Viele Fragen bleiben offen in Hermann Kochs „Angerichtet”
Dieses Buch begrüßt seinen Leser mit einem appetitlichen roten Hummer auf blauem Grund und verweist auf den Handlungsort des Romans. Es ist ein Restaurant der gehobenen Klasse, in dem sich zwei Brüder mit ihren Ehefrauen zum Dinner treffen. Der Anlass ist eine dringende Angelegenheit, über die sie reden müssen. Doch zu diesem Gespräch, das letztendlich im Versuch stecken bleibt, kommt es erst gegen Ende. Bis dahin erfährt der Leser über die verschiedenen Gänge eines Menüs verteilt die wichtigsten Zutaten der Geschichte. Serviert werden sie von Paul Lohmann, dem Ich-Erzähler, aufbereitet in seinen Rückblenden, Einsichten und Meinungen. Komponiert hat dies Hermann Koch durchaus mit Spannung und in sarkastischem Ton. Diesen verleiht er seiner Figur Paul, der nicht nur seinem Bruder, dem angehenden Ministerpräsidenten, den Erfolg missgönnt, sondern insgesamt eine misanthropische Haltung zeigt. Seine Beurteilung des affektierten Personals, des Auftritts seines prominenten Bruders liest sich zu Beginn noch ganz amüsant, doch bald entsteht ein Überdruss, gepaart mit einem ausgeprägten Hautgout, der den Appetit auf die Lektüre zügelt.
Spätestens in der Szene im Fahrradladen wird klar, hier ist etwas nicht in Ordnung. Dieser Paul zeigt ein Verhalten, das zunehmend Entsetzen auslöst. Als Grenzüberschreitung begann auch die Tat, welche zu dieser Verabredung führte. Michel und Rick, die Söhne der beiden Brüder haben den Tod einer Obdachlosen zu verantworten. Während Serge, zu Beginn von Paul als machtbesessener Politikstar verunglimpft, für die Bekenntnis der bisher verschwiegenen Schuld plädiert, selbst wenn dies das Ende seiner Karriere bedeuten würde, wollen die drei anderen Erwachsenen ihre Kinder schützen, um jeden Preis. Dass dazu auch ein weiterer Mord gehören wird, nehmen sie in Kauf.
Hermann Koch hat einen flott lesbaren Unterhaltungsroman verfasst, der zu Beginn eine Spannung erzeugt, die nicht eingelöst wird. Um es klar zu sagen, die Leserin kam sich ein wenig veralbert vor, als die Erklärung des Fehlverhaltens aus der pathologischen Erbkiste gezogen wurde. Durch diesen überflüssigen Erzählkniff bringt der Autor seinen Roman um ein wesentliches gesellschaftskritisches Moment. Koch reißt viele diskussionswürdige Themen an, Verantwortung, Umgang mit Randgruppen, Gewalt, Abtreibung, Persönlichkeitsrechte. Nicht zuletzt die große Frage, wie weit darf Elternliebe gehen. Aber jede dieser Fragen diskutiert er kaum weiter.
Viele Einzelheiten erscheinen zudem unglaubwürdig. Würde ein derart psychisch Kranker nicht schon längst hinter irgendwelchen Riegeln sitzen, wenigstens medikamentösen? Um welchen erblichen, psychischen Defekt, der nach einem deutschen (sic!) Forscher benannt sein soll, handelt es sich? Warum zeigt Paul am Ende des Restaurantbesuches plötzlich rationales Verhalten, obwohl er als grenzüberschreitender Agressor auf den Kellner doch ganz anders hätte reagieren müssen?
Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr tendiere ich dazu, daß ein Großteil der Geschehnisse nur in Pauls Kopf stattfindet. Ein Indiz für mich ist, daß auch Claire am Ende gewalttätig wird.
Vieles im Roman ist unbefriedigend und lässt den Leser ratlos zurück. Was will der Autor mit seinem Roman erreichen? Die Diskussion in unserem Lesekreis verlief trotz oder gerade wegen dieser Mängel angeregt und endete mit der Vermutung, daß Koch den Umgang mit psychisch Kranken in unserer Gesellschaft thematisieren will.