Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt — Der 35. Bachmannpreis 2011
Der erste Lesevormittag ist beendet. Es lasen Gunther Geltinger auf Vorschlag von Alain Claude Sulzer, Maximilian Steinbeis, nominiert von Burkhard Spinnen und Daniel Wisser, der von Paul Jandl nach Klagenfurt eingeladen wurde.
Gunther Geltinger las einen Auszug aus einem Roman, der das Trauma eines Jungen durch den Selbstmord seiner Mutter zum Thema hat. Geltinger stellt in der Szene zum einen das Geschehen aus der Sicht eines Kindes als auch die Reflektion des erwachsenen Mannes über dieses Ereignis dar. Seine Einsamkeit, seine Angst, seine Frage nach der Schuld, damals wie heute, verstärkt Geltinger durch Bilder aus der Natur. Dadurch wird die Moorlandschaft, in der die Szene spielt, fast zum zweiten Protagonisten. Sie liefert nicht nur die atmosphärischen Bilder, sondern auch das Konstruktionsgerüst des Textes. Erinnerungen tauchen auf, aber manche bleiben auch endgültig in den verschiedenen Schichten des Moores verschluckt.
Die Juroren, außer den drei oben bereits genannten sind in diesem Jahr Hildegard Elisabeth Keller, Meike Feßmann, Daniela Stigl und Hubert Winkels verantwortlich, haben diesen ersten Text äußerst streng beurteilt. Strigl bezeichnete ihn als norddeutsche Tristesse von Blut und Kotze. Für Winkels hingegen hätte es nur einen kleinen Tick mehr gebraucht, um den Text vollends ins Trashige abgleiten zu lassen, in eine überzeichnete Parodie auf das öde Landleben. Burkhard Spinnen äußerte sich hingegen sehr positiv.
Mich hat der Ausschnitt sehr berührt. Geltinger vermag die Gefühle des Mannes, der sich an das fürchterlichste Geschehen seiner Kindheit erinnert, derart zu schildern, daß sich bei mir sofort eine große Empathie einstellt. Ein Text, der unter die Haut geht, und der mich auf den kompletten Roman gespannt sein lässt.
Meine Meinung ist also ziemlich der Kritikerrunde entgegengesetzt.
Dies sollte sich auch beim folgenden Text herausstellen.
Es las Maximilian Steinbeis und nach der sehr bedrückenden Atmosphäre seines Vorgängers nahm das Publikum seine satirischen Sätze mit erleichtertem Szenengelächter auf. Steinbeis gab in diesem abgeschlossenen Text mit dem Titel „Einen Schatz vergraben“ eine Anleitung zur antiquierten und, wie ein fiktiver Anlageberater plausibel machen möchte, wieder sehr aktuellen Art der Vermögenssicherung. Dieser Berater, der sein besorgtes oder besser geldgieriges Opfer schließlich bis in die Illegalität treibt, wurde von Feßmann und Spinnen als Wiedergeburt des Mephisto gefeiert. Winkels freute sich über die aktuelle Thematik des Textes. Keller würdigte sein humorvolles Potential und auch Stigl fand ihn als Persiflage auf die Ratgeberliteratur sehr witzig.
Einzig Paul Jandl gefiel der Text wenig. Ich stimme zwar nicht vollkommen mit ihm überein, der diese Schatzversteckanleitung noch nicht einmal witzig fand, hörte jedoch in dem durchgängig arrogant-sarkastischen Tonfall stets einen gewissen Pathologen aus Münster sprechen. Ich sehe eindeutig zu viele Fernsehkrimis.
Sehr interessant fand ich den nächsten Text, „Standby“ von Daniel Wisser, in dem mir der für die Haltung des Protagonisten charakterisierenden Satz „Die Zeit kennt keine Wochenenden“ auffiel. Dieser Protagonist lebt nicht, er wird gelebt. Im erzählenden Passiv schildert Wisser dessen Alltag, die Büroarbeit, eine lieblose Ehe und eine nur halb vollzogene Liebesaffäre. Dieser Erzählstil schafft Distanz, das Verhalten wirkt roboterhaft, teilweise erweckt es die Assoziation eines Maschinenmenschen. Gespiegelt wird die Ödnis dieses Lebens durch den Vater, der ebenso trostlos im Altenheim auf sein Ende wartet. Es entstehen bedrückende Bilder. Der Hass, den der Mann für seine Frau, von der er sich aber doch nicht trennen will, entwickelt, wirkt manchmal unglaubhaft, und wenn er mit ihrer Zahnbürste das Waschbecken reinigt auch geradezu pubertär.
Handelt es sich um einen Apokalyptiker, um einen Zwangsneurotiker oder um einen durch iPhone und Internet zur allgegenwärtigen Verfügbarkeit dressierten Jetztmenschen?
Solche Fragen stellten sich auch die Kritiker. Winkels entdeckte satirische Elemente, Strigl starke Bezüge zu Genazino und Houellebecq, denen Feßmann jedoch vehement widersprach. Sie war von der Schlichtheit der Prosa erschüttert und deutete das Verhalten des Protagonisten allenfalls als Depression. Jandl versuchte von der starken Psychologisierung des Textes wegzuführen und würdigte das Stilmittel des Passivs als ästhetischen Versuch.
Dieser Erzählmodus machte mir das Zuhören sehr anstrengend. Für mich stellt der Text Wissers eine Kritik an der Fremdbestimmung des Einzelnen durch seine selbstgewählte ubiquitäre Verfügbarkeit dar. So erklärt sich auch der Titel „Standby“.
Der Bezug zu Genazino leuchtet allerdings ganz stark auf, wenn Wisser eine Apokalypsevision aufscheinen lässt, in der Kinder und Männer von Frauenbrüsten gesäugt werden. Genazinoleser werden sich erinnern.
Von allen bisherigen Lesungen ist ein Video abrufbar.