Lüge oder Wahrheit

Madalyn — ein Lügengespinst von Michael Köhlmeier

Zu Be­ginn die­ses klei­nen, fa­bel­haft for­mu­lier­ten und äu­ßerst span­nend kon­stru­ier­ten Ro­mans er­zählt uns sein Au­tor, Mi­cha­el Köhl­mei­er, wor­auf tie­fes Ver­trau­en grün­den kann. Auf ei­ner Le­bens­ret­tung zum Bei­spiel wie in die­ser Ge­schich­te, ver­übt durch den Er­zäh­ler Se­bas­ti­an Lu­kas­ser an dem Mäd­chen Ma­da­lyn. Die­ser Akt steht am An­fang ei­ner be­son­de­ren Be­zie­hung zwi­schen ei­nem er­wach­se­nen Mann und ei­nem Kind. Köhl­mei­er in­sze­niert dies mit ei­ner Blut­la­che aus der Un­ter­arm­wun­de au­gen­fäl­lig als Blutsbruderschaft .

Die­ser Ein­stieg in den Ro­man er­laubt dem Au­tor ei­ne ta­ge­buch­ar­ti­ge Schil­de­rung des an­schlie­ßen­den Ge­sche­hens, oh­ne daß die un­glei­che Freund­schaft zu ei­ner Rah­men­hand­lung ver­küm­mert. De­ren Mot­to of­fen­bart sich in dem zu­nächst ver­wor­fe­nen Satz „Ein Herz ist dem an­de­ren ein Spie­gel“, denn das Ver­trau­en liegt nicht nur auf der Sei­te der Ge­ret­te­ten. Auch Lu­kas­ser ver­spürt die „Lü­ge oder Wahr­heit“ weiterlesen

Literaturkreis 9/2010 — Plädoyer für Toleranz

Rassismus als Reaktion in „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee

Die­ses Buch in sei­nem ver­blass­ten blau­en Ein­band steht schon seit Jahr­zehn­ten im Buch­re­gal mei­ner El­tern. Über die Zeit sind sei­ne Sei­ten fle­ckig ge­wor­den, sein In­halt, der für Frei­heit, To­le­ranz und Ge­rech­tig­keit steht, scheint je­doch an­ge­sichts ak­tu­el­ler po­pu­lis­ti­scher Pa­ro­len le­sens­wer­ter denn je.

Die Ge­schich­te of­fen­bart zu­nächst ei­ne be­zau­bern­de Er­in­ne­rung an ein Kind­heits­idyll in May­comb, ei­nem klei­nen Ort in Ala­ba­ma. Dort le­ben zu Be­ginn der 30er Jah­re die Er­zäh­le­rin, die neun­jäh­ri­ge Scout, und ihr äl­te­rer Bru­der Jem. Mut­ter­los wer­den sie von ih­rem be­nei­dens­wert lie­be­vol­len und to­le­ran­ten Va­ter, dem Rechts­an­walt At­ti­cus Fink (im Ori­gi­nal Finch), zu Mit­mensch­lich­keit und Auf­ge­schlos­sen­heit er­zo­gen. Sie spie­len um­sorgt von der schwar­zen Haus­häl­te­rin und der Nach­bar­schaft mit „Li­te­ra­tur­kreis 9/2010 — Plä­doy­er für To­le­ranz“ weiterlesen

Dino fliegt ins All

Vorliebe, der neue Roman von Ulrike Draesner

Ei­ne Ju­gend­lie­be, sei es nun ei­ne un­aus­ge­leb­te oder gar ei­ne gro­ße, wie­der zu tref­fen nach­dem man sein gan­zes Er­wach­se­nen­le­ben an­der­wei­tig ge­liebt hat, mag pas­sie­ren, in Ro­ma­nen so­gar nicht selten.

Auch Ul­ri­ke Draes­ner baut in ih­rem neu­en, und mit dem So­lo­thur­ner Li­te­ra­tur­preis aus­ge­lob­ten Ro­man Vor­lie­be, auf eben die­se Idee. Ge­spannt ver­folgt die Le­se­rin, wie ei­ne Un­acht­sam­keit im Stra­ßen­ver­kehr ei­nen Un­fall ver­ur­sacht, des­sen Spät­fol­gen fa­tal um nicht zu sa­gen töd­lich sind.

Ein Stoff aus dem Pilch­er­träu­me er­wach­sen? Mit­nich­ten. Zwar gibt es auch hier exo­ti­sche Na­men, Sa­ra­man­di­pur und Ol­vaeus, und so­gar ei­nen rot­haa­ri­gen Eng­län­der, Ash­ley. Es gibt ei­fer­süch­ti­ge „Di­no fliegt ins All“ weiterlesen

Wilhelm Genazino, Die Reise, der Tagtraum, das Versteck

Nein, es han­delt sich nicht um den Ti­tel des neu­en Ro­mans, son­dern um die Re­de Gen­a­zi­nos an­läss­lich der Ver­lei­hung des Rin­ke-Prei­ses 2010. Ih­re leicht ge­kürz­te Fas­sung wur­de in der heu­ti­gen Aus­ga­be der Süd­deut­schen Zei­tung veröffentlicht.

Ver­lie­hen wird der Preis durch die Stif­tung von Gun­tram und Ire­ne Rin­ke für „Das Le­bens­ge­fühl des Jah­res in sprach­lich über­zeu­gen­den Tex­ten“. Gen­a­zi­no er­hielt den Preis am 28. April für sei­nen im let­zen Jahr er­schie­nen Ro­man Das Glück in glücks­fer­nen Zei­ten.
Der mit 10000 Eu­ro do­tier­te Rin­ke-Preis wird seit 2007 ver­ge­ben. Bis­he­ri­ge Preis­trä­ger wa­ren Raoul Schrott mit Dich­ter am Ball(2007), der an­ony­me Ver­fas­ser von Wo­hin mit Va­ter?(2008) und Ro­ger Wil­lem­sen für Der Knacks(2009).

Der fol­gen­de Text ver­sucht ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser Re­de. Zi­ta­te aus die­ser oder aus an­de­ren Wer­ken Gen­a­zi­nos sind gekennzeichnet.

Was be­deu­tet ein Preis für ei­nen Schrift­stel­ler, der in sei­nen Wer­ken dem Bei­fall des Pu­bli­kums eher kri­tisch ge­gen­über steht? Er stellt ei­ne Be­sänf­ti­gung des ste­ten Selbst­skep­ti­zis­mus dar, un­ter dem je­der rich­ti­ge Schrift­stel­ler lei­det. „Wil­helm Gen­a­zi­no, Die Rei­se, der Tag­traum, das Ver­steck“ weiterlesen