Bilder, Blicke, Begegnungen in Tokio

In „Tage in Tokio“ hinterfragt Christoph Peters das westliche Japanideal

Wäh­rend Ku­me­ka­wa-san den Ta­xi­fah­rer be­zahlt, ste­he ich et­was ver­lo­ren auf der Stra­ße, ne­ben mir die bei­den Kof­fern, und schaue mich um. Ein Kon­glo­me­rat aus über Jahr­zehn­ten an­ge­sam­mel­ten Bil­dern ja­pa­ni­scher Le­bens­wel­ten schim­mert wie durch ei­ne Milch­glas­schei­be aus dem Hin­ter­kopf ins Be­wusst­sein. Mir däm­mert all­mäh­lich, dass ich das, was ich se­he, hö­re, rie­che, per­ma­nent mit ein­ge­la­ger­ten Vor­stel­lun­gen ab­glei­che und dem­entspre­chend in „ty­pisch“, „un­ge­wöhn­lich“ oder „er­staun­lich“ ein­tei­le. Zu­gleich führt mir das kla­re Licht des spä­ten Vor­mit­tags schlag­ar­tig vor Au­gen, dass jetzt nichts da­von mehr gilt und dass ich von dem, was ich bräuch­te, um mich si­cher und ele­gant durch die Stadt zu be­we­gen, nicht die ge­rings­te Ah­nung habe.“

Von ei­ner in­ter­kul­tu­rel­len Be­geg­nung zwi­schen Ja­pan und Deutsch­land er­zählt Chris­toph Pe­ters be­reits in sei­nem 2014 er­schie­nen Ro­man. Des­sen Ti­tel, Herr Ya­mas­hiro be­vor­zugt Kar­tof­feln, deu­tet an, daß man­ches ent­ge­gen den Er­war­tun­gen ver­läuft bei der Zu­sam­men­ar­beit des an Jan Koll­witz an­ge­lehn­ten Ke­ra­mik­künst­lers mit ei­nem ja­pa­ni­schen Ofen­bau­er in der nie­der­deut­schen Provinz.

Ja­pa­ni­sche Ke­ra­mik, das tra­di­tio­nel­le Tee­ze­re­mo­ni­ell und Jan Koll­witz fin­den auch in Pe­ters neu­em Buch Ta­ge in To­kio Ein­gang. Die Er­leb­nis­se, Er­fah­run­gen und Ge­dan­ken des Au­tors als Rei­se­be­richt zu be­zeich­nen, wä­re zu kurz ge­grif­fen. Für Pe­ters, den die Lei­den­schaft für ja­pa­ni­sche Cha­wan der Mo­moy­a­ma-Zeit (1573–1603) seit über drei­ßig Jah­ren nicht los­lässt, ist es der ers­te Be­such in dem Land, über das er so viel ge­le­sen und ge­hört hat. Sei­ne Be­geg­nun­gen in Kunst, Kul­tur und All­tag über­ra­schen den Rei­sen­den und ver­lei­ten ihn zu phi­lo­so­phi­schen Über­le­gun­gen. Da­zwi­schen fin­det er im­mer wie­der den Weg zur Ke­ra­mik, sei­nem Spe­zi­al­su­jet, dem wir nicht nur in Ge­stalt der Un­oha­na­ga­ki be­geg­nen, ei­ner zum Kunst-Na­tio­nal­schatz Ja­pans er­ho­be­nen Tee­scha­le, die Pe­ters in To­kio bewundert.

Doch zu­nächst muss er erst ein­mal an­kom­men. Schon die ers­ten Bli­cke auf das Land sei­ner Träu­me, wie man es wohl nen­nen darf, kon­fron­tie­ren den durch Lek­tü­re und Ge­sprä­che ge­lehr­ten Be­trach­ter mit der „Bil­der, Bli­cke, Be­geg­nun­gen in To­kio“ weiterlesen

Dunkelblumer Heimatsagen

In ihrem Roman „Dunkelblum“ erzählt Eva Menasse eine alte Geschichte auf neue Weise

In Dun­kel­blum ha­ben die Mau­ern Oh­ren, die Blü­ten in den Gär­ten ha­ben Au­gen, sie dre­hen ih­re Köpf­chen hier­hin und dort­hin, da­mit ih­nen nichts ent­geht, und das Gras re­gis­triert mit sei­nen Schnurr­haa­ren je­den Schritt. Die Men­schen ha­ben im­mer­zu ein Ge­spür. Die Vor­hän­ge im Ort be­we­gen sich wie von lei­sem Atem ge­trie­ben, ein und aus, le­bens­not­wen­dig. Je­des Mal, wenn Gott von oben in die­se Häu­ser schaut, als hät­ten sie gar kei­ne Dä­cher, wenn er hin­ein­blickt in die Pup­pen­häu­ser sei­nes Mo­dell­städt­chens, das er zu­sam­men mit dem Teu­fel ge­baut hat zur Mah­nung an al­le, dann sieht er in fast je­dem Haus wel­che, die an den Fens­tern hin­ter ih­ren Vor­hän­gen ste­hen und hinausspähen.“

In den ers­ten Sät­zen ih­res neu­en Ro­mans cha­rak­te­ri­siert Eva Men­as­se tref­fend die At­mo­sphä­re von „Dun­kel­blum“. Im ös­ter­rei­chi­schen Bur­gen­land liegt das fik­ti­ve „Mo­dell­städt­chen“, wel­ches die Au­torin mit sa­ta­ni­scher Schreiblust und gött­li­chem Dich­ter­geist ge­schaf­fen hat, qua­si in Personalunion.

His­to­risch grün­det ih­re Ge­schich­te auf dem Mas­sa­ker von Rech­nitz. In dem Ort wur­den in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 an die 200 Men­schen er­schos­sen, wäh­rend der Graf im Schloss mit der Na­zi­pro­mi­nenz fei­er­te. Die Über­res­te der Op­fer wur­den nie ge­fun­den. Die Tä­ter ent­gin­gen ih­rer Stra­fe dank ef­fi­zi­en­ter Lokalamnesie.

Das Ver­ges­sen oder bes­ser das Nicht­er­in­nern­wol­len herrscht auch in Dun­kel­blum. Der Ort, so Men­as­se in ei­nem In­ter­view, ste­he nicht al­lein für das ös­ter­rei­chi­sche Bur­gen­land, wo hun­der­te Zwangs­ar­bei­ter im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­zweif­lungs­pro­jekt „Süd­ost­wall“ zu To­de ge­schun­den wur­den, son­dern für al­le Or­te, wo die Un­ta­ten der Na­zi­herr­schaft ver­gra­ben und ver­ges­sen sind.

Der Ro­man spielt im Au­gust des Jah­res 1989 und doch scheint die Zeit seit Jahr­zehn­ten „im Grun­de ste­hen ge­blie­ben“, denn die al­ten Ge­sell­schafts- und Ge­sin­nungs­struk­tu­ren le­ben fort. Zwar sind die Ewig­gest­ri­gen „Dun­kel­blu­mer Hei­mat­sa­gen“ weiterlesen

Flug durch die Zitatenfülle

Hervé Le Tellier trifft in „Die Anomalie“ fast jeden Geschmack

Was ist die­ses Buch? Ein Sci­ence-Fic­tion-Ro­man, der die Erd­be­völ­ke­rung als Ho­lo­gramm ent­larvt? Ein Best­sel­ler, der mit ge­nia­lem Gen­re­mix den Main­stream­ge­schmack trifft? Oder ein Werk der Grup­pe OuLi­Po, de­ren Au­toren sich ex­pe­ri­men­tel­ler Li­te­ra­tur wid­men und bei­spiels­wei­se Ro­ma­ne oh­ne E ver­fas­sen? Viel­leicht ist „Die An­oma­lie“ al­les zu­sam­men. Der neue Ro­man von Her­vé Le Tel­lier wur­de 2020 mit dem Prix Gon­court aus­ge­zeich­net und seit sei­ner Über­set­zung durch Ro­my und Jür­gen Rit­te in Li­te­ra­tur­sen­dun­gen wie im Feuil­le­ton eher rauf als run­ter diskutiert.

Der In­halt lässt sich an sei­ner Kon­struk­ti­on kurz um­rei­ßen. In Teil Eins stellt Le Tel­lier die Fi­gu­ren vor, die ne­ben zahl­rei­chen wei­te­ren die Haupt­rol­len in sei­nem Ro­man spie­len. Die un­ter­schied­li­chen Cha­rak­te­re sind in­so­fern in­ter­es­sant, als sie un­ter­schied­li­che Le­ser­vor­lie­ben er­fül­len. Das Ge­schäft ei­nes kalt­blü­ti­gen Auf­trags­kil­lers reiht sich an ei­nen Auf­stieg durch Bil­dung und na­tür­lich darf auch die Lie­be nicht feh­len. Die­se tritt in üb­li­chen Va­ria­tio­nen auf. Die jun­ge, schö­ne, selbst­be­wuss­te, aber in schwie­ri­gen Um­stän­den le­ben­de Frau mit dem al­ten, we­ni­ger schö­nen, da­für wohl­ha­ben­den Mann gibt es eben­so wie die bei­den ver­kopf­ten Wis­sen­schaft­ler, die ih­re Ge­füh­le, vor al­lem die für­ein­an­der, noch ent­de­cken müs­sen. Al­le Prot­ago­nis­ten sind als Pas­sa­gie­re ei­nes Flug­zeugs oder als Wis­sen­schaft­ler von der An­oma­lie be­trof­fen, die sich als „Flug durch die Zi­ta­ten­fül­le“ weiterlesen

Ohne Skrupel und Skalpell

Irene Dische erzählt in Die militante Madonna von einem Ritter von variabler Gestalt

In mei­ner Zeit kann man die Men­schen schon al­lein an ih­ren Zäh­nen aus­ein­an­der­hal­ten. In ih­rer Zeit sind al­le Zäh­ne gleich, und die Schmin­ke wird mit ei­nem Chir­ur­gen­mes­ser auf­ge­tra­gen. Wenn Sie Ihr Los als Mann oder Frau nicht hin­neh­men, schnei­den Sie eben et­was ab oder nä­hen et­was dran. Al­le Sub­ti­li­tät wird ver­bannt. Al­le zar­ten oder stru­deln­den Un­ter­strö­mun­gen wer­den igno­riert. Und das nen­nen Sie „Fort­schritt“!“

Ire­ne Di­sches neu­em Ro­man liegt die Vi­ta ei­ner his­to­ri­schen Per­son zu Grun­de, die an­ders als es der Ti­tel „Die mi­li­tan­te Ma­don­na“ ver­mu­ten lässt, kei­ne Tu­gend­ge­stalt à la Jean D’Arc war. Nein, ei­ne Ma­don­na war der Che­va­lier d’Èon (1728–1810) nicht, eher ei­ne wehr­fä­hi­ge Mi­ner­va, als die er sich einst hat ma­len las­sen. Oder soll­te man bes­ser sa­gen, sie, denn Charles-Ge­ne­viè­ve-Lou­is-Au­gus­te-An­dré-Ti­mo­thée d’Éon de Beau­mont wech­sel­te die Iden­ti­tä­ten von Che­va­lier und Che­va­liè­re. Bei­de Rol­len führ­ten ein be­weg­tes Le­ben, an dem ihr In­ha­ber uns Le­ser dank sei­nen Er­in­ne­run­gen teil­neh­men lässt. Di­sche be­dient sich ei­ner Quel­le, der post­hum er­schie­nen Au­to­bio­gra­phie, und formt dar­aus ei­nen Ent­hül­lungs­ro­man, der sehr ver­gnüg­lich zu le­sen ist.

Als „ers­ter Trans­ves­tit der Welt­ge­schich­te“ rühmt der Klap­pen­text den Ich-Er­zäh­ler, der sei­nen, ganz im Stil sei­ner Zeit ge­hal­te­nen Le­bens­be­richt, wie es sich ziemt, mit ei­nen „Vor­spruch“ be­ginnt. Die­ser wen­det sich an Le­ser, die in der zu­künf­ti­gen Mo­der­ne glau­ben, die Gen­der­de­bat­te „Oh­ne Skru­pel und Skal­pell“ weiterlesen

Die unsichtbare Begleiterin

Peter Stamm erzählt in seinem Roman „Das Archiv der Gefühle“ von einer Befreiung

Im Flur gleich ne­ben dem Ein­gang un­ter der al­ter­tüm­li­chen Gar­de­ro­be steht ein gro­ßer Papp­kar­ton mit lee­ren, grau­gel­ben Ak­ten­map­pen, die ich beim sel­ben Groß­händ­ler be­zie­he, von dem auch das Pres­se­haus sei­ne Map­pen ge­kauft hat­te. Ich neh­me zwei her­aus und be­schrif­te sie. Die Ge­räu­sche des Was­sers und Die Ge­räu­sche der Vö­gel im Flug, und le­ge sie auf ei­nen Sta­pel auf dem Schreib­tisch, auf dem be­stimmt schon ein Dut­zend sol­cher be­schrif­te­ter, aber lee­rer Map­pen liegt. Ich weiß nicht, wie ich sie fül­len soll, ich ha­be im­mer nur ge­sam­melt und sor­tiert, ein­ge­ord­net, was an­de­re er­lebt und auf­ge­schrie­ben hatten.“

Manch­mal bin ich über­rascht, wie sehr sich zwei auf­ein­an­der fol­gen­de Lek­tü­ren the­ma­tisch äh­neln. Die von Da­ni­el Wis­ser be­schrie­be­ne gro­ße Lie­be, die nach Jahr­zehn­ten des klan­des­ti­nen Seh­nens end­lich er­füllt wird, fin­det sich auch im neu­en Ro­man von Pe­ter Stamm, wenn auch in gänz­lich an­de­rer Ausführung.

Der Held und na­men­lo­se Ich-Er­zäh­ler ist im Ge­gen­satz zu Wis­sers Vic­tor Jar­no ein in sich ge­kehr­ter Mensch. Äu­ße­re Be­lan­ge, wie die po­li­ti­sche La­ge oder der Zu­stand der Ge­sell­schaft, küm­mern ihn nur als Mel­dun­gen, die zu ar­chi­vie­ren sind. Als Ar­chi­var ei­nes Pres­se­hau­ses war er lan­ge Jah­re zu­ver­läs­sig, aber oh­ne Am­bi­tio­nen tä­tig, wie er im ers­ten Teil des Ro­mans dar­legt. In die­ser Fi­gu­ren­ex­po­si­ti­on schil­dert Pe­ter Stamm gleich zu Be­ginn ei­ne Ei­gen­art sei­nes Hel­den, die sich auch als Ei­gen­art des Ro­mans be­schrei­ben lie­ße. Der Er­zäh­ler ist so sehr in un­ge­leb­ter Lie­be an Fran­zis­ka ge­fes­selt, daß sie „Die un­sicht­ba­re Be­glei­te­rin“ weiterlesen

A🏆ypse now”

Daniel Wisser schreibt in „Wir bleiben noch“ über das Schräge und das Schöne unserer Zeit

Vic­tor wur­de klar, dass er die Re­ak­ti­on der Fa­mi­lie un­ter­schätzt hat­te. Doch er hat­te auch sei­nen ei­ge­nen Wi­der­stands­geist un­ter­schätzt. In dem Mo­ment, in dem sei­ne ei­ge­ne Mut­ter ihm sei­ne Kind­heits­fo­tos aus­hän­dig­te, weil sie da­für nach ei­ge­nen Wor­ten kei­nen Platz mehr hat­te, in dem Mo­ment, in dem sie zu­sam­men mit sei­ner Tan­te mit al­len recht­li­chen Mit­teln ge­gen den Letz­ten Wil­len der ei­ge­nen Mut­ter vor­ging, be­gann Vic­tor, sie und ih­re gan­ze Ge­ne­ra­ti­on zu ver­ach­ten. Ih­re El­tern hat­ten kämp­fen müs­sen, da­mit die Kin­der über­leb­ten, da­mit sie zur Schu­le, zur Uni­ver­si­tät ge­hen und im Wohl­stand le­ben konn­ten. Doch als die Ge­ne­ra­ti­on von Vic­tors Mut­ter und Tan­te Mar­ga­re­te in ih­rer Ju­gend ih­re Schein­idea­le aus­ge­lebt hat­te, wähl­te sie Rechts­par­tei­en und for­der­te die Schein­mo­ral, die sie an ih­ren El­tern kri­ti­siert hat­te, neu­er­dings von ih­ren Nach­kom­men. Da­bei sprach sie über ih­re Ju­gend so we­nig wie die Kriegs­ge­nera­ti­on, der sie ihr Schwei­gen im­mer zum Vor­wurf ge­macht hat­te. Sie hat­te ei­nen ma­xi­ma­len Ge­winn aus dem wach­sen­den Wohl­stand in ih­rer Ju­gend, aus den Ar­beits­be­din­gun­gen der 60er- bis 90er-Jah­re und schließ­lich aus ih­ren Pen­sio­nen, von de­nen die Ge­ne­ra­ti­on ih­rer Kin­der nur träu­men konn­te. Das Frie­dens- und Frei­heits­ge­schwätz, mit dem sie ih­ren El­tern und sich selbst auf die Ner­ven ge­fal­len war, küm­mer­te sie nicht mehr. Die tra­di­tio­nel­len Par­tei­en, die ih­nen ih­ren Wohl­stand ver­schafft hat­ten, küm­mer­ten sie nicht mehr. Sie wa­ren Rechts­po­pu­lis­ten ge­wor­den, weil nun kein Platz mehr war. Ei­ne trä­ge, selbst­ge­rech­te, un­mensch­li­che Generation.“

Wie wür­de Vic­tor die neu­es­ten po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen in sei­nem Hei­mat­land Ös­ter­reich kom­men­tie­ren? Über­rascht vom Kor­rup­ti­ons­ver­dacht ge­gen Kurz und Co wä­re der über­zeug­te So­zi­al­de­mo­krat wohl kaum. Des­sen Sicht auf Po­li­tik und un­se­re west­li­che Ge­sell­schaft würzt Wis­ser mit ei­ner ge­hö­ri­gen Por­ti­on Iro­nie. Sei­nen Hu­mor gab Wis­ser be­reits in „Die Let­ten wer­den die Es­ten sein“ zu er­ken­nen, ei­ne Pro­duk­ti­on sei­ner Band „Ers­tes Wie­ner Heim­or­ge­l­or­ches­ter“ und er ver­sieht ihn mit bit­te­ren An­klän­gen in sei­nem neu­en Ro­man „Wir blei­ben noch“.

Die Lust an der sprach­spie­le­ri­schen Sa­ti­re scheint et­was Ös­ter­rei­chi­sches zu sein. Sie prägt die Li­te­ra­tur von Wolf Haas eben­so wie die von Mi­cha­el Zie­gel­wag­ner. Es muss an der Luft oder am viel be­sun­ge­nen Wie­ner-Blut A🏆ypse now”“ weiterlesen

…als wäre das Ende der Welt da“

Charles Ferdinand Ramuz hat mit „Derborence“ ein Sprachkunstwerk in antiker Tradition erschaffen

Ah! Der­bo­rence, du warst so schön, du warst schön in je­ner Zeit, wenn du dich schmück­test von En­de Mai an, für die Män­ner, die kom­men wür­den. Und sie lie­ßen nicht war­ten; so­bald du das Zei­chen gabst, ka­men sie.“

Charles Fer­di­nand Ra­muz (1878–1947) gilt als ei­ner der be­deu­tends­ten Schrift­stel­ler der Schweiz. 1936 er­hielt er den Gro­ßen Preis der Schwei­ze­ri­schen Schil­ler­stif­tung, 2005 wur­den sei­ne Ro­ma­ne in die Bi­blio­t­hè­que de la Plé­ia­de in Pa­ris auf­ge­nom­men, so­gar der No­bel­preis wur­de für ihn gefordert.

Der vor­lie­gen­de 1934 er­schie­ne­ne Ro­man Der­bo­rence lag be­reits ein Jahr spä­ter in deut­scher Über­set­zung un­ter dem Ti­tel „Berg­sturz auf Der­bo­rence“ vor.  Der Ti­tel ist Pro­gramm. Die Alp Der­bo­rence, un­ter­halb des Berg­mas­sivs Les Dia­bler­ets, liegt auf ei­ner Hö­he von an­nä­hernd 1500 Me­tern zwi­schen den Tä­lern der Rho­ne und des Wal­lis. In den Som­mer­mo­na­ten wei­de­ten die Tal­be­woh­ner dort ihr Vieh. In den Dör­fern zu­rück blie­ben nur die Frau­en und die Al­ten. Am 23. Ju­ni 1749 er­eig­ne­te sich auf die­ser von Fels­wän­den ein­ge­kes­sel­ten Hoch­alp ein Berg­sturz. Er be­grub Le­be­we­sen und …als wä­re das En­de der Welt da““ weiterlesen

Die Jungfrau Maria von Sidcup

Clare Chambers unterhält in ihrem Roman „Kleine Freuden“ mit erwartbaren wie unerwarteten Wendungen

Klei­ne Freu­den — die ers­te Zi­ga­ret­te des Ta­ges, ein Glas Sher­ry vor dem Mit­tag­essen am Sonn­tag, ei­ne Ta­fel Scho­ko­la­de, so auf­ge­teilt, dass sie ei­ne Wo­che hielt, ein neu er­schie­ne­nes Buch aus der Bi­blio­thek, noch un­be­rührt und ma­kel­los, die ers­ten Hya­zin­then des Früh­lings, ein sau­ber ge­fal­te­ter Sta­pel Bü­gel­wä­sche, der Ge­ruch des Som­mers, der Gar­ten im Schnee, ein Brief­pa­pier-Spon­tan­kauf für ih­re Schub­la­de – das al­les war be­le­bend ge­nug gewesen.“

Klei­ne Freu­den, so der Ti­tel von Cham­bers Ro­man, emp­fin­det die Jour­na­lis­tin Jean eben­so, wenn sie in ih­rer Ko­lum­ne die skur­ri­len Tipps der Le­se­rin­nen ver­öf­fent­licht. Jean lebt mit ih­rer Mut­ter in Hayes na­he Lon­don und ar­bei­tet als ein­zi­ge weib­li­che Re­por­te­rin in der Re­dak­ti­on des an­säs­si­gen Lo­kal­blatts „The Kent Echo“. Im Jahr 1957, der Hand­lungs­zeit des Ro­mans, sind die Rol­len klar ver­teilt. Ne­ben den Haus­halts-Ko­lum­nen fal­len der Jour­na­lis­tin stets die weib­li­chen The­men zu, so auch als ei­nes Ta­ges ein be­son­de­rer Le­ser­brief die Zei­tung erreicht.

Er stammt von Gret­chen Til­bu­ry und be­zieht sich auf ei­nen we­ni­ge Ta­ge zu­vor er­schie­ne­nen Be­richt über Par­the­no­ge­nese bei Tie­ren. Die Le­se­rin be­haup­tet, sie sei oh­ne männ­li­che Mit­wir­kung schwan­ger ge­wor­den. Soll­te sich „Die Jung­frau Ma­ria von Sid­cup“ weiterlesen

Exempla docent

In „Die Schlange im Wolfspelz“ legt Michael Maar die sprachlichen Lebensadern der Literatur frei

Wenn wir uns le­send trei­ben las­sen (…) dann im­mer in der Hoff­nung, man kom­me, ex­em­pla do­cent, dem Ge­heim­nis des Stils und der gro­ßen Li­te­ra­tur nur durch Bei­spie­le nah.“

Der gleich­sam be­le­se­ne wie wort­ge­wand­te Mi­cha­el Maar ver­sucht in sei­nem neu­en Buch dem „Ge­heim­nis gro­ßer Li­te­ra­tur“ mehr als auf die Spur zu kom­men. Als Proust­ken­ner leuch­tet er mir schon lan­ge den Weg und auch als Ro­man­cier ist er nicht un­be­kannt, um nicht zu­erst auf sei­ne Ver­wandt­schaft mit ei­nem ge­wis­sen ge­punk­te­ten We­sen zu ver­wei­sen. Mit „Die Schlan­ge im Wolfs­pelz“ legt Maar nun ei­ne ver­gnüg­lich zu le­sen­de Be­trach­tung der deut­schen Li­te­ra­tur vor. So wie Ver­gil Dan­te durch die Wäl­der und Win­dun­gen der Un­ter­welt bis fast ans Licht führt – die letz­te Etap­pe über­nimmt be­kannt­lich Bea­tri­ce –, führt Maar sei­ne Le­ser zu­nächst in sein Sprach- und Stil­ver­ständ­nis ein und spä­ter durch sei­ne Bi­blio­thek. Man­che bis­her un­be­kann­ten Ti­tel wird man nach der Lek­tü­re le­sen wol­len, dank der Vor­be­rei­tung auch oh­ne je­de Beatrice.

Im ers­ten Teil der Stil­kun­de fragt Maar nicht, was gut ge­schrie­ben ist. Was ge­fällt, kön­ne nur ein Ge­schmacks­ur­teil sein und das hat­te schon bei Kant kei­nen Be­stand: „Denn je­der äs­the­tisch von et­was Über­zeug­te sinnt an, sein sub­jek­ti­ves Ge­schmacks­ur­teil als all­ge­mein­gül­tig zu ak­zep­tie­ren.“ Je­der, der mit an­de­ren über Li­te­ra­tur dis­ku­tiert „Ex­em­pla do­cent“ weiterlesen

Das Leiden der Sündenböcke

Zeruya Shalev erzählt mit Pathos und Wiederholungen vom „Schicksal“

So hat es das Schick­sal ge­wollt und es hat kei­nen an­de­ren Weg gegeben.“

Auch der ak­tu­el­le Ro­man der is­rae­li­schen Au­torin Ze­ru­ya Shalev be­han­delt die po­li­ti­schen wie re­li­giö­sen Ge­gen­sät­ze ih­res Hei­mat­lan­des. Sie schü­ren die Kon­flik­te zwi­schen Tra­di­ti­on und Mo­der­ne, Auf­klä­rung und or­tho­do­xem Glau­ben, Be­sat­zern und Be­setz­ten so­wie die Kluft zwi­schen Mann und Frau. Ist dies al­les un­ab­wend­ba­res „Schick­sal“, wie der Ti­tel des Ro­mans insinuiert?

Schick­sal­haft ver­bun­den schil­dert Shalev das Le­ben, man könn­te auch sa­gen das Lei­den, ih­rer Prot­ago­nis­tin­nen Ra­chel und Ata­ra, de­ren per­so­na­le Er­zähl­stim­men in al­ter­nie­ren­den Ka­pi­teln zu Wort kom­men. Da ist zum ei­nen die be­tag­te Ra­chel, de­ren Ge­schich­te in die An­fän­ge des mo­der­nen Is­ra­els führt. Sie er­zählt, was sie als jun­ge Frau bei den Lechi er­leb­te, ei­ner Un­ter­grund­be­we­gung, die mit ter­ro­ris­ti­schen Mit­teln ge­gen die „Das Lei­den der Sün­den­bö­cke“ weiterlesen