Eine Komposition aus Stimmen — Judith Zanders neuer Roman „Dinge, die wir heute sagten“
Tristesse begegnet uns nicht nur in der ostdeutschen Provinz, sondern überall in Deutschland und wahrscheinlich auch anderswo. Doch ist dieses Leben wirklich so ereignislos und ohne Spannung. Gibt es wirklich überhaupt nichts?
Judith Zander versetzt den Leser durch Sprache und Zeitgeschichte in die DDR einst und das neue Bundesland jetzt, vorgeführt an Bresekow, einem „hässlichen Endlein der Welt“. Die Umstände haben sich geändert, die Verhältnisse jedoch nicht, was der Blick auf die drei Generationen des Ortes zeigt.
Die alte Anna Hanske ist nicht mehr und Ingrid, die verlorene Tochter, kehrt pflichtgemäß heim um das Notwendige zu regeln. Doch sie bleibt fern von der Dorfgemeinschaft, die bereits zu viel weiß. Dort, wo jeder jeden kennt und kein Geheimnis eines bleibt, will sie jetzt in ihrem neuen Leben fremd und unerkannt bleiben. Im Gegensatz zu ihrem Mann Michael und ihrem Sohn Paul, die in Bresekow nach Spuren von Uwe Johnsons Jerichow und nach Anschluss suchen.
Paul findet ihn. Er freundet sich mit Romy und Ella an. Beide besuchen im letzten Schuljahr das Gymnasium in der Nachbarstadt. Beide fühlen sich wie Ingrid als Außenseiterinnen. Romy ist die Tochter von Friedhelm und Sonja Plötz, die seit einiger Zeit den Jugendclub, Auffangstation der chancenlosen Dorfjugend, betreut. Ella, die Tochter von Hartmut und Britta Wachlowski, hält sich ebenso wie Romy von dieser Jugendclique fern. Beide Mädchen leiden an Pubertät, Schule, und vor allem an der Ödnis des Ortes. Sie haben jedoch bessere Alternativen als ihre Altersgenossen, die auf der Elpe abhängen, dazu zählen Literatur und für Romy auch die Beatles.
Als Vertreterin der ältesten Generation erinnert sich Maria, Ellas Großmutter, an früher, und Henry, der Enkel der verstorbenen Frau Hanske, wirft einen ganz speziellen Blick auf die Geschehnisse.
Wie bei einem Puzzle fügen sich die Informationen zur Geschichte der Bresekower und vor allem zur Geschichte Ingrids Stück für Stück aneinander.
Zander komponiert ihren Roman aus den Stimmen der Familien Hanske, Wachlowski und Plötz, aus Ecki von der Elpeclique und Pastor Wiedmann. Abwechselnd treten sie wie in einem antiken Theaterstück auf und lassen den Leser in ihre Gefühle zu Gegenwart und Vergangenheit blicken. Die Gemeinde unterbricht als antiker Tragödienchor dann und wann das Geschehen. Auf diese Weise kommt Geheimes und Verschwiegenes langsam ans Licht und klärt sich allmählich durch die Kombination der einzelnen Aussagen.
Die beiden Mädchen Romy und Ella sind die Hauptstimmen. Ihre Verbundenheit zeigt sich nicht nur in der sich langsam entwickelnden Freundschaft. Auch ihre Vornamen, die eine Reverenz an Romy Schneiders Sissi sein mögen, und ihr gemeinsames Faible für Paul eint sie. Wer könnte es ihnen verdenken, denn die Reinkarnation von Paul McCartney ist nicht nur äußerlich anziehend.
Während diese drei Jugendlichen sich besser kennen lernen, öffnet Zander geschickt immer mehr Einblicke in die Psyche der Personen. Poetische Wortspiele, Dialekt und Slang mischt sie mit Songtexten und Literaturverweisen zu einer großartigen Romankomposition aus individuellen Tönen. Einen winzigkleinen Abstrich möchte ich dennoch machen. Pastor Wietmann wirkt in seinem lutheranischen Bibelsalbader doch sehr überzogen. Dennoch ist auch diese Figur ein notwendiges Puzzlestück, wenn auch nur ein weniger bedeutendes, ein Randstück vom Himmelsblau sozusagen.
Dieser Roman zählt zu den besten, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Er erzählt vom Verschweigen und von der Macht des Wortes, vom Sichfinden und Sichverlieren, von Realität und Fiktion. Nothing is real and nothing to get hung about.