Bachmannpreis 2011 — Praßler, Baum

Den gest­ri­gen Nach­mit­tag er­öff­ne­te An­na Ma­ria Praß­ler mit ih­rem Text „Das Andere“.

Wer his­to­ri­sche Be­zü­ge in li­te­ra­ri­sche Tex­te ein­bringt, soll­te sich be­wusst sein, was er tut, und sei­ne Be­le­ge gut re­cher­chiert ha­ben. Was Praß­ler über den Usus im an­ti­ken Rom sag­te wird man­cher Ar­chäo­lo­ge und His­to­ri­ker so nicht hin­neh­men wol­len, und wer aus Sue­tons De Vi­ta Cae­sar­um zi­tiert soll­te des­sen iro­ni­schen Stil er­ken­nen. Nun gut, ei­ne Ne­ben­sa­che, sie brach­te mich aber zu der Fra­ge, was die Prot­ago­nis­tin des Stü­ckes denn stu­die­re — Ge­schich­te, Ar­chäo­lo­gie, Thea­ter­wis­sen­schaf­ten?  Neh­men wir doch den neu­en Ba­che­lor-Stu­di­en­gang Kul­tur­wis­sen­schaf­ten, der passt im­mer und nimmt es viel­leicht auch nicht so ge­nau. Die­ses gan­ze Wis­sen­schafts­at­mo­sphä­re er­zeu­gen­de Bei­werk hät­te es mei­ner Mei­nung nach gar nicht ge­braucht. Die Ge­schich­te der ge­schei­ter­ten Be­zie­hung funk­tio­niert auch so. Die Grün­de der jun­gen Frau, „Bach­mann­preis 2011 — Praß­ler, Baum“ weiterlesen

Bachmannpreis 2011 — Geltinger, Steinbeis, Wisser

Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt — Der 35. Bachmannpreis 2011

Der ers­te Le­se­vor­mit­tag ist be­en­det. Es la­sen Gun­ther Gel­tin­ger auf Vor­schlag von Alain Clau­de Sul­zer, Ma­xi­mi­li­an Stein­beis, no­mi­niert von Burk­hard Spin­nen und Da­ni­el Wis­ser, der von Paul Jandl nach Kla­gen­furt ein­ge­la­den wurde.

Gun­ther Gel­tin­ger las ei­nen Aus­zug aus ei­nem Ro­man, der das Trau­ma ei­nes Jun­gen durch den Selbst­mord sei­ner Mut­ter zum The­ma hat. Gel­tin­ger stellt in der Sze­ne zum ei­nen das Ge­sche­hen aus der Sicht ei­nes Kin­des als auch die Re­flek­ti­on des er­wach­se­nen Man­nes über die­ses Er­eig­nis dar. Sei­ne Ein­sam­keit, sei­ne Angst, sei­ne Fra­ge nach der Schuld, da­mals wie heu­te, ver­stärkt Gel­tin­ger durch Bil­der aus der Na­tur. Da­durch wird die Moor­land­schaft, in der die Sze­ne spielt, fast zum zwei­ten Prot­ago­nis­ten. Sie lie­fert nicht nur die at­mo­sphä­ri­schen Bil­der, son­dern auch das Kon­struk­ti­ons­ge­rüst des Tex­tes. Er­in­ne­run­gen tau­chen auf, aber man­che blei­ben auch end­gül­tig in den ver­schie­de­nen Schich­ten des Moo­res verschluckt.

Die Ju­ro­ren, au­ßer den drei oben be­reits ge­nann­ten sind in die­sem Jahr Hil­de­gard Eli­sa­beth Kel­ler, Mei­ke Feß­mann, Da­nie­la Stigl und Hu­bert Win­kels ver­ant­wort­lich, ha­ben die­sen ers­ten Text äu­ßerst „Bach­mann­preis 2011 — Gel­tin­ger, Stein­beis, Wis­ser“ weiterlesen

Kream Korner is Dream Korner”

Anna Katharina Fröhlich besingt in ihrem neuen Roman die Sehnsucht nach Indien

Der Ver­such zu be­grei­fen, wes­halb man In­di­en liebt, ist eben­so sinn­los wie der Ver­such zu er­klä­ren, wes­halb man das Le­ben liebt.“

Kream Kor­ner ist nicht nur der blu­mi­ge Na­me ei­ner Gar­kü­che auf dem Dach in ei­ner in­di­schen Pro­vinz­stadt, Kream Kor­ner wird nach der Lek­tü­re des gleich­na­mi­gen Ro­mans zum In­be­griff für ganz In­di­en. Doch be­vor die Le­ser ge­gen En­de des Bu­ches die wack­li­gen In­stal­la­tio­nen die­ses Eta­blis­se­ment be­tre­ten, führt die Au­torin sie in die de­ka­den­te Welt der in­di­schen Ober­schicht. Prunk­vol­le Stadt­pa­läs­te be­geg­nen uns dort, in de­nen ei­ne „nach nas­sem Da­ckel­fell und Mot­ten­ku­geln rie­chen­de Küh­le“ herrscht und der Haus­herr sich in Gon­del­pan­tof­feln vor ei­nem ana­chro­nis­tisch an­mu­ten­den Flach­bild­schirm re­kelt. Es han­delt sich um Ma­ri­pal Singh Bill, das Ober­haupt ei­ner über­aus wohl­ha­ben­den Sikh-Fa­mi­lie, mit der Lord Les­lie, der ver­stor­be­ne On­kel der Ich-Er­zäh­le­rin, ei­ne di­plo­ma­ti­sche Freund­schaft ver­band. Frü­her wa­ren sie häu­fig Gäs­te der Bills, wel­che die Tan­te ger­ne als ei­ne „Ban­de ver­wöhn­ter Faul­pel­ze“ be­zeich­net, von de­nen man­cher „der­art von sei­nen Pri­vi­le­gi­en ver­blö­det war, dass er nur noch die Wet­ter­la­ge klar ein­zu­schät­zen ver­stand“.

Ge­mein­sam mit ih­rer Tan­te trifft die jun­ge Frau nun an­läss­lich ei­ner Hoch­zeits­ein­la­dung er­neut bei den Bills ein. Sie hat­te sich nach der Auf­ga­be ih­res Theo­lo­gie­stu­di­ums auf das süd­fran­zö­si­sche Kream Kor­ner is Dream Kor­ner”“ weiterlesen

Der Tennisballwecker des Zeitungsdompteurs

Existenzialistisches Grauen in Markus Orths’ neuem Roman „Die Tarnkappe

Man ist in den Knast des Le­bens ge­bo­ren und ti­gert dar­in auf und ab, le­bens­läng­lich, und war­tet auf den Tag der Ent­las­sung, den Tod, man war­tet mit Schre­cken dar­auf und mit Sehn­sucht.“ (S. 100)

Auch Si­mon Bloch war­tet nur noch dar­auf, daß ihm sein ei­ge­ner Zie­gel auf den Kopf fällt. Der 45-jäh­ri­ge, vor kur­zem ver­wit­wet und als Be­schwer­de­be­schwich­ti­ger tä­tig, hat be­reits mit sei­nem Le­ben ab­ge­schlos­sen. Als ein­zi­ges Über­ra­schungs­mo­ment bleibt ihm die Rei­hen­fol­ge der ein­zeln ge­fal­te­ten Zei­tungs­blät­ter bei der mor­gend­li­chen Lek­tü­re im Bus.

Vor et­li­chen Jah­ren be­reits hat­te er sei­nen Le­bens­traum vom Film­kom­po­nis­ten auf­ge­ge­ben. Da­mals, bei der Be­ob­ach­tung ei­nes Paa­res, das in „ödes­ter Mit­tel­mä­ßig­keit“ bei Ap­fel­saft­schor­le und Kirsch-Ba­na­nen­saft sei­nen Im­pro­vi­sa­tio­nen in der Jazz­knei­pe Wal­fisch lausch­te. Er fühl­te sich ent­larvt, er­kann­te „Der Ten­nis­ball­we­cker des Zei­tungs­domp­teurs“ weiterlesen

Tschick und Maik auf Lada-Tour

Skurrile Abenteuer zweier Jungs in Wolfgang Herrndorfs neuem Roman „Tschick

Dies ist ein gu­tes Buch, ein un­ter­halt­sa­mes Buch, flott und amü­sant, an man­chen Stel­len nach­denk­lich. Ein Buch für Ju­gend­li­che, wel­che den ewi­gen Vam­pirsch­mon­zes leid sind. Ein Buch eben nicht nur für Mäd­chen, son­dern auch für Jungs. Denn um die­se geht es.

Ge­nau­er, um zwei Vier­zehn­jäh­ri­ge, die im wirk­lich nicht leich­ten Zu­stand der Pu­ber­tät ih­re Iden­ti­täts­su­che be­wäl­ti­gen. Bei­de sind Au­ßen­sei­ter. Aus un­ter­schied­li­chen Grün­den sind sie we­der in ih­rer Klas­se noch in ei­ner Cli­que in­te­griert und be­sit­zen auch kei­nen sta­bi­len fa­mi­liä­ren Rück­halt. Sie kämp­fen mit den Lei­den der un­er­wi­der­ten ers­ten Lie­be, trin­ken sich die Schu­le schön und wol­len nie so wer­den wie ih­re El­tern. Sie glau­ben, an­ders zu sein als al­le an­de­ren, und dies führt sie in den gro­ßen Fe­ri­en schließ­lich zueinander.

Der pas­si­ve Ma­ik, der Haus, Swim­ming­pool, Tief­kühl­tru­he und vor al­lem sich „Tschick und Ma­ik auf La­da-Tour“ weiterlesen

Vatersorgen

Vermurkste Winterreise in Thomas Hettches Roman „Die Liebe der Väter

Ein Va­ter reist mit sei­ner Toch­ter nach Sylt, um die Win­ter­fe­ri­en im an­ge­mie­te­ten Reet­dach­do­mi­zil von Be­kann­ten zu ver­brin­gen. Das dor­ti­ge Kli­ma ist zu die­ser Jah­res­zeit rauh und un­ge­müt­lich und lässt die ent­ste­hen­de At­mo­sphä­re in der be­son­de­ren Fa­mi­li­en­kon­stel­la­ti­on zwi­schen dem un­ver­hei­ra­te­ten Va­ter und sei­ner zwi­schen den sich nicht lie­ben­den El­tern zer­rie­be­nen Toch­ter be­reits er­ah­nen. Zu­dem spielt die Hand­lung aus­ge­rech­net an den Ta­gen, de­ren Näch­te eben­falls die­ses un­heil­ver­hei­ßen­de Prä­fix tragen.

Die drei­zehn­jäh­ri­ge An­ni­ka und Pe­ter ver­le­ben die­se dem All­tag ab­ge­run­ge­ne ge­mein­sa­me Zeit als Zaun­gäs­te in ei­ner Bil­der­buch­fa­mi­lie aus Va­ter, Mut­ter, Toch­ter, Sohn und BMW. Zwi­schen Su­san­ne, der Ehe­frau des Or­tho­pä­den Achim, und Pe­ter be­stand einst ei­ne Schü­ler­lie­be, die sich „Va­ter­sor­gen“ weiterlesen

Möbiusband-Manufaktur

Literarische Nähanleitungen in María Cecilia Barbettas Roman „Änderungsschneiderei Los Milagros” — Literaturkreis 11/2010

Tan­ten, Müt­ter, Schwes­tern und Töch­ter, jun­ge Hüh­ner, al­te Schach­teln nä­hen gel­be, wei­ße, grü­ne, ocker­far­be­ne, vio­let­te, blaue, ro­te, him­mel­blaue Baum­wol­le, Ga­bar­di­ne, Fall­schirm­sei­de, Taft, Lei­nen zu Hoch­zeits­klei­dern, Hoch­zeits­schlei­ern, Hoch­zeits­schlep­pen, Hoch­zeits­hand­schu­hen, tref­fen Hoch­zeits­vor­be­rei­tun­gen, ha­ben Hoch­zeits­pa­ra­noia, um­schwärmt von Schmet­ter­lin­gen, Ka­ker­la­ken, Flie­gen, Amei­sen, Glüh­würm­chen und na­tür­lich von Män­nern, Ma­chos, Ge­lieb­ten, Ker­len, Ty­pen, Ver­füh­rern, Vä­tern und Ehe­män­nern, trin­ken sie hei­ße Scho­ko­la­de, hei­ße Milch, hei­ßen Tee und es­sen Scho­ko­la­den­kek­se mit Scho­ko­la­den­über­zug und Ka­ra­mell­fül­lung und mer­ken erst am Schluss, dass sie be­tro­gen, ver­schau­kelt, be­lo­gen und ver­gack­ei­ert wurden.

Wer der­ar­ti­ge Auf­zäh­lun­gen mag, der soll­te zu die­sem Buch grei­fen. Sei­ne Au­torin liebt die­ses Stil­mit­tel min­des­tens ge­nau­so wie die li­te­ra­ri­sche Selbst­re­fe­renz, wel­che sich „Mö­bi­us­band-Ma­nu­fak­tur“ weiterlesen

Sissy meets Beatle

Eine Komposition aus Stimmen — Judith Zanders neuer Roman „Dinge, die wir heute sagten

Tris­tesse be­geg­net uns nicht nur in der ost­deut­schen Pro­vinz, son­dern über­all in Deutsch­land und wahr­schein­lich auch an­ders­wo. Doch ist die­ses Le­ben wirk­lich so er­eig­nis­los und oh­ne Span­nung. Gibt es wirk­lich über­haupt nichts?

Ju­dith Zan­der ver­setzt den Le­ser durch Spra­che und Zeit­ge­schich­te in die DDR einst und das neue Bun­des­land jetzt, vor­ge­führt an Bre­se­kow, ei­nem „häss­li­chen End­lein der Welt“. Die Um­stän­de ha­ben sich ge­än­dert, die Ver­hält­nis­se je­doch nicht, was der Blick auf die drei Ge­ne­ra­tio­nen des Or­tes zeigt.

Die al­te An­na Hans­ke ist nicht mehr und In­grid, die ver­lo­re­ne Toch­ter, kehrt pflicht­ge­mäß heim um „Sis­sy meets Beat­le“ weiterlesen

Lüge oder Wahrheit

Madalyn — ein Lügengespinst von Michael Köhlmeier

Zu Be­ginn die­ses klei­nen, fa­bel­haft for­mu­lier­ten und äu­ßerst span­nend kon­stru­ier­ten Ro­mans er­zählt uns sein Au­tor, Mi­cha­el Köhl­mei­er, wor­auf tie­fes Ver­trau­en grün­den kann. Auf ei­ner Le­bens­ret­tung zum Bei­spiel wie in die­ser Ge­schich­te, ver­übt durch den Er­zäh­ler Se­bas­ti­an Lu­kas­ser an dem Mäd­chen Ma­da­lyn. Die­ser Akt steht am An­fang ei­ner be­son­de­ren Be­zie­hung zwi­schen ei­nem er­wach­se­nen Mann und ei­nem Kind. Köhl­mei­er in­sze­niert dies mit ei­ner Blut­la­che aus der Un­ter­arm­wun­de au­gen­fäl­lig als Blutsbruderschaft .

Die­ser Ein­stieg in den Ro­man er­laubt dem Au­tor ei­ne ta­ge­buch­ar­ti­ge Schil­de­rung des an­schlie­ßen­den Ge­sche­hens, oh­ne daß die un­glei­che Freund­schaft zu ei­ner Rah­men­hand­lung ver­küm­mert. De­ren Mot­to of­fen­bart sich in dem zu­nächst ver­wor­fe­nen Satz „Ein Herz ist dem an­de­ren ein Spie­gel“, denn das Ver­trau­en liegt nicht nur auf der Sei­te der Ge­ret­te­ten. Auch Lu­kas­ser ver­spürt die „Lü­ge oder Wahr­heit“ weiterlesen

Literaturkreis 9/2010 — Plädoyer für Toleranz

Rassismus als Reaktion in „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee

Die­ses Buch in sei­nem ver­blass­ten blau­en Ein­band steht schon seit Jahr­zehn­ten im Buch­re­gal mei­ner El­tern. Über die Zeit sind sei­ne Sei­ten fle­ckig ge­wor­den, sein In­halt, der für Frei­heit, To­le­ranz und Ge­rech­tig­keit steht, scheint je­doch an­ge­sichts ak­tu­el­ler po­pu­lis­ti­scher Pa­ro­len le­sens­wer­ter denn je.

Die Ge­schich­te of­fen­bart zu­nächst ei­ne be­zau­bern­de Er­in­ne­rung an ein Kind­heits­idyll in May­comb, ei­nem klei­nen Ort in Ala­ba­ma. Dort le­ben zu Be­ginn der 30er Jah­re die Er­zäh­le­rin, die neun­jäh­ri­ge Scout, und ihr äl­te­rer Bru­der Jem. Mut­ter­los wer­den sie von ih­rem be­nei­dens­wert lie­be­vol­len und to­le­ran­ten Va­ter, dem Rechts­an­walt At­ti­cus Fink (im Ori­gi­nal Finch), zu Mit­mensch­lich­keit und Auf­ge­schlos­sen­heit er­zo­gen. Sie spie­len um­sorgt von der schwar­zen Haus­häl­te­rin und der Nach­bar­schaft mit „Li­te­ra­tur­kreis 9/2010 — Plä­doy­er für To­le­ranz“ weiterlesen