In „Das Paradies des August Engelhardt
“ erzählt Marc Buhl von Lichtluftmenschen und Sonnenkindern
„Die ausschliessliche Kokosnuss-Diät macht unsterblich und vereinigt mit Gott, denn nackter Kokovorismus ist Gottes Wille …”
Als einen Vorläufer des LOHAS könnt man August Engelhardt bezeichnen, denn er praktizierte vor gut hundert Jahren einen sehr substantiellen „Lifestyle of Health and Sustainability“. Wie Engelhardt diesen mit Kokosnuss und Sonnenkult ausfüllte und welche Folgen diese höchst einseitige Diät und das nackte Leben unter brennender Südseesonne für ihn und andere hatte, beschreibt Marc Buhl in seinem neuen Roman auf höchst unterhaltsame Weise.
Es handelt sich um einen historischen Stoff, den Buhl in seinem Roman fiktionalisiert, denn es gab sie wirklich die Kokovoren auf Kabakon, einem kleinen Inselchen der Neu-Lauenburg-Gruppe im damaligen Bismarck-Archipel.
Als Engelhardt mit 27 Jahren zum Südseeinsulaner wird, hat er schon einiges hinter sich. Er erinnert sich an seine Erlebnisse beim Militär, wo er wegen sozialistischer Umtriebe zum Arrest verurteilt wurde, dort allerdings mit anderen Querdenkern Freundschaften für’s Leben schloss. Einer der neugewonnenen Freunde, Bethmann, begleitet ihn anschließend zur Freikörper-Kommune des „Kohlrabi-Apostels“ und Malers Diefenbach. Sie halten es nicht lange dort aus, da der Künstler sich autoritär und restriktiv zeigte. Liberaler empfängt sie der Naturheilkundler Adolf Jung, der im „Jungborn“ im Harz bereits eine Diät mit Südfrüchten, darunter auch Kokosnuss, propagierte.
Dies alles wird Engelhardt geprägt haben. Buhl stellt jedoch noch ein weiteres Motiv für dessen Zivilisationsflucht in den Vordergrund. Engelhardts unerfüllte und somit unglückliche Liebe zu Anna, die als Lebensgefährtin seines Freundes Walther für ihn unerreichbar blieb. Alles Bedrückende war nun weit weg in seinem „Paradies ohne Schlange und ohne Frauen“. Er will lesen, schreiben und sich von der Sonnenkraft beleben lassen, seine Nahrung wächst auf dem nächsten Baum. Sogar die Inselbewohner, die Tolai, die ihn bereits auf dem Speiseplan hatten, sind beeindruckt als sie auf ihrer nächtlichen Inspektion diesen weißen Mann nackt ohne die übliche Kolonistenausrüstung inmitten von Resten frischverzehrter Kokosnüsse entdecken. Sie kommen zu dem Schluss, dass es sich um den bleichen Geist eines ihrer Vorfahren handeln müsse, und schleichen sich davon. Obwohl sie ziemlich bald ihr Fehlurteil erkennen, entwickelt sich besonders zwischen ihrem Anführer Kabua und Engelhardt ein fast schon vertrautes Verhältnis. Nicht nur dieser respektiert den sonnengegerbten Hungerkünstler, der umgeben von unzähligen Büchern in einer Palmenhütte am Strand lebt. Auch Pater Joseph von der katholischen Missionsstation der Nachbarinsel, sowie Gouverneur Hahl aus Herbertshöhe dulden die eigenwilligen Ansichten des Nacktgehers und scheuen sich nicht, auf ihren Besuchen mit diesem unbedeckt in die Fluten zu steigen. Dieses Idyll, frei von gesellschaftlichen Konventionen, frei von Mühe und Arbeit, schildert der Sonnenanbeter begeistert den Freunden in der Heimat. Immer wieder fordert er sie auf, nach Kabakon zu kommen, um sich ihm anzuschließen. Schließlich erscheint als erster Sonnenjünger Max Lützow auf der Insel. Ein zivilisationsgeschädigtes Musik-Genie, das Kokosnuss und Sonne vom Burn-Out kurieren sollen. Es folgen Weitere, unter diesen auch Walter und Anna. Doch weder das Wirken Helios noch die Kraft der Kokosnuss vermögen die nun einsetzenden Gruppenprozesse aufzuhalten. Es kommt zu Streit und Konkurrenzkampf. Die indigene Bevölkerung bleibt auch nicht unbehelligt, weiß sich aber die Kulturinvasion auch zu Nutze zu machen.
Marc Buhl erzählt die Geschichte des August Engelhardt auf Kabakon mit feiner Ironie, die verschiedene Lebensideale gegenüber stellt. Seien es nun das Selbstverständnis des Künstlers, sowohl der Maler Diefenbach als auch der Komponist Lützow stellen ihre Ars als die einzig Wahre dar. Oder das Verhalten der deutschen Kolonialbeamten, der Christen auf der Missionsstation und der indigenen Inselbewohner.
Nicht nur Engelhardt, Lützow und Bethmann und einige Kokovoren sind historische Personen, auch Hahl, der als deutscher Gouverneur in Herbertshöhe eingesetzt war. Gerade bei dieser Persönlichkeit zeigt sich, daß die verwendeten Klischees manchmal fehl am Platz sind. Hahl betrieb nicht wie dargestellt ein hartes Regiment mit Strafexpeditionen und dergleichen, sondern akzeptierte soweit es die kolonialen Verhältnisse zuließen die kulturelle Identität der Bevölkerung. Ebenso ist fraglich, ob man mit einem Mann, der nach einigen Jahren als Handwerker Missionar wird, tatsächlich über Rousseau diskutieren konnte.
Doch das sind nur kleinere Anmerkungen, insgesamt war es ein großer Spaß über diesen historischen Stoff des Aussteigers August Engelhardt einen Roman zu lesen. Buhl gelingt es nicht nur die Fakten in seine Fiktion einzubinden. Er schildert zudem die psychologischen Aspekte der Sehnsucht und der Verzweiflung, die Schwierigkeit den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden mit großer Empathie. Ein einfühlsamer, lehrreicher und amüsanter Roman.
Dem Eichborn-Verlag ist eine sehr schöne Gestaltung des Einbandes gelungen, ganz im Sinne Engelhardts im Kokosdesign.
Ich wünsche dem Buch noch viele Auflagen, alleine damit aus Hermann, dem Etrusker, wieder ein Cherusker werde. 😉
Historisches:
Großen Spaß macht es natürlich auch, die historischen Personen und Details eines Romans zu recherchieren. Natürlich darf und muss der Autor seine Phantasie ins Spiel bringen um einen Roman zu schreiben. Um so erstaunlicher, wenn, wie in diesem Beispiel, ein großer Teil historisch belegt ist.
Aussteiger und Zivilisationsflüchtige, Nudisten, Veganer und Sozialromantiker häuften sich um die Wende zum Zwanzigsten Jahrhundert. Auf welche Weise diese Gruppen versuchten sich ihre eigenen kleinen Paradiese zu erschaffen zeigt diese Seite. Sekten und Sonderlinge sind ein Phänomen, das sich durch alle Epochen zieht. Es verblüfft also nur wenig, dass der „Jungborn“ im Harz scheinbar immer noch aufgesucht werden kann, ‑ersatzweise bietet sich eine Badewannen-Kur mit Luvos Heilerde an.
Die Freikörperkolonie des Malers Karl Wilhelm Diefenbach lag in den ersten Jahren in Höllriegelskreuth bei Pullach. Dort zählte auch Engelhardt zu seinen Gästen, außerdem der unter dem Künstlernamen Fidus erwähnte Hugo Höppener, der seinerzeit eine Berühmtheit war.
1902 wanderte Engelhardt in die Deutsche Südsee-Kolonie aus, um dort Land zu erwerben. „Queen Emma“ Forsayth-Coe hat ihm 1902 die zur Neu-Lauenburg-Gruppe zählende Insel Kabakon verkauft. Die Insel diente schon seit Jahren als Kokosplantage und wurde von 40 melanesischen Arbeitern bewirtschaftet. Ob es sich bei den Bewohnern tatsächlich um Kannibalen handelte, lässt sich nicht sagen.
Es ist umstritten, ob in Neuguinea Kannibalismus praktiziert wurde. Unter der indigenen Bevölkerung Papuas soll in einigen Gruppen dieses Phänomen eine Rolle spielen. Eine der neuesten Untersuchungen dazu hat Karen Gloy unter dem Titel „Unter Kannibalen: Eine Philosophin im Urwald von Westpapua“ veröffentlicht.
Wen die Geschichte des Kokovoren nicht loslässt, erhält weitere Informationen in folgenden Untersuchungen:
Dieter Klein: Neuguinea als deutsches Utopia. August Engelhardt und sein Sonnenorden. In: Hermann Joseph Hiery (Hrsg.): Die Deutsche Südsee 1884–1914. Ein Handbuch. (Paderborn 2001), S. 450–458.
Sven Mönter: Following a South Seas dream : August Engelhardt and the Sonnenorden (Univ. of Auckland 2008).
Horst Gründer: Traum von der Südsee, in: Damals 9/2008, S. 16–23.
Christina Horsten, Felix Zeltner: Die Ritter der Kokosnuss, in: Süddeutsche Zeitung, 13. Juni 2009.
Golf Dornseif, Ein Kokosnuss-Apostel als Heilsbringer Neu-Guineas.
Eine weitere Fiktionalisierung des Stoffes hat Christian Kracht mit seinem Roman „Imperium” unternommen.