Bachmannpreis 2011 — Reichlin, Haderlap, Rabinowich, Bußmann, Popp

8.6.2011 — Der zweite Tag

Am zwei­tem Le­sungs­tag hör­te ich ei­nen po­ten­ti­el­len Best­sel­ler­kan­di­da­ten, zwei po­ten­ti­el­le Bach­mann­preis­trä­ge­rin­nen und zwei Tex­te, die mich aus meh­re­ren Grün­den nicht erreichten.

Li­nus Reich­lin stell­te un­ter dem Ti­tel „Welt­ge­gend” die ers­ten drei Ka­pi­tel ei­nes Ro­mans vor, der in Af­gha­ni­stan, ge­nau­er im Mi­lieu der dort ein­ge­setz­ten Deut­schen Bun­des­wehr­trup­pen spielt. Das Wort Trup­pen zu be­nut­zen er­zeugt in mir ei­nen Wi­der­wil­len, führt aber di­rekt zum Su­jet des Tex­tes. Er er­zählt vom Krieg, von Bom­ben, von not­wen­di­ger Ver­tei­di­gung, von dem Di­lem­ma als Frie­dens­trup­pe kämp­fen zu müs­sen. Über­trof­fen wird dies nur von dem noch grö­ße­ren Zwie­spalt ei­nes Arz­tes, der im Schock oder in Not­wehr wahr­schein­lich das ge­tan hat, was er ge­ra­de nicht hät­te tun sol­len, ein Le­ben zerstören.

Es han­delt sich al­so um das ethi­sche Di­lem­ma ei­nes Ein­zel­nen, ob es in Af­gha­ni­stan oder an ei­nem an­de­ren Ort spielt, scheint da­bei ne­ben­säch­lich. Tat­säch­lich er­in­ner­te mich die Schil­de­rung der Ver­hält­nis­se und des Mit­ein­an­ders zwi­schen Sol­da­ten und Sol­da­tin­nen, als Stich­wor­te sei­en Män­ner­freund­schaft, Al­ko­hol und Sex ge­nannt, so­fort an MASH. Reich­lin ge­stal­tet die­sen Ro­man­ein­stieg span­nend und mit sehr viel Speed. Ein­mal an­ge­fan­gen möch­te be­son­ders der männ­li­che Le­ser si­cher ger­ne wei­ter le­sen. Ich könn­te mir vor­stel­len, daß das Buch ein gro­ßer Pu­bli­kums­er­folg wird, zu­mal es sich un­ter dem Deck­män­tel­chen der viel­dis­ku­tier­ten Af­gha­ni­st­an­pro­ble­ma­tik si­cher gut ver­mark­ten lässt.

Was sag­ten die Ju­ro­ren? Win­kels und Feß­mann, die Reich­lin vor­ge­schla­gen hat­te, schie­nen ganz an­ge­tan vom ak­tu­el­len Stoff, vom in­ne­ren Kon­flikt. Der „neu­er Krieg“ sei als grie­chi­sche Tra­gö­die je­doch oh­ne Pa­thos dargestellt.

Wä­re Pa­thos denn so schlecht und funk­tio­niert ein Krieg über­haupt oh­ne Pathos?

Hart kri­ti­sier­ten Jandl und Spin­nen, die Ver­glei­che reich­ten von der De­tek­tiv-Stroy zum Kol­por­ta­ge-Ro­man. Die­se auf ver­schie­de­ne Wei­sen und in Ro­man und Film schon et­li­che Ma­le er­zähl­te Sto­ry sei „nicht das Neue, was der Bach­mann­preis brau­che“, so Jandl. Da­zu sei­en die äs­the­ti­schen Mit­tel zu schlicht.

Kel­ler, Stri­gl und Sul­zer ur­teil­ten mo­de­ra­ter. Sie fan­den das Ge­sche­hen glaub­wür­dig er­zählt und span­nend, wenn auch all­zu glatt. Sul­zer wür­de den Ro­man ger­ne wei­ter lesen.

In der zwei­ten Le­sung las die ös­ter­rei­chi­sche Au­torin Ma­ja Ha­der­lap ih­ren Text „Im Kes­sel” vor. Die Au­torin, die in deutsch und slo­we­nisch schreibt, ist in der ös­ter­rei­chisch-slo­we­ni­schen Grenz­re­gi­on auf­ge­wach­sen. So ver­wun­dert es nicht, daß sie in ih­rem Text den his­to­ri­schen Be­zug auf­nimmt. Sie webt die Ge­schich­te des slo­we­ni­schen Par­ti­sa­nen­wi­der­stan­des ge­gen das Deut­sche Reich in die Ge­schich­te ei­ner Fa­mi­lie ein. Er­zählt wird die­se von ei­nem Mäd­chen, das uns im ge­hör­ten Text mit den Wäl­dern sei­ner Hei­mat und de­ren Ge­heim­nis­sen ver­traut macht. Es be­gann für mich wie ei­ne Hym­ne auf den Wald und en­de­te über die Er­in­ne­rung an Ver­fol­gung und La­ger mit Jagd und, so wi­der­sprüch­lich dies auch klin­gen mag, mit Geborgenheit.

Das Ein­zi­ge, was mich ge­stört hat­te, war die Auf­zäh­lung der ver­schie­de­nen Ver­nich­tungs­la­ger, de­ren Na­men wie an der Er­zähl­schnur auf­ge­reiht, ein­ge­ar­bei­tet wur­den. War­um ha­be ich nicht verstanden.

Der schöns­te und auch, weil ich ihn an die­ser Stel­le nicht er­war­tet hät­te, ver­blüf­fends­te Satz war der letz­te. „Ich fürch­te, dass sich der Tod in mir ein­ge­nis­tet hat, wie ein klei­ner schwar­zer Knopf, wie ei­ne dunk­le Spit­zen­flech­te, die sich un­sicht­bar über mei­ne Haut zieht.“ Ein preis­wür­di­ger Satz, wie ich finde.

So war es auch nicht ver­wun­der­lich bei den Ju­ro­ren erst­mals viel­stim­mi­ge Be­geis­te­rung zu hö­ren. Der Text hat nicht nur gut ge­fal­len, er wur­de auch als ma­kel­los be­zeich­net. Jandl be­ein­druck­te die Ver­knüp­fung der un­ter­schied­li­chen Ebe­nen. Ein­zig Feß­mann sah Schwä­chen in der Er­zähl­hal­tung und ver­wies auf Hand­ke, der das The­ma schon be­ar­bei­tet hät­te. Stri­gl, die die Au­torin no­mi­niert hat­te, wies die­sen Ver­gleich zurück.

Bei dem drit­ten Vor­trag ha­be ich ei­ne gro­ße Er­in­ne­rung- und Ver­ständ­nis­lü­cke und auch kein Be­dürf­nis, ihn noch ein­mal zu le­sen. Mar­kant fand ich ei­nen Satz der Au­torin Ju­lya Ra­bi­no­wich aus dem Vor­stel­lungs­film. „Wenn ich glück­lich bin, schrei­be ich nicht.“ Man soll­te ja nicht über das Äu­ße­re ur­tei­len, aber es hin­ter­lässt eben doch ei­nen Ein­druck. So ver­wun­der­te es mich al­so we­nig, als ei­ne schwarz­ge­wan­de­te Frau mit schwarz­ge­lack­tem Fri­su­ren­helm und blut­ro­ten Lip­pen am Le­se­pult erschien.

Der Text „Die Erd­fres­se­rin” über­häuf­te mich mit Na­tur­me­ta­phern, die ziem­lich skur­ril wirk­ten. Ei­ne Frau zog ih­ren Kör­per aus der Land­schaft her­vor. Sie lag schwit­zend auf der Er­de, die eben­falls schwitz­te. Me­du­sa sah ihr im Spie­gel­bild ent­ge­gen, ein Vam­pir taucht auf. Ei­ne Mut­ter ist schwarz, schwer, rot und bäckt Schwarz­brot, al­les an ihr ist schwer, aber die Brust flach. Als ich dann zu hö­ren glaub­te, daß ein Hund den Licht­schal­ter nicht fin­det, war es wohl mit der Kon­zen­tra­ti­on voll­ends vorbei.

Ich ließ mir ger­ne von der Ju­ry er­zäh­len, wor­um es ei­gent­lich ging.

Win­kels und Sul­zer fan­den den Text schwie­rig, ich stim­me zu. Auch Win­kels hat­te vie­le Mut­ter­my­then ge­zählt. Sul­zer glaub­te, die Frau will dem kran­ken Mann, in des­sen Woh­nung sie lebt, ans Geld. Das ist mir neu. Feß­mann deu­te­te die Da­me als Pro­sti­tu­ier­te, die als Be­treue­rin ei­nes Tod­kran­ken ar­bei­tet. Aha. Stri­gl be­zeich­ne­te die Prot­ago­nis­tin als ag­gres­si­ve Per­son, die in dem Ar­beits- und Macht­ver­hält­nis, das sie an den Mann bin­det, un­ent­behr­lich blei­ben will. Gleich­zei­tig glaubt Stri­gl, daß die­se Frau, wie der Ti­tel Erd­fres­se­rin schon sa­ge, den Wunsch hät­te wie­der in der Er­de zu ver­schwin­den. Wi­der­spricht sich das nicht? Je­der kön­ne sich bei der The­men­viel­falt et­was Pas­sen­des aus­su­chen, so Jandl. Spin­nen er­zähl­te et­was von Ar­thur Schnitz­ler, The­re­se –Chro­nik ei­nes Frau­en­le­bens. Und ich, ich ar­mer Tor bin so rat­los als zuvor.

Auf zur nächs­ten Au­torin, zum nächs­ten Text, zur nächs­ten Le­sung. Ein er­fri­schend jun­ges Ge­sicht, Ni­na Buß­mann, die in ih­rem In­tro­film vie­le net­te Din­ge über Bie­ber er­zähl­te. Ich war be­ru­higt und ent­spannt, kei­ne Me­du­sen, kei­ne Nat­tern mehr.

Ni­na Buß­mann er­zähl­te in ih­rem Text „Gro­ße Fe­ri­en“ von ei­nem Leh­rer und sei­nen Schü­lern. Die­sen Leh­rer lässt ein Er­eig­nis nicht los. Et­was hat sich zu­ge­tra­gen zwi­schen ihm und ei­nem der Schü­ler, ei­nem gu­ten Schü­ler, der je­doch wie der Leh­rer eher zu den Au­ßen­sei­tern und Son­der­lin­gen zählt. Der Zu­hö­rer kann nur Spu­ren er­ken­nen, ihm wer­den von der Au­torin kei­ne Lö­sun­gen prä­sen­tiert und ge­ra­de das macht die­sen Text psy­cho­lo­gisch sehr span­nend. Ob und was pas­siert ist, ein Über­griff, ein Miss­brauch oder nur ei­ne Ohr­fei­ge, bleibt of­fen. Mir hat ge­fal­len wie Buß­mann die At­mo­sphä­re zwi­schen Leh­rer und Schü­lern, die ge­gen­sei­ti­gen An­sprü­che und Er­war­tun­gen schil­dert. Ei­ne Ge­schich­te, die ich ger­ne wei­ter ver­fol­gen wür­de und die si­cher­lich gu­te Chan­cen auf den Preis hat.

Ein­ge­la­den wur­de Buß­mann von Jandl. Er be­zeich­ne­te die­sen Text als Ver­such ein mo­ra­li­sches Pro­blem ana­ly­tisch zu be­ar­bei­ten. Eben­so gut ge­fiel er fast al­len an­de­ren Ju­ro­ren. Le­dig­lich Sul­zer und Spin­nen mo­nier­ten ei­ni­ge Kli­schees, Spin­nen be­zeich­ne­te den Ro­man den­noch als ful­mi­nant und lesenswert.

Vom letz­ten Vor­trag, und dies mag dem Man­gel an Kon­zen­tra­ti­on ge­schul­det ge­we­sen sein, ist mir nur noch ein ein­zi­ges Wort im Ge­dächt­nis „Wald­hams­ter“. Ich wer­de ihn auf je­den Fall noch ein­mal le­sen, die „Spur ei­ner Dorf­ge­schich­te” von Stef­fen Popp. Die mo­no­to­ne Vor­trags­wei­se des Au­tors mach­te es mir lei­der un­mög­lich zu fol­gen. Viel­leicht bin ich auch gänz­lich un­ge­eig­net für die­sen Bei­trag. Dann wür­de ich mich ger­ne der ele­gan­ten For­mu­lie­rung Sul­zers an­schlie­ßen, der sich als ly­risch un­taug­lich be­zeich­ne­te. In der fol­gen­den Dis­kus­si­ons­run­de fie­len ne­ben dem Lob der poe­ti­schen Spu­ren­su­che, der rei­chen Bil­der, der spie­le­ri­schen Mach­art, auch die Wor­te Halb­fer­tig­pro­dukt, rat­los und schwie­rig. Stri­gl mein­te, dem Le­ser kön­ne durch aus et­was zu­ge­mu­tet werden.

Ich wer­de es al­so noch ein­mal mit dem Text versuchen.

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