frei­heits­be­rau­bung ent­geht er dem Ge­fäng­nis des Angestelltendaseins.

Wir schei­nen ihn be­reits gut zu ken­nen, den Er­zäh­ler des Ro­mans. Wie sei­ne Vor­gän­ger aus den Vor­gän­ger­ro­ma­nen ist auch er zu le­bens­emp­find­lich und zwei­felt vor al­lem an ei­nem, an sich selbst. Zu den Mög­lich­kei­ten die­sen Über­druss zu be­schwich­ti­gen zäh­len die be­ru­hi­gen­de Wir­kung von Bu­sen al­ler Art und das Ver­har­ren im Au­gen­blick. Die­se me­lan­cho­li­schen Mo­men­te fin­det der Held des neu­en Ro­mans oft beim An­blick von Tie­ren, in de­ren In­stinkt für ihn un­ver­fälsch­te Schön­heit zu lie­gen scheint. Sie ru­hen in sich selbst, aut­ark und zu­frie­den, wäh­rend Gen­a­zi­no sei­nen Prot­ago­nis­ten an ei­ge­nen und frem­den An­sprü­chen lei­den lässt. Dies führt zu iro­ni­schen Hö­he­punk­ten wie dem der mit 42 Le­bens­jah­ren und Ge­biss ein­deu­tig zu spä­ten Mut­ter Thea. Na­tür­lich auch zu Me­lan­cho­lie, wenn der An­blick der Par­fü­me­rie-Ver­käu­fe­rin­nen qua­si als proust­sche Mé­moi­re in­vo­lon­tai­re die Ar­mut der Kind­heit her­auf­be­schwört. Auch Selbst­kri­tik scheint auf, wenn Gen­a­zi­no den Chef des Ar­chi­tek­tur­bü­ros über den Zu­sam­men­hang zwi­schen Me­lan­cho­lie und ab­wei­chen­dem Ver­hal­ten sin­nie­ren lässt. Schließ­lich wird man­cher Le­ser, mal an­ge­nehm mal un­an­ge­nehm be­rührt, sich in man­chen Ma­rot­ten selbst erkennen.

Es gibt al­so auch in die­sem ech­ten Gen­a­zi­no, der den iro­ni­schen Blick auf die Zu­stän­de der Ge­sell­schaft und des In­di­vi­du­ums öff­net, durch­aus Neu­es zu ent­de­cken. Da­zu zäh­len schö­ne Wort­schöp­fun­gen wie „Blei­be­wunsch“ und zahl­rei­che zi­tie­rens­wer­te Sät­ze. Den­noch bin ich zwie­ge­spal­ten, da der Ro­man im letz­ten Drit­tel deut­lich schwä­cher wird. Die Bu­sen-Ob­ses­si­on zu der sich die Scham­haar-Schil­de­run­gen hin­zu ge­sel­len ha­ben mich et­was „an­ge­mü­det“, von an­de­ren dies­be­züg­li­chen Be­zeich­nun­gen und der Re­vier­mar­kie­rung von Ge­fäng­nis­zel­len ganz zu schweigen.

 

Über Schönheit:

Denn merkwürdig an der Schönheit ist, dass man sie immer nur anschauen kann. Man kann nichts davon mit nach Hause nehmen oder ein kleines Teil von ihr an einer besonderen Stelle aufbewahren. Man kann Schönheit immer nur anstarren, mehr ist nicht zu holen. Wenn man sie lange angeschaut hat, muss man wieder gehen.“ (S. 17)

 

Über Staub und Schmutz:

Stau­big wird et­was von selbst, sag­te ich, durch Teil­ha­be an dem gro­ßen Staub, in dem wir al­le le­ben müs­sen. Schmutz hin­ge­gen ist ein selbst­stän­di­ges Ein­tau­chen in ein Kon­zen­trat von Aus­schei­dun­gen, das durch die stän­di­ge Um­wand­lung der Na­tur ent­steht.“ (S. 23)

 

Über den Hauptlebenstrieb:

Der Wunsch nach Flucht war ver­mut­lich der be­stän­digs­te Im­puls mei­nes Le­bens. Es gab so gut wie nichts, wo­vor ich nicht hat­te flie­hen wol­len: vor mei­nen El­tern, vor dem Kin­der­gar­ten, vor der Schu­le, vor Thea, vor Woh­nun­gen, vor der Kul­tur, vor dem Mi­li­tär, vor der Fest­an­stel­lung, vor Ma­ria.“ (S. 126)

 

Über das Gefängnis:

Ich trau­te mich end­lich zu den­ken, dass ich die an­de­ren nicht ver­stand. Das hat­te ich schon im nor­ma­len Le­ben oft emp­fun­den, aber ich hat­te mich nicht ge­traut, es auch zu den­ken.“ (S. 130)

Obelix lernt lieben

Marie-Sabine Roger schildert in „Das Labyrinth der Wörter” eine rosarote Bildungserweckung

Ger­main, ein gut in­te­grier­ter Bil­dungs­be­nach­tei­lig­ter, vul­go Dorf­trot­tel, kommt zu­recht in sei­ner klei­nen Welt. Die­se be­steht aus sel­te­nen To­ma­ten­sor­ten, ei­nem Wohn­wa­gen, ei­ner her­ri­schen Mut­ter, ei­ner Ge­le­gen­heits­ge­lieb­ten und di­ver­sen Knei­pen­kum­peln. Dass Ger­main nicht ganz bei Trost ist, merkt man spä­tes­tens bei des­sen un­ab­läs­si­gem Ver­such sei­nen Na­men auf dem Krie­ger­denk­mal zu ver­ewi­gen. Ei­nes Ta­ges trifft er beim Tau­ben­zäh­len im Park Mar­gue­rit­te, ei­ne net­te Al­te, die mit ihm ein Er­zie­hungs­expe­ri­ment sta­tu­ie­ren möchte.

Oh­ne den hier und da auf­blit­zen­den fran­zö­si­schen Charme hät­te ich es wohl nicht über die ers­te CD der Hör­buch­ver­si­on die­ses päd­ago­gi­schen Mär­chens hin­aus ge­schafft. Als die Lek­tü­ren ins Spiel ka­men wur­de es et­was in­ter­es­san­ter. Viel­leicht soll­te man sei­ne Zeit eher mit die­sen zu­brin­gen. Ge­le­sen wur­de au­ßer Die Pest von Ca­mus; Ju­les Su­per­viel­le, Das Kind vom ho­hen Meer; Lou­is Sepúl­ve­da, Der Al­te, der Lie­bes­ro­ma­ne las und Ro­main Ga­ry, Frü­hes Ver­spre­chen. Wenn Ro­gers Buch da­zu ani­mie­ren soll­te die Pest oder viel­leicht ei­nes der an­de­ren Bü­cher zu le­sen, hat es doch ei­nen Sinn ge­habt. An­sons­ten fand ich sie ziem­lich ro­sa­rot, die­se Piep-piep-piep-ich-hab-euch-al­le-lieb-Li­te­ra­tur, die zu­dem noch je­de Men­ge frau­en­feind­li­che An­sich­ten transportiert.

Mein größ­ter Spaß wäh­rend des Hö­rens war, ab­ge­se­hen da­von, daß ich ne­ben­bei Fens­ter put­zen durf­te, die so­for­ti­ge As­so­zia­ti­on dem gu­ten, al­ten Obe­lix zu lau­schen. Ist Ste­phan Ben­son, der das Hör­buch ein­ge­le­sen hat, tat­säch­lich der deut­sche Syn­chron­spre­cher von Gé­rard De­par­dieu oder wur­de ich durch die Film­pla­ka­te manipuliert?

Für mich ist es von An­fang an Obe­lix, der sei­ne Bil­dungs­ge­schich­te er­zählt. Dass er sich „Obe­lix lernt lie­ben“ weiterlesen

Proust für Anfänger und Liebhaber

Die Recherche als Graphic Novel — „Im Schatten junger Mädchenblüte”, Teil 1

Ich bin ei­gent­lich kei­ne Co­mic-Le­se­rin. Le­dig­lich von As­te­rix ließ ich mich einst er­obern. Im­mer­hin ist auch er ein Fran­zo­se wie Proust, man mö­ge mir den Ver­gleich ver­zei­hen, und der von die­sem in­spi­rier­te Sté­pha­ne Heu­et. Heu­et kre­ierte ei­ne Ad­ap­ti­on der Re­cher­che als Gra­phic No­vel, von der bis­her drei Bän­den in der Über­set­zung von Kai Wil­kens im Kne­se­beck-Ver­lag vorliegen.

Den ers­ten Band, Com­bray, ent­deck­te ich kurz nach sei­nem Er­schei­nen im letz­ten Jahr. Beim An­schau­en über­rasch­te mich, wie gut es Heu­et in Zu­sam­men­ar­beit mit Sta­nis­las Bré­zet ge­lun­gen war, die kom­ple­xe Er­zähl­wei­se Prousts in ei­ne ge­zeich­ne­te Form zu brin­gen. Seit vier­zehn Jah­ren ar­bei­tet Heu­et an der gra­phi­schen Ge­stal­tung der Bän­de und zeigt die wich­tigs­ten Sze­nen in Comic-Manier.

Com­bray“ mit sei­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen, der un­ver­gess­li­chen Made­lei­ne-Sze­ne und den Spa­zier­gän­gen zu duf­ten­den Weiß­dorn­he­cken hat­te mich da­mals über­zeugt. Aber wie mag es Heu­et wohl ge­lun­gen sein, die Proust­schen Re­flek­tio­nen und Ver­zweif­lun­gen des zwei­ten Ban­des dar­zu­stel­len? „Proust für An­fän­ger und Lieb­ha­ber“ weiterlesen

Ratgeber zum Lesen, Schreiben und Kritisieren

Eine gelungene Gebrauchsanweisung „Wie man den Bachmannpreis gewinnt“ von Angela Leinen

Nein, ich will nicht dem­nächst nach Kla­gen­furt, we­nigs­tens nicht als ak­ti­ver Teil­neh­mer des Wett­le­sens. Aber ich woll­te so­fort nach dem En­de des dies­jäh­ri­gen Events noch mehr dar­über er­fah­ren. So lan­de­te ich als frisch Be­werbs­in­fi­zier­te zu­nächst auf dem Blog der So­pra­nis­se und schließ­lich bei ih­rem Buch, der „Ge­brauchs­an­wei­sung zum Le­sen und Schrei­ben“. Es hät­te auch mit Be­rech­ti­gung die Ti­tel „Rat­ge­ber für Kri­ti­ker und Ju­ro­ren“ oder „Klei­ne Ge­schich­te des Bach­mann-Wett­be­werbs“ tra­gen können.

Dass die­ses Buch mir so viel Spaß ma­chen wür­de, hät­te ich nicht ver­mu­tet. Schon gar nicht nach dem ers­ten Blick auf das nüch­tern wir­ken­de Co­ver­de­sign. Doch nach ei­nem Vor­wort von Kath­rin Pas­sig legt Lei­nen los und ana­ly­siert or­dent­lich und ge­wis­sen­haft, aber mit not­wen­di­ger Iro­nie die wich­tigs­ten Punkte.

Wel­che The­men eig­nen sich als Er­zähl­stof­fe? Wie er­kennt man Kitsch? Sind Ta­bu­brü­che för­der­lich? Wel­che In­hal­te ver­sper­ren dem Buch au­to­ma­tisch das Tor zur Literatur?

Wenn es nur dar­um geht, nicht vor Lan­ge­wei­le zu ster­ben, ist uns mit ei­ner gut ge­bau­ten eng­li­schen Fa­mi­li­en­ge­schich­te, ei­nem schlich­ten Berg­dra­ma­be­richt oder ei­nem Ei­fel­kri­mi ganz gut ge­dient. Aber wir ha­ben ja auch ir­gend­wann auf­ge­hört, Kin­der­bü­cher zu le­sen.“ (S. 52)

Un­ter den zahl­rei­chen Mög­lich­kei­ten der Er­zähl­per­speki­ve exis­tie­ren ei­ni­ge, wel­che ein „Rat­ge­ber zum Le­sen, Schrei­ben und Kri­ti­sie­ren“ weiterlesen

Marito und der Kitschschreiber

Wie Mario Vargas Llosa einst Medienkritik übte

Der In­halt des 1977 er­schie­nen Ro­mans Tan­te Ju­lia und der Kunst­schrei­ber ist, so­fern noch nicht hin­läng­lich be­kannt, kurz er­zählt. Ein jun­ger Stu­dent in Li­ma ver­dient sich als Nach­rich­ten­re­dak­teur ei­nes lo­ka­len Ra­dio­sen­ders ein Zu­brot, wäh­rend er ei­gent­lich ei­ne Kar­rie­re als Schrift­stel­ler er­träumt. Ei­nen sol­chen oder bes­ser den Schrei­ber quo­ten­träch­ti­ger Ra­di­o­no­ve­las lernt er bald ken­nen und be­nei­det die­sen um sei­nen Pu­bli­kums­er­folg. Erst nach und nach er­kennt er, und mit ihm auch der Le­ser, dem in je­dem zwei­ten Ka­pi­tel ei­nes die­ser Dra­men prä­sen­tiert wird, daß er­folg­rei­che Hör­spie­le nicht un­be­dingt et­was mit Li­te­ra­tur zu tun ha­ben müs­sen. Die an­de­ren Ka­pi­tel er­zäh­len die au­to­bio­gra­phisch in­spi­rier­te Lie­bes­ge­schich­te des 18-jäh­ri­gen Ma­ri­to mit sei­ner 32-jäh­ri­gen Tan­te Ju­lia, de­ren in­ner­fa­mi­liä­re Kon­flikt­hal­tig­keit al­lei­ne schon ein Hör­spiel­dra­ma ab­ge­ben würde.

Wenn man sich nicht von dem No­bel­preis be­ein­dru­cken lässt und un­vor­ein­ge­nom­men zu die­sen Buch greift, ist der Är­ger vor­pro­gram­miert. War­um, so frag­te sich die Le­se­rin, ver­schwen­de ich kost­ba­re Le­se­zeit mit ei­ner halb­ga­ren Love­sto­ry und noch schlim­mer mit Ge­schich­ten, die Sen­sa­ti­ons­gier und Voy­eu­ris­mus be­die­nen und bes­ser in die Klatsch­spal­ten der Bun­ten Blät­ter als zwi­schen zwei Buch­de­ckel des Suhr­kamp Ver­la­ges pas­sen würden.

Doch spä­tes­tens, wenn ein schreck­li­cher Un­glücks­fall das Le­ben ei­nes un­schul­di­gen Kin­des „Ma­ri­to und der Kitsch­schrei­ber“ weiterlesen

Lesen und darüber reden – Ein Ratgeber für Lesekreise

Wer, wo, wie und was beantwortet Thomas Böhm in Das Lesekreisbuch

Da ich selbst seit ei­ni­gen Jah­ren an ei­nem Le­se­kreis teil­neh­me und die Hür­den und Tü­cken ei­ner sol­chen frei­wil­li­gen Ver­samm­lung le­se­wil­li­ger und dis­kus­si­ons­freu­di­ger Men­schen mit un­ter­schied­li­chem Buch­ge­schmack ken­ne, war ich be­geis­tert als ich die­sen Ti­tel sich­te­te und griff so­fort zu.

Es soll­te mein Scha­den nicht sein. Ein bis zwei ver­gnüg­li­che Le­se­stünd­chen ha­be ich mit dem Buch ver­bracht. Aber bin ich nun schlau­er als zuvor?

Tho­mas Böhm, der lan­ge den Le­se­kreis des Köl­ner Li­te­ra­tur­hau­ses lei­te­te, plau­dert aus dem Näh­käst­chen und geht da­bei gleich­zei­tig sehr ana­ly­tisch vor.

Er be­ginnt wirk­lich ganz am An­fang. Das Co­ver, auf dem Nach­barn über Bal­kon­brüs­tun­gen hin­weg die Li­te­ra­tur­dis­kus­si­on su­chen, ist Pro­gramm. Wie fin­det man al­so Mit­glie­der, wenn nicht die ei­ge­nen Nach­barn eben­so be­geis­ter­te Le­ser sind? Wo trifft man sich am bes­ten? Was soll­te man bei der Lek­tü­re­wahl berücksichtigen?

Böhm gibt Tipps, wie man die ver­ein­bar­te Lek­tü­re liest. Am bes­ten mit Stift und Zet­tel, da­mit die un­mit­tel­ba­ren Le­se­as­so­zia­tio­nen nicht ver­lo­ren ge­hen. Er rät, sich un­be­dingt auf den Abend vor­zu­be­rei­ten, in­dem man sich Fra­gen stellt und no­tiert. Ge­ra­de die­se Ab­schnit­te sind die wert­volls­ten die­ses Rat­ge­bers, sie soll­ten in je­dem Le­se­kreis zur Lek­tü­re emp­foh­len wer­den. Sie brin­gen zwar ge­ne­rell kei­ne neu­en Er­kennt­nis­se, vor al­lem nicht den­je­ni­gen, die schon lan­ge an der­ar­ti­gen Run­den teil­neh­men. Böhm for­mu­liert je­doch die Be­triebs­an­lei­tung der Buch­dis­kus­si­on prä­gnant und mit ei­nem Augenzwinkern.

Für al­le An­fän­ger lie­fert das Buch zu­dem ein paar le­bens­prak­ti­sche De­tails, Be­wir­tung und Kos­ten­ver­tei­lung, An­fahrts­pro­ble­me und ein paar Ideen für Bü­cher­spie­le, die je­doch eher ih­ren Platz beim Kin­der­ge­burts­tag haben.

Am Schluss gibt es ei­nen kur­zen his­to­ri­schen Ab­riss in Dia­log­form und meh­re­re Le­se­lis­ten von le­se­er­prob­ten Men­schen. Je­weils zehn Lek­tü­re­vor­schlä­ge von Hen­ning Rit­ter, Joa­chim Sar­to­ri­us, De­nis Scheck, Ge­org Klein, Joa­chim Król, ei­ne aus­führ­lich kom­men­tier­te Lis­te von Sig­rid Löff­ler, so­wie ei­ne knapp kom­men­tier­te von Ant­je Deistler.

Der Au­tor selbst lie­fert gleich zwei Lis­ten für die­sen An­hang, ei­ne mit er­prob­ten, dis­kus­si­ons­träch­ti­gen Lek­tü­ren und ei­ne Wunschliste.

 

LOVOS in der Jurte — Manufacere versus Intellegere

Birgit Vanderbeke lobt in ihrem Roman „Das lässt sich ändern” das einfache Leben

Ich hab nix, und du hast nix, lass uns was draus ma­chen.“-Ton, Stei­ne, Scherben

Wer fei­ge ist hat Mut, nur was bil­lig scheint, ist gut.“ ‑Die Ärzte

Dei­ne Sehn­sucht hat jetzt Sinn, nimm sie mit, du weißt, wo­hin.“ –Ton, Stei­ne, Scherben

Und noch mehr die­ser un­säg­li­chen Rei­me, die einst die Müs­li­bar­den dich­te­ten, drän­gen sich auf den knapp 150 Sei­ten des neu­en Ro­mans von Bir­git Van­der­be­ke. Er spielt in den frü­hen Acht­zi­gern, als sie be­gann, die Re­nais­sance der gu­ten, ein­fa­chen Din­ge, und er er­zählt die Lie­bes­ge­schich­te zwi­schen ei­nem LOVOS und ei­ner Stu­den­tin, die sich nach der Re­pa­ra­tur ei­nes ver­stopf­ten Wasch­be­ckens zum be­wuss­ten Le­ben be­keh­ren lässt. Ein biss­chen viel Alt-68­zi­ger und 80ziger Jah­re Flo­ka­tis­ten mu­tet Van­der­be­ke ih­rer Le­se­rin zu. Gut­men­schen, die die wah­ren Wer­te auf dem Floh­markt fin­den, La­ger von viel­leicht LOVOS in der Jur­te — Ma­nu­face­re ver­sus In­tel­le­ge­re“ weiterlesen